Im Westen nichts Neues (Das letzte Buch)

Unser nächstes Gespräch ging bereits tiefer.

Bin ich selbst die Quelle? Ist dieses Ich, oder viel mehr die Ganzheit meines Selbst, die Quelle der Kraft? Das ist unvorstellbar für mich, da die Quelle alles ist und wie mir Shiran erklärt, ist sie unpersönlich und gleichzeitig persönlich. Sie ist sich jedes Sperlings bewusst, da sie jeder Sperling ist. Sie ist alles, einfach alles. Also, wie kann ich, ich kleiner Wurm, selbst die Quelle sein? Und – was ist die Quelle überhaupt; woraus besteht sie?



„Die Quelle ist Leben, sie ist Energie und wie du bereits richtig sagtest, - sie ist alles und zugleich ist sie aber auch nichts. Dasselbe ist das, was du als Eisberg, wie wir es für dich verständlich nennen, unterm Wasser verbirgst. Auch das ist Leben, Energie, alles und nichts zugleich, während das Sichtbare, - du als Menschenkind, ebenso Leben, Energie, alles und nichts zugleich bist, aber eben auf eine andere Art.

Um es für dich verständlich zu machen, könnte man es zwei verschiedene Energiearten nennen. Du kennst doch das runde Zeichen 'Yin und Yang' bestimmt aus Büchern, wo du so belesen bist.“

Ich nicke.



„Die eine Energie ist jene, die für Veränderung sorgt, die andere für Beständigkeit. Beide sind notwendig, da es ohne Veränderung keine Verbesserung geben kann und ohne Beständigkeit würde alles vergessen werden. Dies ist jedoch sehr einfach erklärt.“

Das ist mir klar, edler Shiran.



„Das Sichtbare könnte man die Energie für Veränderung nennen, während das Verborgene die Energie für Beständigkeit darstellt. Da du als Mensch eher aus mehr Energie für Veränderung bestehst – um es wiederum sehr vereinfacht darzustellen – ist es jetzt deine Aufgabe, beide in Einklang zu bringen. Nichts anderes ist bei dem, was wir fälschlicherweise den 'Endkampf' nennen, vorbereitet worden. Das Wesen, von dem dies ausgegangen ist, hat einen ganz besonderen Draht zur Quelle und deshalb erkannt, was das Leben wirklich bedeutet. Und was bedeutet das Leben wirklich, edler Paolo?“

Ich komme mir vor wie in der Schule. „Es bedeutet, die Quelle sichtbar, wahrnehmbar zu machen.“

„So könnte man es durchaus nennen. Sehr gut, Paolo!“



„Um nun deine wichtigste und sehr gute Frage zu beantworten“ spricht der Vierarmige weiter, „bringt es nichts, darüber zu reden, denn ich habe dir einmal schon Energie geborgt, mit der du verspüren konntest, was Sache ist. Du wirst dich weiter darin üben, um diese Erfahrung zu machen, da sie wichtig für deine weiteren Schritte ist.


Energie ist immer ein Ganzes und lässt sich nicht teilen. Es kommt also nicht auf kleiner oder größer an. Das ist für den menschlichen Verstand schwer nachvollziehbar, da der Verstand dir eingibt – um beim Meerwasser zu bleiben – dass ein Tropfen Meerwasser auf keinen Fall die Kraft hat, die umzuwerfen wie eine Welle Meerwasser. Jene Energie, über die wir sprechen, ist formlos, besteht weder aus Materie und hat auch keine Masse, also ist sie niemals teilbar.“



Wird die Quelle auf diese Art sichtbar gemacht, wie sie wirklich ist?

(Ich muss meine Worte nicht aussprechen, denn Shiran liest in mir.)

„Das wäre dann der nächste Schritt. Wir erklären es den Menschen, die hier her kommen auf diese Art, dass es ein Ich und ein Nicht-ich gibt. Das bedeutet nicht, dass es das Nicht-ich nicht gibt, denn für dich ist es jetzt noch eher umgekehrt. Dein Nicht-ich ist das, was sich etwas wünscht, das etwas begehrt. Verstehst du, was ich meine?“

Ist es meine Persönlichkeit, das, wie und warum ich genau auf die Art handle, wie ich eben handle?

„Nicht ganz, obwohl auch das dazu gehört. Ich würde sagen, das Nicht-ich ist mit der Quelle kaum verbunden, während das Ich der Quelle nahe ist und in den besten Fällen ist es sogar die Quelle selbst.“



Ist das Nicht-ich die Energie der Veränderung?

„Auf keinen Fall, da Leben, Energie stets aus der Quelle stammt, sozusagen sie selbst ist die Energie der Veränderung, wie auch die Energie der Beständigkeit. Wie sonst könnte sie nichts und alles zugleich sein?“



Es ist schwer für den menschlichen Verstand, den wahren Unterschied, der eigentlich gar keiner ist, zwischen dem Ich und dem Nicht-ich zu erkennen, vor allem sich dem bewusst zu werden, um damit auch arbeiten zu können.

Aber die Lektion sollte bald kommen, als Selma und ich uns einmal alleine an einem mit Blumen übersäten Flussufer treffen. Zu dieser Zeit „dürfen“ wir uns schon frei bewegen und auch unsere Wohltäter haben einmal Pause von uns, auch wenn sie keine Pausen brauchen.
 
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„Irgend etwas stimmt hier nicht“, beginnt Selma das Gespräch.

„Was meinst du?“

„Ich weiß es nicht genau, da es nur so ein Gefühl ist, dennoch ist es ein intensives Gefühl. Erinnerst du dich noch, als ich sagte, dass wir manipuliert werden?“

Wie könnte ich mich nicht an jene Sätze erinnern, die mich ziemlich erschreckten: „Die Außerirdischen haben uns alle unter ihrer Kontrolle. Sie sind in unseren Köpfen und machen, dass wir das tun, was sie wollen. Egal, was wir tun, sie wissen es.“ Und doch taten wir sie alle ab und zogen weiter, als wäre es das Normalste der Welt.

Wieder einmal muss ich daran denken, was mich wirklich dazu bewegte, mein ja doch schönes Leben zurück zu lassen, meine liebevollen Eltern so vor den Kopf zu stoßen. Irgendwie spüre ich jetzt, dass mich die Menschen vor den Stadtmauern nicht wirklich kümmerten. Es ging nur um mich selbst, weil ich es war, der diese dahin siechenden Menschen vor den Stadtmauern nicht ertragen konnte. War das etwa meine Bereitschaft? War ich deshalb bereit, dass mich die seltsamen und doch, wie ich inzwischen festgestellt habe, so liebenswerten Wesen in ein Traumland gebracht haben? Und was war mit Selma? Mit Abram? Was zeichnete sie aus? Warum entschlossen sich Viggo und Rike in einem Dorf zu bleiben, das alles andere als lebenswert war, außer vielleicht zwei oder drei Monate im Jahr, wo sie in der Stadt doch alles hatten, was ein Menschenherz begehrt? Weil sie jetzt ein Paar sind, konnte es nicht gewesen sein, denn das wären sie in der Stadt wohl auch geworden.

„Ich glaube, ich habe recht. Sie manipulieren uns. Sie sind in unserem Kopf und wissen auch jetzt, was wir gerade tun.“

„Ist Mephan, der Geflügelte, etwa nicht nett zu dir?“

Selma lächelt leicht.

„Mehr als das. Ich habe, was nicht viel zu sagen hat, in meinem Leben noch kein liebenswerteres Wesen gekannt. Er liest mir alle Wünsche von den Lippen ab und erzählt mir Dinge, die mein Hirn laufend Salti schlagen lässt. Mich wundert, dass du mit deinem ausgeprägten Gespür all das so leicht hin nimmst.“


Jetzt erstaunt sie mich. Und ich bin sogar stolz darauf, dass Selma dies an mir festgestellt hat. Es zeigt mir, dass sie über mich nachdenkt. Zwar nicht so viel wie ich über sie, obwohl ich in letzter Zeit kaum an sie oder an die anderen Wegbegleiter gedacht habe.

„Was meinst du, was hier nicht stimmt, Selma?“

„All das hier ist nicht echt. Außerdem hat mir Mephan von einem Endkampf erzählt und von einem ganz besonderen Lebewesen, das all dies, was jetzt geschieht, eingeleitet hat.“

„Und?“ frage ich, weil Selma stockt.

„Darin liegt der Haken. Mehr weiß ich auch nicht. Ich sagte schon, es ist ein Gefühl. Mehr nicht. Mir ist, als wäre mein gesamtes Leben immer nur ein Traum gewesen. Und das hier ist der Gipfel des Traumes. All das, um es exakt zu sagen, ist nicht wahr.“

Mein Blick, mein Gesicht allgemein, dürfte sehr eigenartig gewesen sein, denn Selma lacht hell auf.

„Du schaust wirklich, als hättest du sie nicht alle“, setzt sie noch einen drauf.

„Es sollte keine Menschen mehr geben“, erklingt plötzlich eine so angenehme Stimme hinter uns, dass uns beiden ganz wohlig wird. „Es sollte auch keine Erde in dieser Art mehr geben. Aber seid beruhigt. Ihr seid zwar in einem Traum, aber in einem der anderer Art, wie ihr glaubt. Und ihr werdet auch nicht manipuliert. Das hier ist nichts anderes als ein Experiment mit Freiwilligen und vielleicht nicht ganz Freiwilligen und dafür möchte ich mich entschuldigen.“

Als ich mich umwende, blendet mich enormes Licht. Ich sehe in die Sonne, aber davor steht ein Wesen, das noch intensiver leuchtet und ich muss mich schnell wieder abwenden und, wie Selma es ebenso tut, in den Fluss schauen, um meine Augen wieder zu beruhigen.

„Die Erde hat sich vor vielen, vielen Jahren verändert“, spricht das leuchtende Wesen weiter und in diesem Moment wünsche ich mir, es würde für immer weitersprechen, so wohl tut seine Stimme. „Und mit ihr seine Menschen. Dennoch ist eine der Erddimensionen geblieben, um anderen Lebewesen eine Chance zu geben. Die Menschen entwickelten sich zu leuchtenden Wesen und die Erde zur leuchtenden Welt. Die eine Erddimension, die geblieben ist, entwickelte sich auf ihre Art weiter. Auf ihr gab es alle möglichen Pflanzen und Tierarten.“

„Und ihr wolltet wissen, was passiert, wenn es wieder Menschen gibt“, unterbricht Selma, was mich leicht zusammen zucken lässt. „Und es passierte dasselbe, was immer passiert, wenn es Menschen gibt. Sie zerstören, weil das nun mal ihre Natur ist. Sie forschen, kopieren die Natur auf ihre ganz eigene Art und zerstören schließlich alles, was sie aufgebaut haben, samt Natur. Und doch kommen sie irgendwie durch mit ihrer doch grausamen, egoistischen Art. Das wusste ich schon immer. Dazu hättet ihr kein Experiment gebraucht.“

„Ganz so ist es nicht“, spricht das leuchtende Wesen hinter uns weiter. „Immerhin sind drei Exemplare von euch hier gelandet.“

„Und was ist das hier?“ fragt Selma.

„Eine Art Ausbildung und wofür diese Art Ausbildung ist, dürften euch bereits Shiran und Mephan erklärt haben. Alle anderen, die ihr hier fälschlicherweise für jene wie euch gehalten habt, sind ebenso Wesen wie Shiran, Mephan und Sitira. Die meisten von ihnen haben normale menschliche Gestalt angenommen, um euch nicht zu verwirren.“

Selma überlegt einige Momente.

„Ja, Mephan hat mir einiges erklärt“, sinniert sie dann. „Und wenn ich es mir recht überlege, bin ich damit gar nicht einverstanden. Ihr wollt das Verborgene sichtbar machen und das Unverletzbare verletzbar. Darin sehe ich einen enormen Widerspruch. Die unbefleckte, reine Quelle wird niemals befleckt und zerstörbar sein.“

„Dann verstehst du einiges nicht“, nehme ich neben mir plötzlich die Stimme eines Jungen wahr. Zwischen Selma und mir hockt auf einmal ein etwa zwölfjähriger Junge, mit schwarzem Lockenhaar, das mit einem bunten Band gebändigt ist, in dem eine Pfauenfeder steckt. Gekleidet ist er mit langen blauen Pluderhosen und einem ärmellosen, bunt bestickten Gilet, die seine knabenhafte Brust freilegt. Seine Hautfarbe ist eher dunkel, wie sonnengebräunt. Auffallend, wobei seine gesamte Erscheinung mehr als auffallend ist, sind seine Augen, die eine ziemlich unwirkliche Farbe haben – nämlich ein sehr grell leuchtendes Türkis.


Nachdem Selma und ich seine Erscheinung halbwegs verkraftet haben, da nicht nur sein Äußeres, sondern auch seine Ausstrahlung uns zu schaffen macht, spricht der Junge weiter.

„Die Quelle der Kraft wird immer rein und unverwundbar sein. Dennoch zeigt sie sich durch uns und all das, was wir wahrnehmen.

Wenn wir zur Quelle zurück kehren, sind wir nichts. Wie manch weiser Mann einst sagte: Die Buddhanatur ist leer. Man sprach zwar immer von Glückseligkeit, vom wahren Sein, aber wozu dann all das hier? Wozu all die Plage, die wir uns auflegen, um endlich ein Paradies zu schaffen. All das hier wäre sinnlos.“

„Und wenn schon“, gibt Selma keck zurück. „Dann können wir immer noch sagen, dass nichts passiert ist und alles nur ein schlechter Traum war. Und so sehe ich es auch.“

Der Junge lächelt. Mir scheint, die Minuten, seit er zwischen uns im Schneidersitz hockt, ist er einige Jahre älter geworden.

„Du scheinst ein Aspekt von Sila zu sein“, meint er leise und schaut Selma tief in die Augen, die überraschend gut seinen Blick stand hält.

„Und wer ist Sila?“

Selma wird immer frecher und auch aggressiver. Sie scheint dieses wunderschöne Wesen – das Schönste überhaupt, was meine Augen je erblickt haben – nicht zu mögen, auch wenn sie fasziniert von ihm ist, was ich an ihren Augen erkennen kann. Nur er, der sich etwas später als Arima vorstellte, schaffte es, Regungen in Selma zu erzeugen. Viggos Tod rührte sie zu Tränen, aber Arima berührte alle ihre inneren Saiten, die sie äußerlich zum klingen brachten.

„Sila ist wie ich eine Ganzheit – eine so genannte doppelte Ganzheit. Unsere Energien sind ausgeglichen, was aber nicht von Bedeutung für euch sein sollte.“

„Und was soll von Bedeutung für uns sein, schöner, junger Mann?“ gibt Selma kampflustig und gleichzeitig lächelnd zurück.

„Man nennt mich Arima, was auch keine Bedeutung hat. Es geht um Veränderung.“

„Wozu? Es ist doch gut, wie es ist. Zumindest hier.“

„Zumindest hier – das ist richtig. Aber was ist mit den anderen Welten, den so genannten unteren Welten, in denen das Leid so groß ist, dass es fast nur Leid und keinen Ausgleich gibt? In den mittleren Welten gibt es wenigstens Glück und Leid zu gleichen Teilen. Kannst du denn glücklich sein, wenn du weißt, dass dein Bruder leidet?“

„Ich habe keinen Bruder“, schnauzt Selma, „Und ja, ich kann glücklich sein, wenn ich weiß, dass andere leiden.“

Arima hebt eine seiner schön geschwungenen Brauen. Nun ist er tatsächlich zu einem jungen, unbeschreiblich (!) schönen Mann geworden.

„Deshalb bist du hier“, sagt er mehr zu sich selbst und richtet seinen Blick wieder auf Selma, indem er die Worte lauter wiederholt. „Genau deshalb bist du hier, weil du ehrlich bist, weil du das zeigst, was du fühlst. Es geht nicht darum, stundenlang zu meditieren oder zu beten. Götter gibt es keine, es sei denn, man hält uns für welche, weil wir wissen, dass es keinen Tod gibt, oder weil wir tausende von Jahren leben, während andere Wesen nur wenige Jahre alt werden können. Es geht darum, man selbst zu sein, - sogar wenn man Dieb oder Mörder ist. Das ist alles noch besser als feige Heuchelei, die ohnehin nur dazu dient, vor anderen gut da zu stehen und vor allem von anderen gemocht zu werden.“

„Gute Worte, Arima!“ lobt Selma und wagt es sogar, ihm auf die Schulter zu klopfen.


So hatte ich Selma noch nie erlebt, aber es hob meine Stimmung und ich genoss diese Momente, wo ich Arima recht geben musste, dass manche Momente für immer da sein und immer wieder erlebbar sein müssen.
 
Das ist also das berühmte Wesen, das vor Millionen Jahren den Endkampf (der kein Kampf war!) angezettelt hat, weil es im engstem Kontakt mit der Quelle der Kraft stand und einst auch lautstark (habe ich später von Sila erfahren) von sich gab, es sei Eins mit der Quelle – sozusagen die Quelle selbst. Es kannte also den Zustand des absoluten Seins genauso gut wie den Zustand absoluter Bewusstheit. Und es dürfte bereits Millionen von Jahren leben, was wohl einzigartig ist.



„Warum sind wir hier?“ wage ich zu frage und zucke zusammen, als Arima sich zu mir wendet und mich mit seinen leuchtend türkisfarbenen Augen anblickt. Aber es ist ein äußerst freundlicher Blick und er lächelt sogar.

„Es geht erneut um so etwas wie einen Endkampf, um es allen Lebewesen möglich zu machen, sich zu entscheiden. Du siehst, liebe Selma“, meine Elfe zuckt zusammen, als er sie so nennt und ihr dazu noch einen vielsagenden Blick zuwirft, „es wird niemand gezwungen, alle können sich entscheiden. Und das ist ganz im Sinne der Quelle der Kraft, da sie gleichzeitig unpersönlich, wie auch persönlich ist. Sie ist rein und unverwundbar und ebenso sinnlich und bewusst wahrnehmend.“

Mit diesen Worten erhebt sich Arima und blickt abermals lächelnd (ich glaube, er lächelte immer ein wenig – zumindest erschienen mir seine sehr sinnlichen Lippen stets glückselig lächelnd) auf uns herab.

„Moment, so schnell enteilst du uns nicht“, bemerkt Selma und springt ebenfalls auf.



Sie ist wunderschön heute. Sogar neben Arima, der meist alles in den Schatten stellt, ist das noch immer elfenhafte Mädchen, das niemals älter zu werden scheint, bezaubernd in ihrem hellblauen wadenlangen Trägerkleid, in dem silberne Blüten schimmern. Wie immer ist sie barfuß, was schon in der Stadt so manche zur Verzweiflung brachte, weil zur Sicherheit gebeten wurde, Schuhwerk zu tragen. Und ihr blondes feines Feenhaar war inzwischen hüftlang und wehte wie ein Schleier um ihren zarten, weißen Körper.

Das musste jetzt sein, nicht, um mich bei meinem Mädchen einzuschleimen (das habe ich nicht mehr nötig), falls sie das hier liest, sondern, weil es mir echt ein Herzensbedürfnis ist.


„Was ist unsere Aufgabe?“ fragte sie und steht dicht neben Arima, dessen Brust in ihrer Augenhöhe bronzefarben glänzt.

„Es wird nicht leicht, denn auch wenn wir glauben, dass ihr die einzigen menschlichen Auserwählten seid, könnte es sein, dass ihr zu schwach seid. Es wird sich also erst herausstellen, was für jeden einzelnen von euch die Aufgabe ist. Aber ich kann mir vorstellen, dass du gleich hinter, wenn nicht neben Sila stehen wirst.“

Selma stampfte wie ein kleines Kind zornig mit dem Fuß auf.



Habe ich schon erwähnt, dass nur Arima sie zu äußeren Reaktionen bringt? Ja, habe ich und es macht mich noch immer ein wenig eifersüchtig, auch wenn ich keinen Grund dazu habe. Nicht ihretwegen, weil für Selma so etwas wie Betrug gar nicht vorhanden ist, sondern aus mir selbst heraus.

Eifersucht, Neid oder Geiz haben wir hinter uns gelassen. Eigentlich habe ich derartiges nie wirklich empfunden, auch wenn ich mich früher oft fragte, was es ist, das Selma und Viggo verbindet. Ein früheres Leben, wie ich schon mal erwähnte? Als ich mit Arima einmal darüber sprach, meinte er, es muss nicht alles einen Grund haben. Es mag auch sein, dass Viggo und Selma erst im nächsten Leben zusammen kommen und das, was in diesem Leben zwischen den beiden funkte, erst der Anfang war. Nur soll ich diese, seine Beschreibung nicht allzu ernst nehmen, da es nur für das menschliche Bewusstsein so etwas wie ein Erstes und Letztes gibt. Zeit ist nämlich nicht wirklich das, als was wir sie wahrnehmen. Aber nach dem alles entscheidenden „Kampf“ (Arima wusste auch kein anderes Wort dafür) wird sich auch das ändern, denn dann sind wirklich alle Lebewesen, das gesamte Universum, samt seinen Dimensionen und Zwischenwelten absolut frei.



„Wer, verdammt, ist Sila?“ schreit Selma fast.

„Das, meine Liebe, wirst du noch rechtzeitig erfahren“, mit diesen Worten entfernt sich Arima, als wäre er nie hier gewesen.



Wir waren also die zweite Generation Mensch und davon waren wir drei die einzigen, die für etwas zu gebrauchen waren. Für etwas, das uns damals noch nicht klar war. Wenn ich ehrlich bin, ist es mir bis heute noch nicht wirklich klar.


Wir waren also die zweite Generation Mensch und davon waren wir drei die einzigen, die für etwas zu gebrauchen waren. Für etwas, das uns damals noch nicht klar war. Wenn ich ehrlich bin, ist es mir bis heute noch nicht wirklich klar.

Es hört sich so eigenartig an – die zweite Generation Mensch. Welch Zeitspanne! Aber Zeit ist ja auch nicht das, was wir darunter verstehen. Wir sprechen von Generationen, wenn wir an Kinder und Enkelkinder denken, aber das hier betraf die gesamte Menschheit. Die Erde war menschenleer und doch entwickelte sich der Mensch abermals auf ihr. Wie, das ist mir schleierhaft, aber ich habe (heute noch immer) diese Wesen in Verdacht, die uns hier her gebracht haben – in den so genannten Vorhof zum Paradies, was aber nichts zu bedeuten hat, da es bloß ein Paradies für Menschen ist. Wahrscheinlich sind wir so etwas wie Hologramme, die einfach auf die alte Erde gesetzt wurden. Die ursprüngliche Erde, so wurde es uns erklärt, hat sich in die Leuchtende Welt verwandelt, was angeblich eine vollkommen normale Entwicklung gewesen sein soll. Zurück blieb eine Erde – besser gesagt eine Erddimension, von denen es einst sechs gegeben hat – ohne Menschen, da sich diese, passend zur Leuchtenden Welt in Leuchtende Wesen verwandelt haben. Arimas erste Erscheinung vor uns war das Leuchtende Wesen.



Wir vermehrten uns also abermals, aber ob wir uns liebten, sei dahin gestellt. Irgendwann, als es wieder einmal zu eng wurde und die Menschheit wieder so weit war, sich auszulöschen, griffen Wesen wie Shiran, Mephan und Sitira ein und hinterließen „im“ Menschen ein Wissen, das der Mensch zuvor nicht kannte. Daraufhin wurden Städte gebaut. Es hatten aber nicht alle Platz und auch nicht alle dieses Wissen, also wurden Mauern um die Städte gebaut und unwissende Menschen von diesem geordneten Leben ausgeschlossen.

Angeblich ist das Eingeben von Wissen von der Quelle der Kraft ausgegangen, da ja alles von der Quelle der Kraft ausgeht. Es könnten aber auch Eingebungen gewesen sein, die verfälscht wurden, je öfter sie weiter gegeben wurden. Das zumindest ist meine Theorie, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Wesen wie Shiran zulassen, dass tausende von Menschen durch Viren, welche von den Stadtmenschen chemisch hergestellt wurden, sterben mussten. Vielleicht war es auch das, was wir den freien Willen nennen. Aber wie schon Selma immer sagte und noch immer sagt, der Mensch ist nun mal so, dass er zu aller erst sich selbst schützt.


Wie sah nun unser Lehrprogramm aus? Im Grunde taten wir nichts. Wir schliefen in unseren Luxushäusern wie Babys, bekamen ein Frühstück erster Klasse und gingen dann gemächlich in den Gärten spazieren, wo immer daneben ein kleines Bächlein plätscherte. Während dieser Spaziergänge erzählten uns unsere Wohltäter, in meinem Fall, Meister Shiran, der auf keinen Fall „Meister“ genannt werden wollte, einige Geheimnisse über das Universum. Zu Mittag gab es ein ausgiebiges Mahl und danach Mittagsruhe am Pool in der warmen Sonne. Später wanderten wir durch eine Landschaft, die – wie ich wie immer schreiben muss – einzigartig und unbeschreiblich war. Sie ist es noch immer, da sich an unserem Leben hier bis heute kaum etwas geändert hat. Wir müssen dieses Leben – worüber ich sicher nicht böse bin – zu Ende leben, um in die nächst höhere Stufe unserer Existenz zu kommen. Auch das hat sich trotz erneuten „Endkampf“ nicht geändert, aber es ist einfacher geworden, vor allem nicht so stressig, weil Schmerz, Krankheit und Tod wegfallen. Wir gehen bewusst in das nächste Leben, wie es eigentlich schon immer gewesen sein sollte.
 
Das Wandern genoss ich ganz besonders. Dabei stellte sich eine Stille ein, nicht nur außen, auch wenn ich ab und zu Vögel zwitschern und die an absolute Freiheit erinnernden Schreie der Adler hörte, sondern auch eine innere Stille, die keine Gedanken mehr zuließen. Ich hörte die Tiere, bekam manchmal auch welche zu Gesicht, sah die Natur, wie sie sein sollte und roch ihre Nektarblüten vollkommen ohne Gedanken. Da war nichts von „schön“ oder „vollkommen“, wie ich es zwar heute noch immer beschreibe, denn ich beschrieb innerlich nichts. Dieser Zustand stellte sich während der langen Wanderungen einfach ein, weil ich, wie auch Selma und Abram, bereit war.

Es hatte wirklich nichts mit einem sogenannten Vorleben als betender und meditierender Mönch zu tun. Es war Authentizität, wie Arima dies bei unserer ersten Begegnung Selma weismachte. Sei wie du bist, und selbst wenn du dich als Arschloch erkennst, so bist du nun mal. Natürlich heißt das nicht, dass man sich nicht verändern kann, aber hier ging es nicht um gut oder böse, hier ging es um das wahre Sein. Ich weiß, als Mensch ist es schwer zu verstehen, aber es ist zu schaffen, wenn man innerlich still ist. Erst die innere Stille zeigt dir, wer und was du bist.


Widersprüche und Paradoxe standen an der Tagesordnung, wenn wir über unsere Wanderungen und an manche Momente dachten, was uns zeigte, dass das menschliche Bewusstsein seine Grenzen hat. Grenzenlose Freiheit und das dazugehörige Sein wird sich erst entpuppen, wenn wir unsere Ganzheit leben und die besteht aus Mensch und vielen anderen Lebewesen, die unsere Ganzheit einst war und vielleicht noch sein wird. Sie ist all das und genau um dieses „All das“ geht es – es nämlich aus der Versenkung zu holen und zu leben.



Wir sind wieder einmal auf einer Wanderung, als ich das seltsame Gefühl habe, mich nicht von der Stelle zu rühren. Es war vielmehr so, als würde sich der Boden unter meinen Füßen bewegen, während ich an ein und demselben Platz verharre. Shiran sieht mich von der Seite an und flüstern mir zu, ich solle mein Selbst bewegen, denn dies wäre die wahre Bewegung. Noch bevor ich „Wie?“ fragen kann, spüre ich aus meinem Inneren (nicht dem Inneren des Körpers, sondern aus einem immens breiten Gefühl heraus) ein Ziehen und plötzlich scheine ich zu wachsen. Die herrliche Landschaft als Vogelperspektive. Ich sehe alles von oben, wie es immer kleiner wird. Der Wind bläst mir um die Ohren, obwohl ich mir sicher bin, keine Ohren mehr zu haben.



Es lässt sich nur schwer erklären, was mit mir in diesen Momenten geschah. Auf jeden Fall, so Shiran, habe ich endlich eine wahre Bewegung ausgeführt. Was das ausgelöst hat, ist mir schleierhaft. Es passierte einfach. Ohne mein Zutun kam ein ganz schön großes Stück verborgener Eisberg aus dem Wasser.


„Das liegt an der Bereitschaft“, erinnert mich Shiran wieder einmal, als ich völlig perplex nach dieser Erfahrung mit ihm auf der Veranda hocke. „Erzwingen hat sich noch nie etwas lassen. Wenn du glaubst, dass es an meiner Kraft lag, irrst du. Wir geben den Lebewesen nur dann Kraft, wenn es unbedingt nötig ist, so wie wir euch das Wissen gaben, euch mit chemischer Nahrung zu versorgen.“

„Was ist mit der Stadt, aus der wir gekommen sind? Gibt es sie noch?“ wage ich zu fragen.

Shiran senkt den Blick und schüttelt leicht seinen Lockenkopf.

„Es gab eine Revolution. Manche in der Stadt erfuhren, was draußen vor den Mauern mit den Menschen passiert. Sie überwältigten die Wächter und ließen die Menschen in die Stadt. Mit den Krankheitserregern lief dann etwas schief. Es blieben nur wenige über, die sich irgendwann auch verliefen uns starben. Das geschah übrigens in allen Städten und wurde nicht von uns ausgelöst.“

Ich glaubte ihm, denn Wesen wie er können nicht lügen. Schon uns fiel es schwer, aber wir konnten wenigstens etwas verschweigen, etwas geheim halten. Und nicht einmal das ist Wesen wie Shiran möglich. Warum es jedoch manchmal so scheint, als würden sie etwas vor uns geheim halten, liegt nicht an ihnen, sondern an uns, da wir so vieles noch nicht verstehen können. Es ist tatsächlich so, dass wir bloß einen Tropfen von dem wissen, was der ganze Ozean bietet.

„Die letzten Menschen damals, die alte Generation“, erzählt Shiran weiter, „von ihnen schafften es wenigstens einige auf die Leuchtende Welt, was diesmal nicht der Fall war. Es tut mir leid um deine Eltern und jene, die du kanntest und vielleicht liebtest.“



Ich frage nicht, wie lange wir schon hier sind. Einerseits kommt es mir wie Jahrhunderte vor und andererseits, als wären wir erst gestern angekommen. Es kann aber nicht so lange her sein, denn wir hatten vor kurzem den ersten Besuch bei unseren Freunden hinter uns. Sam und Lea freuten sich, als sie uns sahen, nachdem unsere Wohltäter uns sanft im Gebirge abgesetzt hatten. Aber viel größer war die Freude, als Selma und ich hinter Viggos und Rikes Haus gingen und sie in ihrem Garten begrüßten. Es war gerade Sommer, Erntezeit und sie waren dankbar, dass wir ihnen ein wenig halfen.

Als wir abends zum Treffpunkt ins tiefere Gebirge zurück gingen, wo Mephan und Shiran auf uns warteten (Abram kam nicht mit), war ich voller Fragen. Wie kommt es, dass die Menschen in diesen Dörfern noch leben, während die Stadtmenschen alle ausgerottet waren? Shiran konnte mir keine verständliche Antwort geben. Diese Menschen im Gebirge scheinen auf jeden Fall anders zu sein als die Stadtmenschen es waren. Sie lebten auch viel länger, da sie, laut Shiran, mehr als 200 Jahre alt werden können.


Noch etwas fällt mir zu einem Gespräch ein, als ich Shiran „Meister“ nannte, was er ja nicht so gerne hatte.

„Wir wollen nicht verehrt oder angebetet werden, wie das früher auf so verfälschte Weise der Fall war. Wir wollen Vorbilder sein, da es sich bei uns um nichts anderes handelt, als bei euch, auch wenn von uns – wenn du es wieder einmal als Metapher mit dem Eisberg sehen willst – viel mehr zu sehen ist als von euch. Es ist nicht die Menge, obwohl sie zur Erkenntnis führt, denn mehr Kraft bietet mehr Möglichkeiten. Es ist aber die Qualität, von der ich spreche, und in dieser Hinsicht unterscheiden wir uns alle nicht voneinander.

Oder meinst du, dies hier“, Shiran wies mit den Händen über seinen vollkommenen Körper, „sei das, was wir wirklich sind? Natürlich haben wir einen Form, da wir es geschafft haben, unsere Ganzheit sichtbar zu machen, aber für diese Form seid ihr noch nicht bereit. Ihr würdet nichts erkennen, deshalb erscheinen wir in dieser eher menschlichen Form vor euch. Und warum sie euch so perfekt erscheint, liegt daran, weil wir eure ganze Aufmerksamkeit wollen.“

So nach und nach veränderte sich auch unsere Form, obwohl uns das erst nach unserem vorletzten Besuch bei Viggo (beim letzten lebte nur noch Rike, die wenige Tage darauf starb) bewusst wurde, da er und Rike uns darauf hinwiesen, die meinten, wir würden so anders, fast wie Engel aussehen.
 
Es sind stets diese Widersprüche, die uns sagen, wie beschränkt das menschliche Bewusstsein ist und doch besteht die Möglichkeit, auch als Mensch seine Ganzheit bewusst zu erkennen. Qualität vor Quantität? Meistens, aber nicht immer, was ebenso ein Widerspruch zu sein scheint. Man tut sich einfach leichter mit mehr Kraft, mit mehr Energie.

Arima lacht stets über die Widersprüche, wenn ich sie ihm aufzähle. Er sitzt oft zwischen Selma und mir, wenn wir am Ufer des Baches sitzen. Manchmal ist auch Abram dabei, um den er sich sehr liebevoll kümmert und ihn sogar oft in seiner Wohnstatt besucht. In dieser Hinsicht scheint Abram zwei Wohltäter zu haben – Sitira und Arima, aber das liegt, wie ich später erfahre, an ganz etwas anderem. Abram ist derjenige, der für bewusste Evolution ist, während Selma zur Reinheit und Unverwundbarkeit der Quelle der Kraft tendiert. Aus diesem Grund, wie Arima bereits angedeutet hat, hat auch sie zwei Lehrer – Sila und Mephan.

Und ich tendiere zu beiden Seiten. Ehrlich, bis heute kann ich mich nicht entscheiden und halte beides für erstrebenswert. Hauptsache, bewusst. Aber anscheinend ist es ausgerechnet das, was der Quelle fehlt – Bewusstsein, das sie erst durch materielle Evolution erfährt. Arima gibt mir recht, aber er meint, ich solle mich nicht anstrengen, dieses Phänomen zu verstehen. Die Quelle der Kraft ist die absolute Perfektion. Sie ist alles und nichts zugleich. Wir können dieses gewaltige Macht niemals verstehen. Sogar als Ganzheit dürfte es uns noch immer schwer fallen, auch wenn wir in diesem Stadium bereits eins mit ihr sind. Nur wie eins – als „alles“ oder als „nichts“? Die Entscheidung, wenn wir bereit sind, liegt bei uns. Aber bis dahin, meint Arima lächelnd, wird es noch dauern.



„Obwohl die Quelle selbst bereits so weit ist und sich für sie alles bereits erledigt hat?“ wage ich zu fragen, als mir Selma eigenartige Blicke zuwirft, die, wie ich fühlen kann, mit dem Thema nichts zu tun haben.

„Früher, weit früher, sagte ich oft, dass die Quelle der Kraft Freiwillige verabscheut“ erzählt Arima. „Ich stehe noch immer zu dieser Aussage, aber heute sehe ich sie etwas anders. Es liegt nicht daran, sich freiwillig der Kraft zu ergeben, wenn man weiß, dass diese Möglichkeit besteht. Viele Menschen haben diese Erfahrung gemacht und sind letztens Endes gescheitert. Warum? Nicht, weil sie freiwillig der Quelle dienen wollten, sondern, weil sie noch immer ihre eigenen Ansichten vertreten haben und ihnen dies gar nicht bewusst war.

Die Quelle holt dich, wenn du bereit bist, aber bereit bist du nur, wenn du alles, auch dich selbst, los gelassen hast. Und genau das habt ihr drei getan. Nur – das ist nicht alles, was noch zu tun wäre, außer eure Verborgenheit sozusagen an Land zu ziehen, was ihr meisterhaft zustande bringt. Ihr habt euch nicht nur äußerlich verändert, sondern viel mehr innerlich.“

Arima schmunzelt.

„Ja, auch ich stoße immer wieder auf Widersprüche, da weder außen noch innen etwas zählt. Dennoch lässt es sich kaum anders beschreiben. Eure Kraft ist größer geworden – aber auch das ist verfälscht, denn eure Kraft ist immer gleich. Es hängt davon ab, wie viel ihr davon bewusst erkennt. Ich gehe sogar so weit und sage, ihr seid die Quelle der Kraft selbst und das habt ihr hier sicher nicht zum ersten Mal gehört. Aber wie könnt ihr das, wenn euch noch nicht bewusst ist, dass ihr alles bereits erledigt habt? Ihr seht, ihr habt noch jede Menge zu tun.“


In diesem Moment ergreift Selma hinter Arimas Rücken meine Hand und wirft mir wieder einen dieser seltsamen Blicke zu. Natürlich spürt er diese Bewegung und auch die Berührung und fasst mit beiden Händen nach hinten und drückt unsere Hände zusammen, um unsere Bindung zu besiegeln.

„Liebe, ja – sie ist noch immer die Größte unter uns und lässt uns einiges verstehen, was nicht verstehbar ist“, flüstert Arima, erhebt sich wie ein Schatten und entschwindet, als wäre er nie bei uns gewesen. Seine Abschiede sind eigentlich immer etwas dramatisch, aber immer leise und unscheinbar. Welch Widerspruch!



Selma ließ meine Hand nicht mehr los, bis wir vor meiner bescheidenen Villa standen und hinein gingen, als wäre es auch ihr Heim. Ja, es war unbeschreiblich, wieder einmal unbeschreiblich, als sie schnurstracks mit mir (als kenne sie alle Räume) zielstrebig ins Schlafzimmer ging, das ich schon lange nicht mehr benutzte, (ich schlief lieber auf der freien Seite auf der Veranda unter dem Sternenhimmel) mich aufs Himmelbett (das ich ja von der unteren Stadt gewohnt war) zerrte und wir uns ineinander keilten und vereinigten. Es war wirklich eine Vereinigung. Körper und Geist verschmelzten zu einem Körper und einem Geist. Nachher lagen wir keuchend nebeneinander und hörten Arimas Stimme: „Liebe, ja – sie ist noch immer die Größte unter uns...“



Selma blieb bei mir und so lernte ich nicht nur Mephan besser kennen, sondern auch die geheimnisvolle Sila. Im Vergleich zu unseren Wohltätern war sie ein Zwerg. Und doch strahlte sie Größe und vor allem Würde aus. Sila war das, was man eine Elfe nennen kann – zartgliedrig, fast zu mager und irgendwie nebulös; ähnlich nebulös wie Arima, wo man auch nie wusste, war er nun wirklich da oder war es bloß eine Erscheinung.
 
„Wir sind alle nur Erscheinungen“, belehrt uns Sila, als wir in meinem Garten unter einer Laube sitzen und köstlichen Obstsaft trinken. „Auch dieser Saft“, sie hebt ihren Kelch, „ist nichts als eine Erscheinung. Das, was wirklich ist, ist unveränderlich – nur Unwirkliches verändert sich und stirbt schließlich.“

Klar ersichtlich, zu welcher Seite Sila tendiert.

„So klar ist es auch wieder nicht. Meinst du“, sie fixiert mich mit ihren großen, dunklen Augen, „es gibt nur diese beiden Arten, wie Arima und ich sie vertreten? Ach, noch immer seid ihr viel zu sehr Menschen, obwohl ihr euch bereits weiter entwickelt habt. Menschliche Erscheinungen!

Arima sagte stets, dass wir uns als jene Form wahrnehmen, die wir annehmen. Die meisten Menschen sind zu klein, um sich dessen bewusst zu sein. Sie glauben, Fleisch und Blut zu sein. Sie glauben so fest daran, bis sie es auch sind.“

Sila blickt durch die Runde, die wir bequem auf weichen Decken hocken. Mephan, Shiran, Selma, ich und fast mitten unter uns die kleine, zarte Sila, mit den großen, dunklen Augen und dem langen, zerzausten Haar, das ständig seine Farbe wechselt. Diesmal ist es rot, mit rosafarbenen und hellblauen Strähnen durchzogen. Obendrein trägt sie einen bunten Schal um die Stirn und ein fast durchsichtiges Rüschenkleidchen in Regenbogenfarben. Shiran begrüßte sie als „Hippiemädchen“ und erklärte mir, das sei für ihn die wahrscheinlich beste Menschenzeit der letzten Generation gewesen und Sila huldigt ihr noch immer.

„Habt ihr das wohl vernommen?“ fragt sie. „Habt ihr bewusst vernommen, was ich sagte, - dass die Menschen, die ihr ja noch immer zum Großteil seid, glaubten, aus Fleisch und Blut zu bestehen, bis sie das auch waren, bzw. sind?“

„Du meinst, sie waren keine Erscheinungen mehr, sondern wurden tatsächlich feste Körper aus Fleisch und Blut?“ stelle ich die Gegenfrage.


„Kluges Bürschchen“, lobt mich Sila und verstrubbelt mir das Haar auf dem Kopf. „Das war eine Meisterleistung, aber leider war ihnen das nie bewusst. Diese winzige Energiemenge – ja, ich weiß, verfälscht, aber anders kann ich es euch nicht erklären, um halbwegs verständlich zu sein – also, diese winzige Energiemenge reichte aus, um eine Verwandlung der Sonderklasse durchzuführen.

Aber das war es noch nicht. Es ging noch weiter. Und es betraf nicht nur die neue Generation aus der ihr beide stammt, sondern auch die erste, deren Zeit mir eigentlich lieber war. Jene Menschen hatten so viel Energie, dass sie Welten erschaffen hätten können, ohne irgendwelche Technik zu benutzen. Dennoch verließen sie sich auf die Technik, weil sie sich zu wenig zutrauten. Sie waren irgendwie zweigleisig. Einerseits hielten sie sich für die Krönung der Schöpfung und andererseits doch zu schwach, um diese gewaltige Krone zu tragen.

Ihr Glaube, wenn er wirklich stark war, unbeugsam stark, hätte Berge versetzen können. Manche heilten sich selbst von schweren Krankheiten, weil sie daran glaubten, dass ihre Zeit zu sterben noch nicht gekommen ist. Andere glaubten wiederum an irgendwelchen Humbug und wurden dadurch wahnsinnig. Ihr wisst schon, was ich meine. Das Vorstellungsvermögen jener Menschen spiegelte ihnen einiges vor, was dann doch nicht wirklich war. Dennoch zeigte auch dies, was menschlichem Bewusstsein möglich gewesen wäre.

Im Grunde genommen müsst ihr nicht jedes Stückchen eurer Ganzheit aus dem Sumpf ziehen, wie ihr das mittlerweile tut. Euer Menschsein könnte genügen, um mit einem Schnips“, sie schnipste mit Daumen und Mittelfinger, „eure Ganzheit bewusst zu erkennen und eins mit der Quelle zu sein.“

„Aber was ist mit dem, was Mephan das menschliche Ego nennt, das, was uns von der Quelle zu trennen scheint?“ fragt Selma.

In diesem Moment gesellen sich Abram und Sitira zu uns. Abram, der Sila das erste Mal sieht, blickt zu ihr, kurz darauf zu Selma, dann wieder zu Sila, daraufhin zu Selma. Diese Bewegung führt er einige male aus, bis er feststellt, dass die beiden wie Zwillinge aussehen. Ja, das Elfenhafte haben sie durchaus gemeinsam, das Äußerliche, aber was das Wesen der beiden betrifft, sind sie doch sehr unterschiedlich. Während Selma fast unbeweglich erscheint, ist Sila ein Vulkan, der ständig temperamentvoll ausbricht. Wenn sie mit uns spricht, bewegt sich ihr ganzer Körper, auch wenn sie, wie jetzt, im Schneidersitz in unserer Mitte hockt. Es ist, als würde sie in einer geheimen Gebärdensprache jemandem Zeichen geben. Selma bleibt bewegungslos wie eine Statue, wenn etwas außer Kontrolle gerät, was hier ohnehin selten der Fall ist. Sila hingegen flippt fast aus und bekommt eine schrille Stimme, die ich dann mit der Sirene vergleiche, wie ich es einst in einem Buch gelesen habe.

Übrigens, Bücher gibt es hier auch – vor allem in meinem Haus gibt es ein Zimmer voll mit Büchern, in das ich mich gerne zurück ziehe und lese. Ich liebe es, mich in andere Geschichten, andere Orte zu begeben. Es ist, als wären da noch andere Leben, die ich leben kann. Es kommt jedoch darauf an, was ich lese, hat mir Shiran einmal gesagt, da sich unsere Gedanken ab einem gewissen Niveau materialisieren können. Aber darauf komme ich in meinen Aufzeichnungen sicher noch zurück.

„Ihr seid zwar im Gegensatz zu uns energetisch um einiges größer“, beginnt Selma, „ ja, ja, ja, das hatten wir schon mehrmals mit der Qualität und Quantität, dennoch hemmt uns Menschen dieser Gedanke immer noch. Ich kann es fühlen, dass ihr mächtiger seid und euch sehr viel mehr möglich ist als uns. Das will ich damit sagen, egal aus welchem Grund dies so ist. Aber wenn ihr auch größer seid, sozusagen, die Ganzheit eures Selbst erreicht habt, seid ihr im Gegensatz zur Quelle dieselben Würmer wie wir.“

Und sie ist direkt, während Sila stets versucht, freundlich und liebevoll zu sein. Friede, Freude, Eierkuchen – so hat Arima sie einmal beschrieben, obwohl, wie er meinte, sie anfangs ganz anders war, eher eine harte Kämpferin. Sila ist ein Doppelwesen, genauso wie Arima selbst. Bei Arima schien das Zusammenwachsen aus Liebe passiert zu sein, bei Sila ist es irgendwie ungewiss. Vielleicht Geschwisterliebe? Auf jeden Fall gibt es nicht viele Doppelwesen und es hat, laut Arima, auch keine wirkliche Bedeutung. Mag sein, dass es im nächsten Universum Bedeutung hat. Aber ich schweife schon wieder ab und greife Gesprächen vor, die ich unbedingt erwähnen möchte.

„Was ist nun mit dem menschlichen Ego? Ist es wirklich so sehr zu verdammen, wie manche Schriften uns dies weismachen wollen?“ wiederholt Selma die Frage mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme. Silas Stimme ist übrigens um einiges höher.

„Vergiss die Schriften“, meint Mephan, dessen Art mich sehr an Arima erinnert. Die beiden sehen sich wirklich ähnlich, obwohl es Mephan, im Vergleich zu Arima sehr an Ausstrahlung fehlt. Ich will nicht sagen, dass Mephan keine Ausstrahlung hat – ganz im Gegenteil, unsere Wohltäter sind Götter gegen uns drei menschlichen Wesen. Aber an Arimas Schönheit und Ausstrahlung kommt niemand heran. Manchmal, heute noch immer, glaube ich, er (sie oder es?) ist die Materialisation der Quelle der Kraft, was die Vollkommenheit betrifft.

„Obwohl manche Schriften sehr an die Quelle erinnern“, spricht Mephan weiter, „sind sie doch alle verfälscht und können gerade mal das ausdrücken, was ihr verstehen könnt.“

„Wie erinnert dich etwas an die Quelle?“ frage ich.

„Das ist schwer zu sagen. Es ist weder ein Gefühl noch ist es Wissen. Aber es ist so etwas wie Gewissheit. Ich kann sagen, ich bin mir sicher, dass dies oder jenes direkt und ohne Verfälschung aus der Quelle kommt“, antwortet Mephan. Mich faszinieren stets seine schwarzen Schwingen, die, wenn er auf dem Boden hockt, hoch hinter ihm aufragen.

„Ihr seid zwar im Gegensatz zu uns energetisch um einiges größer“, beginnt Selma, „ ja, ja, ja, das hatten wir schon mehrmals mit der Qualität und Quantität, dennoch hemmt uns Menschen dieser Gedanke immer noch. Ich kann es fühlen, dass ihr mächtiger seid und euch sehr viel mehr möglich ist als uns. Das will ich damit sagen, egal aus welchem Grund dies so ist. Aber wenn ihr auch größer seid, sozusagen, die Ganzheit eures Selbst erreicht habt, seid ihr im Gegensatz zur Quelle dieselben Würmer wie wir.“

Und sie ist direkt, während Sila stets versucht, freundlich und liebevoll zu sein. Friede, Freude, Eierkuchen – so hat Arima sie einmal beschrieben, obwohl, wie er meinte, sie anfangs ganz anders war, eher eine harte Kämpferin. Sila ist ein Doppelwesen, genauso wie Arima selbst. Bei Arima schien das Zusammenwachsen aus Liebe passiert zu sein, bei Sila ist es irgendwie ungewiss. Vielleicht Geschwisterliebe? Auf jeden Fall gibt es nicht viele Doppelwesen und es hat, laut Arima, auch keine wirkliche Bedeutung. Mag sein, dass es im nächsten Universum Bedeutung hat. Aber ich schweife schon wieder ab und greife Gesprächen vor, die ich unbedingt erwähnen möchte.
 
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„Wir sind Wesen der Anderen Seite, falls du das vergessen hast. Im Gegensatz zu euch sind wir Ganzheiten und sind es auch immer gewesen. Wir sind die Engel Gottes, um es mal ganz trivial zu sagen“, gibt Mephan stolz zurück.

„Das ist richtig“, schreitet Sila ein. „Mephan, Shiran und Sitira sind anders als wir. Während wir als Ganzheit alle Aspekte leben müssen, - um es naiv auszudrücken, nehmen Wesen der Anderen Seite ihre Formen nur an. In dieser Hinsicht sind sie tatsächlich Götter im Gegensatz zu uns. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass auch sie Aufgaben haben. Im Grunde genommen tendieren sie zur Leere, dazu, wieder vollkommen eins mit der Quelle zu sein. Sie kennen eigentlich kein Ego – bzw. kannten keines, bevor sie mit uns in Berührung gekommen sind, - mit den Wesen Dieser Seite. Materie gegen Antimaterie – könnte man fast sagen, obwohl es nicht ganz so tragisch ist.

Genau das ist damit gemeint, liebe Selma, um auf deine Frage zu antworten. Die Quelle spricht durch die Wesen der Anderen Seite. Deshalb scheint es, als hätten sie kein Ego wie manche Aspekte unserer Ganzheit. Aber das Ego ist weder gut noch schlecht, denn es dient, wie alles was ist, zur Entwicklung.“



Was nun das mit den Gedanken betrifft, auch hier erklärte Sila einiges, denn die Wesen der Anderen Seite waren und sind die eigentlichen Schöpfer des Universums, auch wenn sich dies widerspricht. Sie waren es, die etwas in Ganz setzten, was eigentlich nicht ihrem Naturell entspricht. Deshalb ist es für sie besonders wichtig, ihre Gedanken in Zaum zu halten, was auch für uns ab einem bestimmten Punkt der Reife zu einer wichtigen Aufgabe wurde.

Das heißt jetzt nicht, dass wir im Bann der Wesen der Anderen Seite stehen. Sie haben einfach nur dem ersten Dominostein einen Stoß gegeben – alle weiteren fielen wie von selbst. Man hat uns Wesen Dieser Seite sozusagen freie Hand gelassen, oder viel mehr dem, was wir leichthin Evolution nennen, denn wirklich bewusst war uns Menschen nie, wie das Universum überhaupt zustanden gekommen ist. Dafür gibt es mächtigere Lebewesen, die uns bei weitem überlegen sind.



„Die Quelle lässt sich nicht trennen“, sagt Arima. „Es gibt keine zwei Welten. Man kann nicht sagen, hier ist die geistige und dort ist die materielle Welt. Die geistige Welt, würde es eine geben, ließe sich nicht fassen. Das bedeutet, dass es neben der Materie nichts gibt, aber das Gegenteil ist der Fall, denn würde Geist sichtbar, wahrnehmbar sein, würde er die materielle Welt ums Milliardenfache an Größe übertreffen. Die Welt der Gedanken. Die Welt der Möglichkeiten. Die Welt der Phantasie. Die Welt der Himmel und der Götter. All das ist in Wirklichkeit Geist, nichts als das Nichts und Leere. Der Geist ist immer da. Rein und unverwundbar. Dass er ewig und unendlich ist, muss bestritten werden, da beides Raum und Zeit beschreibt. Geist braucht keinen Raum und auch keine Zeit.“

Lächelnd schreitet er in einer schwarzen, bodenlangen Toga gekleidet auf unsere illustre Runde, direkt auf Sila zu, die ihn mit weit aufgerissenen Augen entgegen blickt.

„Deine Worte, Sila – einst, vor langer, langer Zeit, wo du dachtest, ich hätte sie dir in den Mund gelegt. Und jetzt? Sind die Himmel und die Götter noch immer das Nichts, die Leere? Und was ist mit der Quelle? Ist sie unteilbar, obwohl sie sich durch all das hier offenbart?“ Während des letzten Satzes bewegen sich Arimas beide Hände im Kreis, um die Landschaft und uns eingeschlossen damit anzudeuten.


„Willst du noch immer sagen, es sei nicht der Wunsch der Quelle, sich auch materiell zu offenbaren? Wovon geht denn all diese Energie aus, die wir durchaus spüren können?“ spricht er weiter, während sich Sila erhebt. Ihre Haltung ist kampflustig und obwohl sie Arima kaum bis zu Brust reicht (Sila ist sogar kleiner als Selma), strotzt sie vor Kraft und scheint ihm kaum unterlegen zu sein.

„Die Quelle träumt und möchte aufwachen. Das ist es, was ich fühlen kann. Sie befindet sich in einem Alptraum, Arima und möchte endlich wach sein und das sein, was sie ist – Reinheit und Unverwundbarkeit.“

Unsere drei Wohltäter, Mephan, Shiran und Sitira und wir drei, Selma, Abram und ich (Paolo) senken währenddessen unsere Köpfe. Ich wage nicht mehr aufzublicken, aber ich höre zu.

„Es wird ein neues Universum geben. Schon bald, Sila“, spricht Arima unbeirrt weiter. „Wirst du es mit uns eröffnen, oder dich uns entgegen stellen? Nach diesem letzten Kampf, der uns jetzt bevorsteht, wird es entschieden. Ich weiß, wie es ausgeht. Du auch?“

Nach diesen Worten dreht sich Arima um und entschwindet wie ein Schatten, der sich in der Dunkelheit auflöst.

Sila stampft mit dem Fuß auf und schreit wütend in den wolkenlosen Himmel hoch, als wäre sie ein heulender Wolf. Dann atmet sie tief durch und hockt sich wieder in unsere Mitte.

„Bis zum Endkampf werden wir ihn nicht wieder sehen. Das ist gewiss“, meint sie und atmet wieder tief durch.

„Ich würde nicht sagen, dass die Quelle träumt“, sagt Selma so plötzlich, dass wir alle, wie aus einem Traum erwachend, erstaunt auf sie blicken. „Ich würde sagen, dass sie gar nichts tut. Das hier“, sie deutet auf die Landschaft und auf uns, wie es Arima vorhin getan hat, „ist weniger als ein Gedanke. Es ist eine Möglichkeit, die so schnell vorbei ist, als wäre sie nie gedacht, nie da gewesen. Uns erscheint es wie Milliarden von Jahren und vielleicht mehr. Wir erkennen darin eventuell verschiedene Universen, vergangene, dieses jetzt und womöglich noch zukünftige. Aber für die Quelle selbst ist es bloß eine winzige Möglichkeit, die es nie gegeben hat und nie geben wird.

Es ist nichts. Es ist nie etwas geschehen. Na und? Es gibt schlimmeres, wie etwa all die Grausamkeiten, die passierten, - die Menschen anderen Menschen angetan haben. Freier Wille? Kann nicht sein. Die Quelle kann ihre Macht über eine mögliche Schöpfung gar nicht verlieren.

Gut, es gibt es auch Wundervolles, was Menschen vollbringen, wenn wir vom Menschen ausgehen, als der ich geboren wurde. An etwas anderes kann ich mich nicht erinnern. Auch nicht an andere Leben und schon gar nicht an zukünftige Leben. Ich weiß erst jetzt, dass es auch andere Lebewesen gibt. Aber gibt es sie wirklich? Gibt es mich als diese jämmerliche Gestalt wirklich? Niemals! Wir müssen aufwachen. Wir! Die Quelle muss nicht aufwachen, denn weder schläft noch träumt sie. Sie ist. Ganz einfach. Auf dieses Sein müssen wir uns einfach nur einlassen.“


Selmas Rede zeigte Wirkung. Wir fühlten uns wirklich als würden wir träumen und es klang auch irgendwie verständlich, wenn ich an das Größenverhältnis dachte. Für die Quelle mag es – bildlich gesprochen – nicht einmal ein Wimpernschlag sein, aber für uns erscheint alles wie Milliarden von Jahren. Es erscheint. Es scheint nur so zu sein.

Sogar unsere Wohltäter zeigten Rührung. Vor allem Shiran murmelte stets: „Ich erinnere mich. Ja, ich erinnere mich.“ Selma wollte wissen, woran er sich erinnert, aber Mephan hielt sie zurück. „Das würdest du nicht verstehen. Noch nicht.“



Manchmal ist es zum aus der Haut fahren, wenn sie „du würdest es nicht verstehen, noch nicht“ sagen und das tun sie eigentlich sehr oft, obwohl sie uns loben und meinen, wir seien schon für den zweiten Endkampf bereit. Was wirklich beim ersten passierte, ist uns im Grunde genommen noch immer unklar. Er dürfte sich während der ersten Generation Menschen ereignet haben, da Shiran von Menschen sprach, die sich zu Leuchtenden Wesen und die Erde (eine der Erddimensionen) zur Leuchtenden Welt entwickelt hat. Er drückte es anders aus. Er sagte nicht „weiterentwickelt“, sondern, falls ich mich richtig erinnere „verwandelt“.

Die anderen Erddimensionen (auch etwas, was irgendwie unvorstellbar und kaum erklärbar ist) darben irgendwie weiter – vor allem ohne Menschen, bis in einer der zurück gebliebenen plötzlich wieder Menschen auftauchten. Woher?
 
Übrigens, Arima tauchte auch wieder auf. Es war nicht so, wie Sila prophezeite. Er erschien sogar bald nachdem wir in unserem Haus und noch immer ziemlich perplex wegen Selmas Rede waren. Sie selbst sagte nichts mehr dazu, nicht mal, als ich sie fragte, wie sie so etwas überhaupt sagen konnte. Tage später, nachdem wir schon wieder einige Gespräche mit Arima (und ohne Sila) hatten, erwähnte sie eine Erscheinung, die behauptete, Göttin Gaia zu sein. Sie war dunkelhäutig, hatte kurzes Kraushaar, von für eine Frau etwas zu muskulöser Figur und durchschnittlicher Größe. Gekleidet war sie in Moos und Sand, was jetzt seltsam klingt, aber Selma berichtete, dass sie wirklich ein Oberteil und etwas knappes über den Hüften trug, das wie dunkelgrünes Moos aussah und an den Füßen etwas sandiges in Sandalenform.



Da ich eben 'und ohne Sila' geschrieben habe, wir sahen sie nur mehr selten und das war für unsere Gemeinschaft auch gut so, da sie einiges durcheinander brachte. Ihre Erkenntnisse, die sie durchaus aus eigenen Erfahrungen hatte, waren stets schwer verdaulich. Aber ich will nicht schon wieder zu weit vorgreifen und jetzt viel mehr über ein weiteres Gespräch mit Arima schreiben, das Shiran und ich mit ihm hinter meinem Haus im Garten unter der Laube führten. Selma war inzwischen mit Mephan (und ohne Sila!) unterwegs in den Bergen. Die Berge waren nie so meins. Von unten ja, aber dort hoch klettern und dann von der Höhe in die Tiefe schauen, erinnerte mich stets an die Kletterei in der Kluft, was für uns alle nicht sehr angenehm war. Selma hingegen liebte und liebt die Berge und das herum klettern auf ihnen.


„Es gibt nur eine Erde in fester – materieller Form“, begann Arima auf meine erste Frage. „Wir sprechen hier von Dimensionen, oder man könnte es auch Sphären nennen. Damals, vor dem ersten Endkampf gab es sechs dieser Sphären. Sie waren sich alle sehr ähnlich, bis auf die Tatsache, dass es mich nur einmal gab – in der sechsten Erddimension. Natürlich waren nicht alle Menschen und Lebewesen sechsmal vertreten, manche gab es auch nur zwei oder drei mal und nicht sechsmal. Aber das hat keine Bedeutung.“

„Warum gab es dich nur ein mal?“ unterbrach ich, obwohl ich das mit den Dimensionen noch immer nicht verstand.

Arima zuckte die Schultern. Diesmal war er sehr weltlich gekleidet – in Jeans und buntem T-Shirt, aber barfuß.

„Es gibt nicht für alles eine Erklärung, aber ich denke, das hängt mit meiner Musik zusammen, die ich damals mit meiner Band machte. Es gab die gleichen Songs auch in den anderen Erddimensionen, nur eben von anderen Sängern, anderen Bands, die die selbe Stimme, aber nicht diese Ausstrahlung in der Stimme hatten wie ich.“

Mir fiel auch auf, dass Arima mit unterschiedlichen Stimmen sprach, die, wie er erklärte, von seiner Stimmung und seinen Gefühlen abhingen. Es war wirklich, als würden verschiedene menschliche Stimmen aus ihm sprechen, die man nicht nur mit den Ohren, sondern sehr angenehm mit dem gesamten Körper spürte, was wohl auch seine gesamte Erscheinung tat.

„Meine Musik war so etwas wie ein Schutzschild für die Erddimensionen. Mag also sein, dass dies der Grund für meine so genannte Einmaligkeit sein.

Der Endkampf selbst war nichts anderes als eine Art Umverteilung, wie ich dir ohnehin schon einmal erklärt habe.“

Ja, es mag sein, dass ich mich wiederhole, aber bei derartigen Themen wohl kein Wunder.

„Wenn Shiran zum Beispiel sagt, er sei ein Wesen der Anderen Seite und hat diese Gestalt, in der du ihn stets wahrnimmst, nur angenommen, ist das gar nicht so verschieden von uns, den Wesen Dieser Seite. Auch wir haben diese Gestalt nur angenommen, da alles in Wirklichkeit immer nur Energie ist. Der Unterschied mag das Bewusstsein sein, da es sich bei uns erst entwicklungsgemäß einstellt, während Wesen der Anderen Seite schon immer bewusst waren. Aber das alles ist bloß eine unnötige Wortklauberei, denn jede Wesenheit hat beide Energien in sich, die einen eben mehr von dieser und die anderen eben mehr von der anderen.

Da sich die Energie der Anderen Seite damals immens vermehrte, griff ich ein, weil ich das als Wunsch der Quelle der Kraft empfand. Ich konnte gar nicht anders, auch wenn ich es anders gewollt hätte. Wenn du dich einmal der Quelle der Kraft ergeben hast, führt sie dich genauso wie dich früher dein Ego geführt hat, nur mit dem Unterschied, dass du dich nicht mehr fragst, ob Profit für dich selbst dabei heraus schaut. Das heißt, du bist in gewisser Weise nichts anderes als die Quelle der Kraft selbst und arbeitest in Form eines ihrer kleinen Aspekte für sie. Das ist eigentlich alles. Und genau darauf arbeitete ich mit meiner so genannten Armee, die ich damals aufstellte, hin.

Ich wusste nachher, dass dies noch nicht alles war und dass es wahrscheinlich noch einen Kampf geben wird, aber nur dann, wenn es wieder Menschen auf der Erde gibt. Aber diese Wahrscheinlichkeit war gering und hing, wie alles, nur von der Quelle der Kraft ab, die stets alles leitet. Es gab aber doch wieder Menschen und sie entwickelten sich kaum anders als die erste Generation, mit einem mächtig großen Ego. Aber es war alles okay, bis auf die Tatsache, dass es wiederum eng wurde und sie nahe dran waren, sich selbst auszurotten, also griffen wir wieder einmal ein und gaben euch ein Wissen ein, mit dem ihr euch retten hättet können, was ihr aber nicht getan habt. Das Ego war größer und baute eine Mauer um sich selbst. Ihr versteht, was ich meine. Aber egal, denn brauchbar – verzeiht mir diesen Ausdruck – waren ohnehin nur wenige von euch. Ihr hattet die Wahl. Ihr alle, auch eure Freunde, die in den Bergen zurück blieben. Es musste nun mal so sein, wie es jetzt ist und auch das hing und hängt, wie alles, von der Quelle der Kraft ab. Sie ist es, die mir stets den Weg zeigt und sie ist es, die auch euch den Weg zeigt, wenn ihr euch nur auf sie einlässt. Erst dann könnt ihr einigermaßen verstehen, dass ihr – man kann es durchaus so sagen - etwas daran liegt, die Evolution fortzusetzen, denn sie ist die Evolution, die Kraft, die hinter all dem steht. Sie ist du. Sie ist ich. Sie ist all das, was du wahrnehmen kannst. Sie zeigt sich in all diesen und noch viel mehr Formen.“

Ich erinnerte mich an Selmas Worte: „Die Quelle muss nicht aufwachen, denn weder schläft noch träumt sie. Sie ist. Ganz einfach. Auf dieses Sein müssen wir uns einfach nur einlassen.“
 
Meine neueste Aufgabe war, in der äußeren Welt Teile meines Selbst zu erkennen und anzunehmen. Es war ein schwieriges Unterfangen, da mich meine Gefühle beeinträchtigten. Es ging nicht darum, was mir gefällt oder was ich will. Es ging (und geht wie immer) um Energie. Auch hier erkannte ich abermals einen Widerspruch, denn Energie ist Energie. Sie unterscheidet sich nicht, auch wenn es jene Dieser und jene der Anderen Seite gibt. Das gilt jedoch nur für die Quelle der Kraft in ihrem komprimierten Zustand.

Hier gab es wieder etwas Neues. Die Quelle der Kraft im komprimierten Zustand! Das kam von Arima, der Selma und mir vom Öffnen und Schließen der Quelle erzählte, was auch eine Variante zum Verstehen des Phänomens der Welten ist. Man kann nur schwer sagen, wie oft sich die Quelle bereits geöffnet und wieder geschlossen hat. Die Vorstellung hinkt jedoch, da das Universum, laut Arima, sich ständig ausbreitet und sich nicht wieder zusammen zieht. Der so genannte Urknall dürfte der Moment gewesen sein, als sich die Quelle spontan öffnete und alles andere wurde dem natürlichen Lauf der Evolution überlassen. Von wem kam der natürliche Lauf? Natürlich von der Quelle der Kraft. Und wenn sich die Quelle schließt, sozusagen wieder komprimiert ist, passiert das (bildlich gesprochen) genauso urplötzlich wie der Urknall, nur in umgekehrter Form.

Es mag noch Millionen von vorstellbaren Varianten geben, aber Fakt ist, dass alles stets von der Quelle der Kraft ausgeht. Sie ist jene Energie, die niemals vergeht und aus der alles entsteht, auch wenn sie so sehr komprimiert ist, dass kein Auge sie erkennen könnte.



Während meiner neuen Aufgabe lernte ich auf mein Selbst zu hören und meine Vorlieben und Wünsche, die angeblich vom Ego ausgehen, hintan zu stellen. Ich musste dafür nicht in der Gegend herum rennen, sondern konzentriert an einem ruhigen und mir angenehmen Ort sitzen. Hier begann es schon, am angenehmen Ort. Was ist für mich ein angenehmer Ort? Ich suchte Stunden nach diesem Platz, bis Arima endlich zufrieden und ich zu erschöpft war, um sofort mit meiner Übung zu beginnen. Aber nach wenigen Minuten ging es mir wieder gut, sogar sehr gut, als würde mich der Platz mit frischer Energie aufladen.

Es wunderte mich, dass ich diese Aufgabe geistig zu erledigen hatte und nicht an Ort und Stelle Dinge suchen sollte.

„Es geht nicht wirklich darum, Dinge zu suchen, wie etwa versteckte Schätze oder Bäume oder Lebewesen, die zur Ganzheit deines Selbst gehören. Das Universum ist kein Schrank, wo in jeder Lade bestimmte Dinge eingeräumt sind. Das Universum ist in Wirklichkeit das reinste Chaos, auch wenn gewisse Gesetze herrschen, die sich nicht umgehen lassen. Dein Selbst ist also kein Stück im Ganzen, das irgendwann auseinander gebrochen ist und dessen Teile du nun suchen und finden und sie schließlich mit Klebstoff zusammen kleben sollst, um es wieder ganz zu machen. Dein Selbst ist etwas Unvorstellbares, genauso unvorstellbar wie die Quelle, da es im Grunde genommen die Quelle ist.“


Wieder einmal typische Sprüche jener Wesen, die das menschliche zwar noch in sich haben, es aber gleichzeitig schon sehr lange abgestreift haben und in so genannten göttlichen Dimensionen schweben, in die ein Mensch nur wenig Einblick hat. Mein Selbst ist die Quelle und dann heißt es wieder, dass mein Selbst so klein ist, dass es nichts gegen die Quelle ist. Was nun? Gelten Größenverhältnisse nur dann, wenn es den Herrschaften bei den Erklärungen hilft?

„Genauso ist es“, lächelt Arima, der in letzter Zeit mehr mein Lehrer (ich weiß, sie alle mögen diese Benennung nicht, obwohl Benennungen keine Bedeutung haben...) ist als Shiran. „Immerhin wisst ihr, dass jede Erklärung verfälscht ist, aber es hilft euren Vorstellungen auf die Sprünge, bis ihr keine Vorstellungen mehr braucht und selbst erkennt.“

Es stimmt. Dinge dieser Art lassen sich nicht erklären, weil sie nicht nur über das Menschsein, sondern über das gesamte Sein hinaus gehen. Alles ist Energie. Auch das, was wahrgenommen wird, ist erscheinende Energie. Das ist der ganze Unterschied. Und jene Aufgaben, die Selma, ich und auch Abram nun hatten, war, über die erscheinende Energie hinaus zu gehen und unsere gesamte Aufmerksamkeit auf die Energie zu richten, die wir die Quelle der Kraft nennen, denn sie ist tatsächlich unser aller Selbst.



„Die Vollkommenheit, nach der wir streben, hat nichts mit festen Körpern zu tun. Wir streben nach der vollkommen offenen Quelle der Kraft, in der all ihr Sein rein energetisch offenbart wird.“

Wir haben Arimas Worte vernommen und können sie auch einigermaßen nachvollziehen, aber vom Erleben sind wir noch weit entfernt.

Es wurde zu meiner Lieblingsaufgabe. Ich konnte stundenlang an meinem Platz hocken und reiste geistig durch Dimensionen, von denen ich niemals gedachte hätte, dass es so was gibt. Niemals hätte ich so viel Phantasien gehabt, um mir all das, was ich auf meinen geistigen Reisen erkannte, zusammen zu reimen. Mitunter waren auch Aspekte dabei, die mir nicht so behagten, aber da half mir Selmas Einstellung, die schon immer jenseits von Gut und Böse war und doch stets das Richtige tat.

Ich weiß nicht, was ich getan habe, um Teile meines Selbst erkannt und angenommen zu haben. Es passierte einfach. Und – ich war nun mal bereit dafür, wie Arima meinte.



Das Lernen verändert sich zusehends. Was ich eventuell nachfolgenden Menschen empfehlen könnte (da mir mehr und mehr der Versuch, das zu erklären, was wir tun, misslingt), wäre das mit der Energie, den richtigen Platz zu finden, an dem man sich wohl fühlt, an dem die Energie wachsen kann und die Form, die sie angenommen hat, stets gesund ist. Das Stadtleben war nicht gesund und noch weniger erstrebenswert war das Leben in den Zeltlagern. Früher lebten die Menschen auch in Städte oder Dörfer, an x-beliebigen Orten, an denen die Erdenergie nicht mit ihnen harmonierte und sie erkrankten, aber trotz Medizin starben sie viel zu früh. Oder sie drehten durch, gingen aufeinander los, raubten und mordeten. Auch das ist ein Zeichen, wenn erscheinende Energien nicht miteinander harmonieren.



Ich schrieb eben, dass die Energie die Form angenommen hat, was eigentlich für Wesen der Anderen gilt, die jede mögliche Form annehmen können, die sie annehmen wollen. Bei Wesen Dieser Seite, bei uns sozusagen, ist dies erst dann möglich, wenn wir die Ganzheit erreicht haben und selbst dann können wir uns die Formen nicht aussuchen, sondern nehmen den Aspekt an, der in der Ganzheit enthalten ist, was so viel bedeutet, wie, dass wir als erscheinende Energie genau in dieser Form gelebt haben.


Wieder höre ich Arimas Stimme, die sagt: „Es gibt keine zwei Welten.“ Damit meint er nicht, dass es keine anderen Dimensionen, Sphären oder gar Paralleluniversen gibt oder ähnliches, was wir bis jetzt noch nicht kennen. Er spricht von der Energie an sich und dem, als was die Energie in der stofflichen Welt erscheint. Entweder ist die Energie energetisch oder sie ist stofflich.

Sila sagt wieder etwas anderes. Für sie ist nur Energie real. Alles andere sind Illusionen, die ohnehin nie passiert sind, also nicht einmal Illusionen.

Selma stimmt eher Sila zu, aber sie tendiert teilweise auch zu Arimas Aussagen, der, wie ich glaube, ältesten bewussten (!) Wesenheit im Universum. Im Grunde genommen, wenn wir von Energie ausgehen, sind wir alle gleich alt – genauso alt wie die Quelle der Kraft. Wie alt ist sie? Dumme Frage, wo sie doch zeit- und raumlos ist. Erst wenn sie sich öffnet (Urknall?), treten derartige Phänomene wie Zeit und Raum auf und Lebewesen und Formen und Elemente wie Luft, Feuer, Wasser, Erde und Äther. Aber sich seines Lebens stets bewusst zu sein, gelang bis jetzt (so viel ich weiß) nur Arima und der Form mit der er sich für immer vereinigte. Er ist ein Doppelwesen, von denen in Zukunft immer mehr auftreten werden, da es energetisch nötig ist, um das durchzuführen, was Arima den zweiten „Endkampf“ nennt, auf den ich sofort zu sprechen (schreiben) komme.
 
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Immer mehr vertraue ich Arimas Erkenntnis, denn so oft fühle ich, dass das, als was ich mich wahrnehme, viel mehr ist und ich noch lang brauche, um zu verstehen, was es ist. Und je öfter ich so fühle, um so mehr erkenne ich das Wesen der Quelle, die so viel ist, dass es nicht nur meinen Verstand, sondern jeden, sogar Arimas Verstand, überfordert. Aber wir haben noch eine Möglichkeit, nämlich uns auf das konzentrieren, was wir sind – Energie. In ihr steckt mehr als Verstand oder Gefühl oder Intuition. Aber in all den Jahrhunderten unserer menschlichen Existenz haben wir vergessen, auf diese Wahrheit zuzugreifen.



Selmas Begegnung mit Gaia hat wohl auch sehr viel dazu beigetragen, um Arima immer mehr zu vertrauen. Abram stimmt ihm vollends zu. Und ich wohl auch.

Es geht ja nicht darum, eine immerwährende Evolution anzustreben, sondern einen Zustand, in dem alles möglich ist – Individualität, wie auch Einheit mit allem. Ein Zustand (genau für diesen Zustand sind Doppelwesen notwendig!), der mich heute noch Gehirnsalti schlagen lässt, da er so unvorstellbar ist und sich selbst widerspricht. Aber ich kann fühlen, dass er möglich ist und dass dies ganz im Sinne (natürlich metaphorisch gesprochen) der Quelle ist, denn es muss einen Grund (ja, wir Menschen suchen ständig einen Grund, auch wenn es manchmal gar keinen gibt...) geben, dass sie sich öffnet und sich in wunderbaren, wie auch erschreckenden Formen zeigt, denen bewusst ist, dass sie individuell existieren. Noch fühlen wir uns getrennt von allem, vor allen von ihr, der reinen, unverwundbaren Quelle der Kraft, aber einst wird uns die ewige Verbindung mit ihr und die Einheit mit allem bewusst sein.



Selma erzählte mir kaum etwas von Gaia. Sie war fasziniert von ihrem Aussehen, von der Art, wie sie sprach – so sanft und immer lächelnd. Selma sagte, sie habe Liebe gefühlt und so etwas wie ständiges Verzeihen. Es muss wohl so sein, denn was wir ihr angetan haben, kann nur ständiges Verzeihen oder absolute Zerstörung auslösen. Gaia verzieh, denn auch sie kennt kein Gut und kein Böse, nur das, was authentisch für sie ist – Liebe und ständiges Verzeihen. Vielleicht werden diese Zeilen ein wenig zum Nachdenken anregen, denn die liebevolle Verbindung mit Gaia ist energetisch mehr als erstrebenswert. Sie bringt mehr als Profit und ein luxuriöses Leben, auch wenn wir uns, wenn wir auf unsere Selbst, auf die Quelle hören, nicht mehr fragen, was für uns heraus springt.


Es mag verwirrend sein, wenn Wesen der Anderen Seite sich für Veränderung statt Stagnation entscheiden. Sie tun es, - zumindest einige von ihnen, wie etwa der vierarmige Shiran, der schwarz geflügelte Mephan und die schöne Sitira.

Zu den anderen Wesenheiten hatten wir lange keinen Kontakt, die ebenso zu Arimas „Armee“ gehören. Anfangs dachten wir ja, es seien Auserwählte wie wir, da sie wie Menschen aussahen und uns keine besonderen Merkmale wie bei unseren Wohltätern auffielen. Die meisten sahen unscheinbar aus, als würden sie schon immer hier leben und ihre Häuser und Gärten und die Umgebung pflegen. Ich sah sie meistens irgendwo herum gärtnern; manchmal mit Werkzeug, aber öfter indem sie ihre Hände über das Gras wandern ließen und es auf diese Art wachsen und wie so nebenbei prächtige Blumen sprießen ließen.

Meine Nachbarn zur linken Seite fielen mir als Paar wie Selma und ich auf, als ich das erste Mal neugierig auf die anderen Wesen hier war. Es geschah wie von selbst. Nicht, dass ich plötzlich Langeweile empfand und etwas Neues in mein Leben lassen wollte, wie das bei Menschen so oft der Fall ist, - nein, ich hatte genug zu tun, aber irgendetwas machte mich auf dieses Paar und schließlich auf auf die anderen Wesen hier aufmerksam.



Wir leben in einem größeren Dorf, könnte man sagen, in dem es gut an die 50 Bauten unterschiedlicher Art gibt – Bungalows, einfache Familienhäuser, wie es sie damals, vor vielen Jahren einmal gab, oder prunkvolle Villen, die an Schlösser erinnern und schließlich auch kleine Schlösser, wie auch eine Burg, die imposant auf einer grünen Anhöhe steht, die von einem Wassergraben umschlossen ist. Die dazugehörige Zugbrücke ist jedoch immer herunter gelassen, sodass jeder Zugang hat.


Das Klima hier erlaubte uns, die meiste Zeit im Freien oder eben auf der Veranda, wie auch im Garten (manche hatten sogar einen Swimmingpool im Garten!) zu verbringen. Ich schlief noch immer gerne auf der Veranda unterm Sternenhimmel, auch wenn Selma mich belächelte und meinte, die Sterne seien ohnehin nicht echt, sondern von Wesen der Anderen Seite her gezaubert, so wie alles hier.

„Was ist schon echt, Selma? Solange die Evolution nicht vollkommen abgeschlossen ist, ist nichts echt und darin habt ihr, du und Sila, absolut recht.“

„Ihr missversteht Sila total, denn sie ist nicht strikt gegen...“

„Ich weiß, dass sie das nicht ist“, unterbreche ich Selma. „Sonst wäre sie ja nicht hier. Lass uns mal über etwas anderes reden und nicht immer über den bevorstehenden Kampf, der gar keiner ist.“

„Und worüber?“ fragt sie langgezogen und streckt sich auf der Liege in unserem Garten aus.

„Über unsere Nachbarn zum Beispiel, oder über die anderen menschlichen Wesen, die hier leben.“

Wie von einem Insekt gestochen richtet sich Selma auf.

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, meint sie eifrig, „und ich habe mich bereits mit manchen von ihnen unterhalten.“

Wie immer ist sie mir Schritte voraus.

„Worüber hast du dich mit ihnen unterhalten und vor allem – mit wem?“

„Na ja, - mit einigen, wie zum Beispiel mit der Frau gegenüber – die Dünne, mit dem langen, weißen Haar. Sie nennt sich Urmutter und ist angeblich eine Verwandte von Gaia. Übrigens, Gaia ist manchmal zu Besuch bei ihr. Ich habe sie mir also nicht nur eingebildet.“

„Das hat doch niemand gesagt, Selma!“

„Gesagt nicht, aber gedacht hast du daran. Gib es zu, Paolo!“



Ich muss gestehen, dass ich kurz daran gedacht habe, weil es mir etwas zu abgeschmackt vorkam. In nicht allzu vertrauenswürdigen Büchern (meist Religionsbücher), wie man uns in der Stadt nahelegte, ist von der Göttin Gaia und vielen anderen so genannten Göttern die Rede, also nahm ich an, dass Selma eventuell doch halluzinierte, da unsere Aufgaben, vor allem die geistigen Reisen zu unseren Aspekten (ich wüsste nicht, wie ich es sonst nennen könnte) besonders viel mentale Kraft kosten und es da durchaus vorkam, dass wir plötzlich Dinge sehen, die nicht wirklich da sind.

Ja, das soll es auch geben – Dinge, die nicht wirklich da sind, es sei denn, die Botschaft ist nur für den, der sie sieht und sonst niemand. Es ist also nicht einfach, zu unterscheiden, aber bald lernten wir das so genannte „Energie sehen“, was es uns leichter machte zu erkennen, ob etwas „echt“ oder „unecht“ ist. Immerhin gibt es, laut Arima, Sphären und Dimensionen, in denen sich alle Gedanken materialisieren. Vielleicht komme ich noch auf dieses sehr sensible Thema zurück.

„Ich habe mich mit ihnen über uns Menschen unterhalten“, erzählt Selma weiter, „und sie gefragt, ob es unten im Bergdorf noch welche gibt und wie es hinter der Kluft aussieht. Sie sagten, im Bergdorf leben noch einige Menschen und es sind, nachdem Viggo und Rike gestorben sind, welche in ihr Haus eingezogen. Es sind keine Zuwanderer, sondern die Kinder von Menschen, die im Dorf leben.

Solange es noch Kinder gibt, meinte die Urmutter, wird es dort Menschen geben. Es sind die letzten Menschen, da es hinter dem Erdspalt, wie sie die Kluft nennt, keine mehr gibt. Sie drückte es so seltsam aus, indem sie meinte: 'Im Wesen nichts Neues'. Ich musste lachen, aber sie hat ja recht. Wir lebten einst im Westen und das hier ist der Osten, der Erdteil, in dem noch immer täglich die Sonne aufgeht.“
 
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