Im Westen nichts Neues (Das letzte Buch)

Nach diesem Gespräch kreisten meine Gedanken um das Thema, woher all das Wissen kam und vor allem, wie lange die Menschen schon in derartig abgeschirmten Ballungszentren leben. Man sagte uns in den Schulen stets, es sei schon sehr lange her, seit dem letzten Krieg. Viggo meinte, er habe als Kind den Krieg noch erlebt, aber vielleicht täuscht er sich und es waren bloß einige Menschen, die mit Waffengewalt über die Stadtmauern wollten. Rike hingegen meinte, sie, wie auch ihre Eltern, die sie, wie ich, in der Stadt zurück gelassen hat, nicht einmal ihre Eltern können sich an so etwas wie Krieg erinnern.

Rike sagte, ihre Eltern, die bereits an die 100 Jahre alt sind, werden ihr Verschwinden nicht überleben. Sie erwähnte das so nebenbei, als würde es sie kalt lassen. Mir hingegen kamen wieder die Tränen, da ich an meine Eltern denken musste.



Meine Gefühle spielten ohnehin verrückt. Es war mit Injektionen schon schlimm genug, da ich mich über alles möglich aufregen konnte und jetzt war es doppelt so schlimm. Es war ein ständiges Auf und Ab. Mal war ich überglücklich, es geschafft und mich auf ein Abenteuer eingelassen zu haben, dann war ich wieder todtraurig und wollte am liebsten liegen bleiben und auf der Stelle sterben. Ich war wohl der einzige in unserer Runde, der solche Schwierigkeiten hatte.

Viggo und Rike waren kühl wie immer. Die anderen drei, die sich zu uns gesellt haben, kannte ich zu wenig und sie ließen es auch nicht wirklich zu, kennen gelernt zu werden. Auch wenn sie sofort mit ihrem Ziel heraus rückten, so blieben sie während der gesamten Reise eher schweigsam.

Am schweigsamsten jedoch war Selma. Sie ging stets alleine voraus und blockte jedes Gespräch ab. Sogar mit Viggo sprach sie kaum mehr. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie war eifersüchtig, da er sich mehr um Rike kümmerte, aber das konnte es auch nicht sein, da mir Selma dazu viel zu gefühlskalt erschien. Sie würde sich doch niemals in einen Menschen verlieben, so wie ich mich in sie verliebt hatte. Jetzt war nicht einmal mehr Händchen halten drinnen. Wenn ich es versuchte, schubste sie meine Hand weg.



Als ich wieder einmal versuchte, mit ihr ein Gespräch zu beginnen, wurde sie ein deutlicher und ich wünschte mir etwas später, sie wäre es nicht gewesen.

„Glaubst du wirklich, auf der anderen Seite der Kluft leben andere Menschen?“ fragte sie mich.

„Man erzählt es sich so. Du hast selbst von den friedlichen Tempelmenschen erzählt. Oder war das Viggo, der es mal in den Lagern aufgeschnappt hat? Egal, es muss sich um andere Menschen handeln, sonst hat unsere Reise nichts gebracht. Dann hätten wir auch gleich bleiben können“, gab ich zur Antwort und freute mich, wenigstens einen Satz aus ihr heraus bekommen zu haben.

„Was meinst du eigentlich zu dem Thema, woher wir all das Wissen haben und wann der letzte Krieg war?“

„Krieg war und ist immer, da sich die Menschen stets gegenseitig bekämpfen. Deshalb sollten wir vorsichtig sein, wenn wir anderen Leuten begegnen“, sagte Selma und warf mir einen kurzen Blick zu, den ich nicht deuten konnte.

„Und das Wissen?“ fragte ich. Es dauerte einige Schritte, bis Selma mir eine Antwort gab,. Es war, als würde sie mit sich kämpfen, ob sie weiter sprechen sollte oder nicht.

„Das kam von Außerirdischen, die uns in ihrer Macht haben. Sie machen, dass wir das tun, was wir tun.“

Ich blieb stehen und hielt Selma am Arm zurück, wo sie sich sofort wieder los riss. Diesmal war ihr Blick ziemlich finster, um sogleich wieder die puppenartige Maske aufzusetzen.

„Sag das noch einmal, Selma!“

„Es ist wahr und ich weiß es schon die ganze Zeit“, sprudelte es auf ihr heraus. Viggo und Rike hatten uns eingeholt und auch die anderen drei gesellten sich zu uns dazu, während Selma mich schwer atmend anstarrte.

„Was weißt du schon die ganze Zeit?“ fragte ich und die anderen umringten uns neugierig.

„Natürlich weiß ich es nicht genau, aber ich habe schon so viele Menschen davon sprechen hören, die meinten, dass sie niemals in die Städte rein gehen würden, weil die Menschen dort von Außerirdischen überwacht werden und sie durch irgendwelche Mitteln zwingen, das zu tun, was sie tun. Nur wenige können sich dem entziehen, wenn überhaupt. Schaut euch doch an, du, Paolo, Viggo und Rike. Wisst ihr überhaupt, warum ihr aus der Stadt geflohen seid? War ich es, die euch dazu ermutigt hat? Oder war es Paolo? Denkt nach und dann sagt mir, warum ihr euch auf diese Reise gemacht habt.“

Viggo und Rike sahen sich groß an.

„Es war wohl die Ungerechtigkeit“, meinte Rike schließlich und Selma lachte hell auf.

„Was meinst du mit Ungerechtigkeit? Denkst du, weil die Menschen in den Städten ein besseres Leben haben als jene hinter den Stadtmauern? Ihr habt gar nicht bemerkt, dass ihr bisher wie Roboter gelebt habt. Sogar du, Viggo, hast unbewusst dieses Spiel mitgemacht, das euch aufgezwungen wurde. Und ja, ich ebenso. Und ihr ebenso, Abram, Sam und Lea, obwohl ihr nie, laut eurer Aussage, in einer Stadt gelebt habt. Die Außerirdischen haben uns alle unter ihrer Kontrolle. Sie sind in unseren Köpfen und machen, dass wir das tun, was sie wollen. Egal, was wir tun, sie wissen es.“


Vergangenheits- und Gegenwartsform mögen sich sporadisch abwechseln. Manches ist mir, als würde ich es eben jetzt noch einmal und sogar wie zum ersten Mal erleben. Anderes, das mir genauso fest in Erinnerung geblieben ist, wie ich schon einmal schrieb, wäre mir lieber gewesen, es nicht zu erleben, es nicht zu wissen, wie in diesem Moment, als Selma mir von den Außerirdischen berichtete.

Es war etwas dran, das wussten wir alle, denn die Menschen hatten keinen Grund mehr, etwas zu erfinden oder gar zu lügen. Gewiss, manche Notlügen blieben uns erhalten, aber so etwas, einfach Außerirdische erfinden oder uns damit zu erschrecken, gab es nicht mehr.



„Wer erzählte dir das?“ fragte Abram, der während der letzten Tage um Selma buhlte, was mich etwas nervös machte.



Dazu möchte ich erwähnen, ich hatte nie wirklich vor, Selma zu meiner Ehefrau zu machen. Ich hatte noch keine Erfahrungen mit Frauen, weshalb ich es ohnehin vermied, ihr zu nahe zu treten. Wenn sich unsere Hände berührten, wir uns an den Händen einander festhalten, was sie ohnehin nicht mehr zuließ, das war schon das höchste der Gefühle. Niemals hätte ich gewagt, sie küssen, wie das Viggo und Rike taten, als ich sie letzte Nacht zufällig beobachtete.


Vielleicht sollte ich kurz darüber schreiben, da ich ziemlich glücklich für die beiden war, denn Viggo bemühte sich schon sehr lange um die „eiskalte“ Rike. Er nannte sie einmal „eiskalt“, als wir noch in der Stadt lebten. Wir beide saßen auf dem Balkon seiner Wohnung, als er mir einiges über sein Leben erzählte, darunter auch, dass er Arzt werden wollte, aber das Studium aufgab, da er dafür zu sensibel sei und bei den kleinsten Wunden ohnmächtig wird. Ich musste damals über ihn lachen, da ich ihn stets für einen ziemlich harten Kerl hielt. Viggo war das typische Beispiel für raue Schale, weicher Kern. Er sagte dann auch, dass er Rike bewundere, weil sie nicht einmal mit einer Wimper zuckt, wenn man ihr Verletzte bringt und deshalb ist sie auch anderweitig eiskalt. Damals gestand er mir, dass er schon lange ein Auge auf sie geworfen habe. Jetzt endlich schien sein Wunsch in Erfüllung gegangen zu sein.

Als ich nun letzte Nacht munter wurde, weil ich Wasser lassen musste, ging ich ins Gebüsch, hinter dem ein Bach dahin plätscherte. Das Plätschern war schließlich nicht das einzige, was ich hörte. Es war da noch Viggos eindringliche Stimme und Rikes leises Lachen. Sie kühlten sich im Bach ab, weil es diese Nacht ziemlich warm war. Über ihnen stand der volle Mond, weshalb ich sie erkennen konnte. Sie hielten sich an den Händen und neigten langsam ihre Köpfe einander zu. Dann geschah es. Ihre Lippen berührten sich und dann war es um beide geschehen. Sie krallten sich ineinander, stürzten in den Bach und ließen ihren Leidenschaften freien Lauf.

Ich sah nicht weiter zu, dazu hatte ich viel zu viel Respekt vor den beiden. Das war ihre Privatsache und sollte es auch bleiben. Da hatte kein dritter ein Recht, ihre Gefühle zu verunreinigen. Zweisamkeit muss immer Zweisamkeit bleiben. Also suchte in der anderen Richtung ein Gebüsch und erleichterte mich.
 
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Ich weiß nicht ob ein Kommentar hier erlaubt ist, da ich noch relativ neu bin.

Ich möchte dir - @Serenade - aber gern sagen das ich diese Geschichte hier mit sehr viel Freude und Spannung verfolge.
Sie macht mich nachdenklich und ich bin gespannt wie sie dann letztendlich enden wird.
 
Jeder Kommentar, wie auch jede Kritik, ist willkommen und sogar erwünscht, liebe Alaera.

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Nun aber weiter zu der Szene, als der junge Abram Selma fragte, woher sie wisse, dass Außerirdische uns unter Kontrolle haben.

„Es war jemand in der Stadt. Rike kennt sie auch. Eine Chemikerin“, stammelte Selma, da sich Abram ihr zu sehr näherte und sie in diesem Moment an den Schultern packen wollte. Mir entkam ein Lächeln, als sie ihre Arme hob und sich gegen diese Berührung wehrte.

„Ich kenne sie? Wer denn?“ mischte sich Rike ein und schubste den Jungen weg.

„Die große Rothaarige. Ich habe damals während der Mittagspause mit ihr gesprochen. Das war das einzige Mal. Und damals sagte sie, dass uns seltsame Wesen, die nicht von diesem Planeten sind, in ihrer Macht haben.“

„Was spielt es denn für eine Rolle? Wir gehen trotzdem weiter und sollten endlich zu dieser Kluft kommen. Und wir sollten uns langsam Gedanken machen, wie wir die Kluft überwinden,“ meinte Viggo, der mal wieder praktisch dachte!



Es passierte nicht viel unterwegs, was es wert wäre, erwähnt zu werden. Die meisten Tiere, die es noch gab, schienen sich vor uns zu verstecken. Und an die Bäume und andere Pflanzen hatten wir uns bald gewöhnt. Die Landschaft wurde hügeliger, bis irgendwann am Horizont schroffe Felsen auftauchten, die uns zum Glück den Weg nicht versperrten.

Die nächste Sorgen war, ob unsere Nahrungspillen reichen, denn durch unsere drei neuen Freunde, gingen sie schneller zur Neige. Aber sie reichten, sonst würde ich nicht hier sitzen und über unsere Reise schreiben.



Wir standen vor der Kluft und hielten den Atem an. Es war ein unbeschreiblicher Anblick, und ich glaube, es waren noch nicht viele Menschen in der Lage, direkt davor zu stehen und in den schier bodenlosen Abgrund zu blicken. Es brodelte wirklich da unten und wir mussten da hinunter steigen.

Während der Wanderung sprachen wir über Möglichkeiten, die Kluft zu überwinden. Es war dann wieder Viggo, der zuerst einen Spaß machte und vorschlug, wir sollten warten, bis ein Riesenvogel vorbei kommt, ihn fangen und zähmen und der soll uns dann einen nach dem anderen hinüber fliegen. Der nächste Vorschlag war plausibler, nämlich so weit nach unten zu klettern, bis die Entfernung zur gegenüberliegenden Wand so gering ist, um sie irgendwie zu erreichen. Sei es durch einen waghalsigen Sprung oder mit Hilfe eines Seils.

Aber zuerst mussten wir, im wahrsten Sinne der Worte, in die Hölle hinab steigen.


Bevor wir hinab steigen, möchte ich noch einmal einiges aus meinem frühen Leben Revue passieren. Es fällt mir nicht leicht, all das mit Worten darzustellen. Es war für mich alles viel zu emotional, obwohl ich als Stadtmensch darüber erhaben hätte sein müssen. Ich war eine Ausnahme, eine Ausnahme, die auf gewisse Injektionen nicht ansprach.



Es ist, als würde jeder von uns ganz für sich alleine vor dem klaffenden Abgrund stehen; als würde jeder einzelne von uns in sich selbst hinein blicken. Die Tiefe der Psyche. In uns brodelt es genauso wie tief unten in der Kluft, vor der wir stehen. Ganz weit drüben, es mag mehrere hundert Meter weit sein, liegt unser Ziel, für das wir erst hinunter und dann wieder hoch klettern müssen.

Ich weiß nicht, wie die anderen, wie Selma, Rike, Lea, Viggo, Abram und Sam, diese wenigen Minuten erlebt haben, aber für mich war es wie ein Blick in mich selbst und schließlich das Wagnis, mich mit mir selbst einzulassen und bis zum beinahe tiefsten Punkt meiner Seele hinab zu steigen, um wie Phönix aus der Asche neu geboren wieder empor zu fliegen. Möge es ein Flug nach oben und nach drüben sein.



Ich wuchs so sehr geborgen auf, mit der Liebe einer Mutter, wie sie sich wohl jedes Kind wünscht. Es war freilich, weil sie wusste, und natürlich hatte auch mein Vater ständiges Nachsehen mit mir, dass ich ihr einziges Kind in diesem Leben sein werde, dass sie nie wieder eine Niederkunft haben wird und ich deshalb ihr einzig wichtiger Schatz, ja sogar ihr Kronjuwel, war.

Mein Zimmer alleine war das eines Palastes. Wie einem Prinzen wurde mir jeder Wunsch erfüllt. Strafen gab es nie, wohl kleine Rügen, dass man dies oder jenes nicht tut, weil das anderen weh tun könnte. Ja, genauso waren meine Eltern. Immer besorgt um die anderen. In gewisser Weise waren sie wirklich selbstlos und ganz anders als die meisten in der unteren Stadt, die sich als was besseres fühlten und die Menschen in der oberen Stadt nieder machten, wo sie nur konnten. Und doch waren die Menschen oben für alles dankbar. All das bekam ich gar nicht wirklich mit. Ich lebte geborgen sorgenlos und glücklich, ohne mir jedoch dessen bewusst zu sein. Es gab zwar einige Vergleiche, wie später meine Schulfreunde, aber ich kümmerte mich nicht wirklich darum. Erst später, als wir die Reife erlangten, unterhielten wir uns über die Schulzeit und die Strenge unserer Eltern, von der ich rein gar nichts berichten konnte.

Meine Eltern waren nie streng. Sie waren, man kann es mit einem einzigen Wort ausdrücken: liebevoll. Sie waren voller Liebe und das war und ist das einzige, das in mir zurück blieb. Wenn ich heute an sie denke, quillt mein Herz vor Liebe über. Es ist nicht meine Liebe, die ich empfinde, es ist ihre, die sie mir in all den Jahren, in denen ich bei ihnen war, geschenkt haben. Und ich weiß, dass sie verstanden haben, warum ich weg musste, denn ich habe ihnen einen kleinen Brief hinterlassen und ich wusste, dass meine Mutter ihn finden wird. In diesem Brief haben ich ihr, wie auch Vater – ich nannte sie „meine geliebte Mutter, mein geliebter Vater“, denn ich liebte sie ja ebenso, wenn auch nicht mit dieser Inbrunst und da bin ich mir absolut sicher, wie sie mich – über meine Beweggründe zu gehen, berichtet. Sie werden verstanden haben, dass mir diese Ungerechtigkeit nicht behagt und ich so nicht weiter leben kann, da mein Leben sonst eine Lüge wäre. Ich schrieb auch, wie dankbar ich ihnen bin für die unbeschwerte Kindheit und Jugend, die sie mir geschenkt haben. Ich schrieb über den Schock, den ich erlitten habe, als ich von Viggo, Rike und auch Selma erfahren habe, was mit den Menschen draußen vor den Mauern passiert und dass es da draußen überhaupt arme, hungernde Menschen gibt. Ich wusste ja nichts, schrieb ich, ich wusste nicht, wie viel Leid Menschen anderen Menschen antun können. Jetzt wisse ich es und ich weiß auch, meine heiß geliebte Mutter, - schrieb ich, dass du in der letzten Zeit sehr wohl gespürt hast, dass etwas nicht mit mir stimmt.

Ich weiß nicht, ob es richtig war, einfach sang- und klanglos zu verschwinden. Vielleicht hätte ich meine Eltern einweihen sollen. Sie wären nicht mit uns gegangen, dessen bin ich mir sicher. Aber ich hätte mich innig von ihnen verabschieden können.

Ich sehe schon eine gewisse Schuld meinerseits, oder eher ein schlechtes Gewissen meinen Eltern gegenüber, die wie das tief liegende Feuer in diesem brodelnden Schlund lodert, das mir Angst macht. Nur ein falscher Schritt in den Abgrund und ich verbrenne da unten. Ich muss zu mir stehen, fest auf beiden Beinen stehen. Keine zaghaften Schritte machen, sondern sicheren Halt suchen, dort, wo eigentlich gar kein Halt ist.

Im Grunde genommen passierte nicht viel Erwähnenswertes während unserer Reise. Nichts, was ich mit Worten ausdrücken könnte. Unsere Kleidung war mangelhaft, vor allem das Schuhwerk, was uns allen blutige Füße einbrachte. Wir hatten abwechselnd (nicht zu hohe) Fieberschübe, Zahnschmerzen und viele andere Wehwehchen, wie sie auf einem Pilgerweg üblich sind. Es war ein Pilgerweg, vor allem der Abstieg, wo es nach unten zu immer wärmer und schließlich so heiß wurde, dass wir Atemnot hatten. Wir klagten, jammerten, weinten laut, fluchten, hatten sogar heftige Zornausbrüche, dass Viggo einmal fast in die tiefe, brodelnde Schlucht gestürzt wäre.
 
Aber all das ist nicht der Rede wert. Ich kann wirklich nicht mit Worten beschreiben, was während dieser zwei Jahre mit uns allen passierte. Nicht, dass wir andere Menschen geworden wären, vielleicht aber ein bisschen dankbarer und in sich gekehrt. Man kann sagen, in diesem Jahr erkannten wir, wie kostbar das Leben wirklich ist. Wir wussten plötzlich, was Schmerz, Hunger und Durst bedeuten.

Einzig und allein Selma blieb ruhig. Vielleicht weinte sie ein oder zwei mal und wenn, tat sie es im Verborgenen. Ansonsten hielt sie sich von uns fern, wenn mal wieder einem von uns alles zu viel wurde und Dampf ablassen musste. Sie ging meistens voraus und auch bei den Klettertouren war sie stets die erste, die einen gang- oder kletterbaren Weg fand.

An manchen Stellen hinab, wie auch hinauf, sah es so aus, als hätte jemand Stufen in den Felsen gehauen. Es gab Nischen und kleinere Höhlen im Fels, in denen wir übernachten oder uns ausrasten konnten. Auf jeden Fall war das bisher die schlimmste Route unserer Reise. Das Klettern nach oben war bereits eine Wohltat, obwohl uns allen (Selma vielleicht nicht und wenn, zeigte sie es nicht) alle Muskeln weh taten.

Wir mussten lange nach unten klettern, bis wir an eine Stelle kamen, wo die gegenüberliegende Wand vielleicht drei Meter entfernt war und wir ein Seil bis zu einer vorspringenden Felsspitze warfen, an dem wir uns schließlich wie mit letzter Kraft hinüber hantelten. Selma natürlich voraus, denn sie war es auch, die zielsicher das Seil warf, während Viggo und anschließend Sam es vergeblich versucht hatten.

Das Gefühl nach oben zu klettern, wo die Luft Schritt für Schritt leichter zu atmen war, war unbeschreiblich und als wir uns (alle außer Selma, denn sie stand aufrecht und blickte zum Horizont, wo sich ein gewaltiges Gebirge auftürmte) oben angekommen, auf der anderen Seite, hysterisch lachend im dunklen Sand wälzten, schien die Welt eine andere geworden zu sein.

Erst nach Stunden, obwohl Selma uns drängte, da sie in der Ferne so etwas wie Häuser ausmachte, brachen wir auf und gingen langsam weiter. Wir waren irgendwie berauscht, als wäre alles nicht wahr, als würden wir träumen und bald aufwachen und wieder in der Stadt sein. Erst jetzt, als wir es geschafft und die Kluft überwunden hatten, tauchte dieses seltsame Gefühl in uns allen (bis auf Selma, die sich nicht dazu äußerte) auf. Wir zwickten uns sogar gegenseitig, um dadurch zu erkennen, dass wir nicht träumen.


Die Landschaft veränderte sich zusehends. Während wir vor der Kluft, durch hügeliges Gelände mit saftigen Wiesen, verschiedenen Bäumen, darunter herrliche Obstbäume (deren Früchte wir immens genossen haben) und nur über wenig Gestein wanderten, wurde es jetzt zunehmend felsiger und wenn es grasig war, erschien uns das Gras eher borstig und dick. Bäume sahen wir keine mehr und vor allem gingen wir ständig nur mehr bergauf und sahen kaum mehr den Horizont, da uns das gewaltige Gebirge bald umrundete. Wir gingen ja auch immer weiter in die felsige Landschaft hinein, bis wir an einem der letzten Grashalme vorbei kamen.

Diesmal schienen wir am Ende zu sein, da sich nicht nur die Landschaft dramatisch verändert hatte, sondern auch das Klima. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee. Und nicht nur ich, sondern wir alle. Jenseits der Kluft war also das berühmte Winterland, von dem ich einst als kleiner Junge in einem Buch gelesen hatte. Kalt, gebirgig und mehr als abweisend. Wir schienen am Ende zu sein, da uns allen (sogar Selma) sehr, sehr kalt war und wir keine dementsprechende Kleidung hatten. Die Decken waren alle bereits zerschlissen und wärmten uns kaum. Barfuß und in Fetzen gekleidet schleppten wir uns dahin und warteten nur mehr auf den Erfrierungstod. So weit hatten wir es geschafft, waren so glücklich darüber und jetzt das!



Neben mir knisterte und roch es nach Rauch. Ich spürte Wärme und einen weichen Boden unter mir. Als ich die Augen öffnete, war es, bis auf das Feuer im Kamin, finster. Ich lag auf einer Matratze, die auf einem Holzfußboden lag. Rechts neben mir war noch eine Matratze. Links war die Mauer, die sich kalt anfühlte. Ich hörte Viggo husten. Er lag wohl auch auf einer Matratze, so wie Rike und Lea, die sich, wie Selma neben mir, im selben Raum befanden. Torkelnd suchte ich nach dem Ausgang und fand ihn in Form eines Vorhangs über einer runden, nicht all zu hohen Öffnung. Ich musste meinen Kopf einziehen. Der nächsten Raum wurden von Kerzen erhellt, die auf einem Tisch und am Bord eines Schrankes standen. Am Tisch saß eine kleine, ziemlich dicke Frau und ein, im Vergleich zu ihr, eher schmächtiger und ebenso kleiner Mann. Beide waren schon älter und von dunklerer Hautfarbe. Sie trugen beide lange Kleider, darunter Hosen und seltsame Schuhe, die anscheinend aus Filz gemacht waren. Auf dem Kopf trugen sie Hauben mit Lappen, die über beide Ohren gingen. Die dicke Frau erhob sich schwerfällig und zeigte mit der offenen Hand auf den Raum rechts von mir. Sie sagte etwas, aber ich verstand ihre Sprache nicht. Also nahm sie meine Hand und führte mich zu einem weiteren Vorhang, den sie kurz öffnete, damit ich sehen konnte, dass unsere zwei anderen Begleiter, Abram und Sam, geborgen auf Matratzen neben einem weiteren Kamin schliefen.


Die Frau führte mich an der Hand an den Tisch. Es war ein runder Tisch, mit mehreren Stühlen. Auf einem drückte sie mich nieder, während der Mann zu einem Ofen ging und aus einem großen Topf etwas in eine kleine Schüssel schöpfte. Es war eine heiße Suppe, mit so etwas ähnlichem wie Brotstücke darin, die gar nicht so übel schmeckte. Dazu reichte mir die Frau einen Becher mit weißlicher Flüssigkeit, die nur lauwarm war. Ich kostete davon und als ich das Zeug im Mund hatte, hätte ich es am liebsten in weitem Bogen ausgespuckt. Es schmeckte derart salzig, dass mir fast schlecht wurde davon, aber die Frau deutete an, dass ich es unbedingt trinken solle.



Im Laufe des Tages kamen die anderen, einer nach dem anderen aus den Schlafräumen, bis wir schließlich alle sieben am Tisch versammelt waren. Selma sah aus wie immer und schien sich über unsere Rettung nicht zu wundern. Lea und Rike verbeugten sich dankend hundert mal vor den beiden Leuten und versuchten ihnen zu erzählen, woher wir kommen. Aber die beiden verstanden unsere Sprache genauso wenig, wie wir ihre. Ich wusste gar nicht, dass man hinter der Kluft anders spricht als in den Städten der Ballungszentren. Hier schien wirklich alles anders zu sein.

Nach dem Essen, was bloß aus der Suppe und dem salzigen Trank bestand, wollten wir ins Freie. So, wie wir waren – dünne, zerschlissene Hosen, barfuß und Leibchen, mit dünner Jacke darüber. Sofort hielten uns die beiden davon ab, indem sie sich vor die Haustür stellten und mit ihren Händen herum fuchtelten. Schließlich ging der Mann mit uns in einen Raum, der wahrscheinlich das Schlafzimmer der beiden war, da ein großes Bett mitten darin stand und an beiden Wänden, vor dem Bett und gegenüber der Tür, große Kästen standen. Auf dem Bett lag auf einer bunten Überwurfdecke jede Menge warme Kleidung und vor dem Bett Schuhwerk, wie ich es noch nie gesehen hatte. Jene Schuhe, die ich anprobierte, gingen mir bis zu den Knien. Sie waren innen mit Fell gefüttert und waren trotz des festen Leders angenehm zu tragen. Natürlich passten sie nicht ganz, - meine waren etwas zu groß, was ich aber ausgleichen konnte, indem ich ein paar Socken mehr anzog. Schlimm war es nur für Viggos große Füße, denn für ihn waren alle Schuhe – man nennt sie Stiefel – zu klein. Am besten aber gefielen mir die Kopfbedeckungen, diese Hauben, die spitz nach oben gingen und seitlich für die Ohren diese Lappen hatten.
 
Wir befanden uns in einem kleinen Bergdorf, aus vielleicht zehn oder zwölf Häuser. Ich stand neben Sam, als wir das schneebedeckte, kalte Dorf besichtigten, aus dessen Häuser uns neugierige Augen beobachteten. Zwei Frauen kamen aus einem der Häuser und winkten uns zu, worauf sie sich wieder zurück zogen. Sie waren auch so klein wie unsere beiden Retter. Es schien also ein eher kleines Volk hier in den Bergen zu geben.

„Ich glaube, ich kann ihre Sprache einigermaßen verstehen“, sagte Sam zögernd und weiße Rauchfahnen kamen aus seinem Mund vor lauter Kälte. Es fehlte nicht viel und sein Atem wäre gefroren gewesen.

„Das heißt nicht, dass ich alles verstehe, aber ich habe einige Worte wieder erkannt“, meinte er schnell. „Auf meinen Reisen von Stadt zu Stadt, lernte ich eine Frau kennen, die so ähnlich sprach.“

Wir blieben nicht lange draußen, da es, trotz warmer Kleidung, einfach zu kalt war. Schließlich versuchte Sam mit einem seltsamen Gestammel, die beiden Leute, die uns so nett aufgenommen hatten, nach den Menschen in den Bergen zu befragen, von denen es bei uns eine Art Legende gibt. Die beiden sahen sich an und zuckten mit den Schultern. Es schien doch nur eine Phantasiegeschichte zu sein.

„Es ist sicher keine Phantasiegeschichte“, gab Lea mir zurück. „Ich habe von drei älteren Menschen gehört, dass es das wundervolle Volk über den Bergen wirklich gibt, aber nur wenige bekommen sie zu Gesicht. Man muss auserwählt sein.“

Viggo konnte das Lachen nicht zurück halten. Es klang bitter.


„Das ist ja noch abstruser als die Geschichte von den Außerirdischen“, meinte er noch immer grinsend.

„Auch das soll stimmen“ bestand Lea darauf. „Es sind Wesen, die ganz anders aussehen als Menschen. Na ja, nicht ganz anders, aber eben doch anders, welche die Auserwählten zum wundervollen Volk bringen.“



Ich war in diesem Moment irgendwie verwirrt, weil ich ohnehin nicht glaubte, dass in diesen hohen Bergen, in dieser unmenschlichen Kälte ein Volk leben sollte. Bei mir war es doch nur der Wunsch, einfach fort von den skrupellosen Menschen, die sich gegenseitig so mies behandeln. Erst jetzt, in diesem von Kerzen erleuchteten Raum, am runden Tisch mit den Menschen, mit denen ich an die zwei Jahre durch Himmel und Hölle ging, wurde mir bewusst, dass ich überhaupt kein Ziel hatte. Es war einfach nur weg. Sonst nichts. Und nun war ich weg. Und wie! Aber ich schien nicht der einzige zu sein, dem bewusst wurde, was mit uns geschehen war.



Viggo und Rike entschlossen sich dazu, im Dorf zu bleiben. Am Ende der Gasse, die höher in die Berge hineinführte, war ein Haus frei geworden. Die beiden wussten, dass ihnen ein hartes Leben bevor stand, besonders im Winter, wo die Temperaturen bis zu 30° herab fielen. Aber die Sommer waren prächtig. Der kahle Boden bedeckte sich von heute auf morgen mit saftigem Gras, das zwar etwas borstiger war, wie jenes, das wir von der darüber liegenden Seite der Kluft kannten, aber die Buntheit der Blumen und Blüten der unzähligen Sträucher war eine Wucht. Es war dann auch die Zeit, an Vorrat zu denken, da diese Zeit nicht sehr lange andauerte.

Selma, Abram und ich wissen das, da wir die beiden einige Male zur Sommer- und Erntezeit besuchten und wir ihnen natürlich beim Einbringen von Gemüse und Obst halfen. Fleisch gab es nur selten und wenn, war es eine Glücksache, ein verendetes Kitz, welches vom Gebirge abgestürzt war, zu finden. Natürlich hatte dann das ganze Dorf etwas davon, denn teilen war hier so etwas wie ein beschlossenes Gesetz.



Lea und Sam, obwohl beide begeistert gewesen wären, mit uns weiter zu reisen und ihr Glaube an die seltsamen Wesen und die so genannten Tempelmenschen größer als unserer war, blieben im nächsten Dorf, an dem wir vorbei kamen. Sam verletzte sich am Fuß und konnte nicht mehr weiter. Da die beiden während unserer Reise ebenso ein Paar wurden wie Viggo und Rike, blieben sie bei einem Paar, das schon sehr alt war. Sie waren für die beiden alten Leute so lange da, bis diese starben und wohnten schließlich bis zu ihrem eigenen Tod in diesem Haus und diesem ebenfalls sehr kleinen Bergdorf, das vielleicht zehn Kilometer vom anderen entfernt war, in dem Viggo und Rike lebten.

Die beiden haben wir ebenso besucht wenn wir vom Gebirge herab kamen, aber es waren nur kurze Besuche, so im Vorbeigehen, da uns Viggo und Rike verständlicherweise mehr am Herzen lagen. Besonders Selma zog es noch immer zu Viggo hin. Nur ihm erlaubte sie eine Umarmung, was mich stets wunderte. Ich konnte nie wirklich aus ihr heraus bekommen, was die beiden so sehr verband, denn auch Viggo, der seine Rike über alles liebte und sie nie mit einer anderen Frau verletzen würde, bekam glasige Augen, wenn er Selma sah. Irgendwie nahm ich aber an, dass die beiden aus dem letzten Leben etwas verbinden musste, das sie auch in diesem Leben noch aneinander bindet.

Als Viggo starb, sah ich Selma das einzige und letzte Mal weinen. Sie weinte leise. Es waren nur Tränen, die aus beiden Augen wie Sturzbäche über ihre knochigen Wangen fielen.



Aber ich greife etwas zu weit vor. Oder doch nicht, da eigentlich nicht mehr so viel passierte, bevor uns die seltsamen Wesen eines Nachts holten, uns vom Boden aufhoben und mit uns in ein Land flogen, das so unbeschreiblich war, dass ich es nur mit etwas Ähnlichem wie einer der herrlichsten Landschaften auf diesem Planeten beschreiben könnte. Ich lass es lieber und überlasse es dem Leser, sich seine eigene Traumlandschaft vorzustellen, denn nichts anderes war dieses Tempelland, mit seinen Tempelmenschen, in das sie uns brachten. Es gehörte noch zu diesem Planeten, dennoch schien es mir stets, wenn wir in die Bergdörfer hinab stiegen, als wären wir von unserem Planeten Lichtjahre entfernt.


Natürlich stellte sich für mich die Welt auf den Kopf. Sogar Selma zeigte Regung, als sie ein großer, schlanker Mann, mit langem schwarzen Haar und weiten schwarzen Flügeln packte und mit ihr hoch in die Lüfte davon segelte. Auch mich packte ein ähnlicher Mann, der aber anscheinend keine Flügeln brauchte, sondern sich mit mir in seinen starken Armen (er hatte übrigens vier Arme!) vom Boden weg stemmte und genauso abhob, wie der Geflügelte mit Selma. Abram wurde von einem weiblichen Wesen in die Lüfte gebracht. Wenn ich auch sagte, dass ich noch nie ein so bezauberndes Wesen wie Selma gekannt habe, aber dieses weibliche Wesen stellte alles in den Schatten. Ich könnte dieses Wesen niemals begehren, dazu stand es für mich viel zu hoch, aber es war eine ebenso unbeschreibliche Schönheit wie die Landschaft der Tempel und natürlich ebenso unbeschreiblich schön, wie die beiden männlichen Wesen.
 
Greife ich abermals zu weit vor? Egal, denn ich kann es einfach nicht erwarten, über diese frohe Botschaft zu berichten.

Wie bereits erzählt, wir drei, Selma, Abram und ich (ein junger Mann namens Paolo) wurden von drei wundervollen Wesen an einen Ort gebracht, den man durchaus als das benennen kann, was ich einst in der unteren Stadt, in der Bibliothek, in einem alten Buch gelesen habe: das Paradies. Und wie ebenfalls bereits erwähnt, ist dieser Ort kaum zu beschreiben.

Wir drei also hatten das Glück, während wir, bereits ohne Hoffnung, das Tempelland zu erreichen, von drei herrlichen Wesen mitten im Schneesturm aufgegriffen zu werden und von der (man kann es auf jeden Fall so nennen) Hölle in den Himmel gebracht zu werden.



Es war kein Glück, es war einfach an der Zeit für uns. Nicht anders wurde es uns an diesem Traumort, an dem wir nicht die einzigen waren, erklärt. Die Unterkunft, jeder einzelne von uns, war Luxus pur. Anfangs glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Es schien, als würde das Wesen, welches mich empor gehoben und mich in seinen vier Armen an diesen Ort gebracht hat, bloß mit den Fingern einer Hand schnippen und schon erscheinen Dinge, die gebraucht oder einfach nur gewünscht wurden.



Es war an der Zeit für uns. Genauso sagte es der Vierarmige, den ich nach einiger Zeit „Shiran“ nennen durfte. Er war so etwas wie mein Lehrer, obwohl er meinte, es braucht keinen Lehrer, denn die Zeit der Bereitschaft kommt für jeden von selbst. Man muss nichts besonderes tun, um dafür bereit zu sein. Es ist einfach an der Zeit, wenn es an der Zeit ist. Unbegreiflich für den menschlichen Verstand, aber so ist es, - meinte Shiran, ohne mit einer Wimper zu zucken. Irgendwie erinnerte er mich an Selmas maskenhaftes Gesicht, das auch nie Regungen zeigte.



Für Viggo, Rike, Lea und Sam war es noch nicht so weit. Anscheinend haben sie das auch selbst gespürt, sonst wären sie doch weiter mit uns gekommen. Lea und Sam wollten dies unbedingt, dann aber hat Sam eine Fußverletzung davon abgehalten. Es war wie ein Omen. Die beiden waren nicht bereit.



Lange Zeit, so schien es mir zumindest, habe ich meine beiden Freunde nicht zu Gesicht bekommen. Ich war alleine in meiner luxuriösen Unterkunft, in der mir alle Wünsche von Shiran erfüllt wurden. Ich musste nichts sagen. Nur ein Blick dieses wundervollen Wesens genügte und es wusste, was ich begehre, außer, dass ich in der ersten Zeit meine Freunde nicht sehen durfte.

Irgendwann – wie es mir schien, nach langer Zeit – begann die Offenbarung, wie Shiran es nannte. Das hier, meinte er, sei noch nicht die Stadt, von der wir gehört haben. Außerdem sei es keine Stadt, sondern für uns etwas Unbenennbares.


Er klärte mich auch über mich selbst auf, was nicht leicht zu verstehen war. Shiran sagte, er könne jede Gestalt annehmen die er wolle und wenn ich glaube, dies hier – er zeigte mit allen vier Händen über seinen vollkommenen Körper – sei er selbst, täusche ich mich, so wie ich mich in all meinen vergangenen Leben getäuscht habe. Er sei zwar ein etwas anderes Wesen als ich und meine Weggefährten es sind und natürlich viele andere derartige Wesen, aber er habe sich mit uns zusammen getan, um die Prophezeiung zu vollenden.



Es gab einst so etwas wie eine Entscheidung (zuerst nannte Shiran es „Endkampf“, verwarf es aber, da er meinte, dass es kein wirklicher Kampf war, was Menschen darunter verstehen), die von einem ganz besonderen Wesen ausgegangen ist, aber das muss ich jetzt noch nicht wissen. Eigentlich müsse ich es überhaupt nicht wissen, da ich es ohnehin einmal erfahren werde. Dennoch möchte ich es hier erwähnen, weil es tatsächlich eine ganz besondere Entscheidung von einem ebenso ganz besonderem Wesen war.



Shiran erklärte mir, ich sei zwar ich selbst, aber dennoch nur ein Abbild meines eigentlichen Ichs und davon auch nur ein kleiner Teil. Dann verglich er mich mit einem Eisberg. Ich habe in meinem Leben noch nie einen Eisberg gesehen, aber aus Büchern wusste ich, was es ist und dass nur ein kleiner Teil davon sichtbar ist, während der Großteil unter Wasser, also unsichtbar, ist. Genauso verhalte es sich mit meinem wahren Ich. Das wahre Ich ist unsichtbar, während es nur einen kleinen Teil seines Selbst sichtbar macht. Ziel der Prophezeiung sei es, alles sichtbar zu machen, - sozusagen den gesamten Eisberg aus dem Wasser zu heben und die Welt, wie sie ist (?), in allen Zügen, mit allen Sinnen, die uns bereits stehen, zu genießen.

Es gäbe auch einen anderen Weg, nämlich in das Nichts zu gehen, in die Leere, aus der alles gekommen ist. Aber dies wäre nur ein sinnloser Weg zurück und auch nicht im Sinn dessen, aus dem wir gekommen sind. Shiran nannte das, aus dem wir alle und alles einst gekommen sind, die „Quelle der Kraft“.


Das waren also jene Außerirdischen, die unser Leben in ihren Händen halten. Teilweise war es auch so, aber auf eine ganz andere Art. Sie gaben uns, die wir bereit waren, jene Energie, die wir brauchten, um zu erkennen. Menschen, oder andere Lebewesen, die nicht bereit waren, hätte diese Energie geschadet.

Es bringt also nichts, täglich mehrmals auf die Knie fallen und Gott preisen, oder Tag und Nacht meditieren, um eins mit Gott zu werden oder was auch immer.

Wir Stadtmenschen spürten sozusagen instinktiv, dass Religionen nichts bringen. Aber in dieser Hinsicht widersprach mir der schöne Vierarmige, mit dem lockigen, dunklen Kopfhaar. Religionen seien Geschenke der Kraftquelle oder der Quelle der Kraft, wie die meisten hier sie es nennen. Sie oder er oder es spielt keine Rolle, da im Grunde genommen alles geschlechtslos ist. Nur durch ihre Kraft können Frauen gebären und Männer zeugen. Es würde auch Babys geben, wenn es keine unterschiedlichen Geschlechter gäbe, da all das immer nur in der Macht der Quelle der Kraft liegt. In dieser Hinsicht liegt alles in ihren Händen und selbst jene göttlichen Wesen, wie Shiran, der Geflügelte und Sitira, die Schöne sind von ihr abhängig.


Es heißt, die Quelle der Kraft lässt sich nicht teilen, sie bleibt stets unberührt und doch geht alles aus ihr hervor und wieder zurück. Was geboren wird, muss sterben. So steht es in einem Buch geschrieben, erzählt mir Shiran. Daran wird sich nichts ändern, denn unsere Kraft ist niemals unendlich wie jene der Quelle, auch wenn wir gleichzeitig immer eins mit ihr sind.



Daran beiße ich mir heute noch die Zähne aus, - an dieser Gleichzeitigkeit. Seit es diesen Kampf gab, über den ich weiter oben schon berichtet habe, geht es darum, Welten zu erschaffen, in denen es sich lohnt zu leben. Es geht praktisch um das Paradies auf Erden und das in allen Welten, Dimensionen und Universen. Es geht um die Perfektion, darum, die Welt als ganzes so wahrzunehmen wie sie ist. Weiter oben setzte ich ein Fragezeichen dahinter, da ich mich auch heute noch immer frage, wie denn die Welt wirklich ist.
 
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Es gibt keine zwei Welten, erklärt Shiran. Es gibt nur eine und genau um die geht es, dass wir in ihr genauso glückselig existieren, wie in der Quelle der Kraft. Die Welt ist Materie, alles andere ist die Quelle der Kraft.

„Auch das, was der Eisberg verbirgt?“ frage ich.

„Ja, auch das, was der Eisberg verbirgt“, antwortet Shiran.

„Aber ich dachte, das, was der Eisberg verbirgt, ist mein wahres, mein ganzes Ich, das, was all die Leben hinter und noch vor sich hat, da wir ja nicht in der Lage sind, alles gleichzeitig zu erkennen oder wahrzunehmen.“

„Das ist auch richtig“, gibt mir Shiran zu verstehen und ich verstehe absolut nichts.

„Das liegt daran“, spricht Shiran weiter, „weil du als Mensch wahrnimmst. Der verborgene Eisberg hat aber mehr als nur den Menschen zu bieten. Er ist gleichzeitig alle Lebewesen, die es gab, gibt und geben wird. In dieser Hinsicht ist er eins mit der Quelle der Kraft. Aber was bringt es, darüber zu sprechen. Sieh selbst und erlebe es.“



Im nächsten Moment, nachdem er mich mit einem Finger einer seiner Hände am Solarplexus berührt hatte, wurde mir schwarz vor Augen und es war, als würde ich in eine warme, dunkle Tiefe sinken. Das Sinken war angenehm. Aber was dann kam, war – es tut mir leid, es zu erwähnen, aber es war wieder einmal unbeschreiblich. Wie könnte ich auch einem Wurm erklären, dass er gerade an einem sehr wertvollen antiken Werk knabbert? Er kann nicht erkennen, dass es wertvoll ist. Papier ist für ihn Papier. Ähnlich ist es, wenn man als Mensch oder auch als anderes, einzelnes Lebewesen, die Ganzheit spürt. Ich schreibe absichtlich - „spürt“ - denn es zu erleben wird mir vielleicht in den nächsten zwanzig oder sehr viel mehr Leben gewährt. Dennoch ist es ein sehr wertvolles Geschenk für mich. Es schenkt mir Frieden und die Gewissheit, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern bloß das logische Ergebnis jeder Geburt. Das Leben jedoch währt ewig – genauso ewig wie die Quelle der Kraft, denn sie ist das Leben selbst.


Die Tempelmenschen, - Shiran nennt sie „Wolkenwesen“, haben wir noch nicht gesehen. Das werden wir auch nicht – noch nicht, meinen unsere Wohltäter.

Aber für mich ist schon hier das absolute Paradies, in dem ich am liebsten tausend Jahre alt werden möchte. Das könne ich auch, mein Shiran, als wir einen Spaziergang durch die wundervoll bunten Gärten machen und an Luxusvillen vorbei kommen, aus denen uns freundliche Menschen zuwinken. Manche faulenzen auf bequemen Liegen vor einem Teich, in dem andere sich erfrischen. Und wieder andere sitzen auf der Terrasse und nehmen köstliche Speisen zu sich.

Es gibt aber auch welche, die etwas tun, die sich kreativ betätigen, wie Shiran mir erklärt. Es ist eine andere Kreativität, wie wir sie von alten berühmten Malern, Bildhauern, Poeten oder Musiker kannten. Es ist eine Kreativität wie aus dem Nichts.



„Auch die Nahrung, wie jene, die du eben gesehen hast, zu sich nahmen, ist eine derartige Kreativität. Oder meinst du, hier werden Lebewesen getötet, um gegessen zu werden?“ stellt mein Wohltäter fest, der mein bester Freund geworden ist.

Schließlich bleiben wir stehen und beobachten einen dieser phantastischen Künstler, wie er mit seinen Händen aus dem Nichts eine Blume schafft, die genauso weiter wächst, wie all die anderen in diesen herrlichen Gärten.



Ich weiß nicht, wie lange wir schon hier sind. Mögen es Stunden oder Jahrhunderte sein, mein Zeitgefühl ist mir abhanden gekommen. Hier scheint es immer nur Gegenwart zu geben, das berühmte, ewige Hier und Jetzt.

Auch Selma und Abram geht es so. Die Verbundenheit mit ihren Wohltätern, von denen fast alle hier einen haben, ist ebenso stark, wie meine zu Shiran; das Zeitgefühl ist weg und sie fühlen sich ebenso wohl hier wie ich, dass sie am liebsten für immer hier bleiben würden.

„Daran und an vielem anderen müssen wir noch arbeiten“, meint Shiran, „denn es gibt die Möglichkeit, für immer an einem vollkommenen Ort zu sein. Jene, die wir die Wolkenwesen nennen, haben es geschafft, ihre Ganzheit aus dem Meer zu heben. Der Eisberg ist sichtbar gemacht.“


Wir sitzen vor meinem bescheidenen Haus in bequemen Korbsesseln auf der Veranda. Das Haus ist obwohl die Räume jeglichen Luxus bieten, wirklich bescheiden gegen manche Villen hier ist. Shiran meint, er habe meine Bescheidenheit erkannt und wisse, dass dies hier genau das Richtige ist.

„Du hast noch nicht verstanden, was die Welt wirklich ist“, spricht er weiter, „Im Grunde genommen scheint sie eine Illusion zu sein – eine Illusion aus dem Unsichtbaren, aus dem Nichts heraus geschaffen. Das stimmt so auch, dennoch ist sie gleichzeitig real. Real ist sie deshalb, weil du sie wahrnimmst. Es ist ganz einfach, - wenn du dich selbst erkannt hast, erkennst du, was die Welt wirklich ist.“

Shiran ging auf eine uralte Weisheit zurück, was einst weise Menschen gesagt und aufgeschrieben haben. Die Quelle der Kraft ist das Um und Auf. Sie kann nicht gesehen und auch nicht gezeigt werden, da sie kein Objekt ist, das man sehen oder wahrnehmen könnte. Die Quelle der Kraft ist das Subjekt. Sie ist die Wahrnehmende. Deshalb soll ich mich nicht, wie Shiran weiter erklärt, um Objekte kümmern, auch wenn ich noch so viele erschaffen kann, sondern um das Wahrnehmende. Das, was Eisberg genannt wird, ist die Quelle selbst, die niemals geteilt werden kann. Sie allein ist das Leben, die Kreativität, durch die wir erschaffen.

„Wir arbeiten an nichts anderem, als daran, die Quelle der Kraft sichtbar zu machen“, sagt Shiran und seine dunklen Augen leuchten dabei glückselig, „Wir – das ist jeder und alles; - jedes winzigste Staubkorn zählt dazu und ist genauso wichtig, wie eines der Wolkenwesen. Einst lag den Weisen daran, eins mit der Quelle der Kraft zu werden. Viele nannten die Quelle 'Gott' oder gaben ihr andere Namen. Wie auch immer, es war dasselbe damit gemeint.

Einst wurde Materie verabscheut, weil dadurch auch Zerstörung hervor gebracht wurde. Aber durch den so genannten Endkampf wurde dies geändert und wir erkannten, was dieser Kampf wirklich war und was er auslöste, nämlich die Möglichkeit, die Quelle der Kraft sichtbar zu machen. Und das in ihrer absoluten, wundervollen Herrlichkeit und Glückseligkeit.

Und schau hier einmal um dich, obwohl dies nur ein winziger Teil des Ganzen ist. Schon das ist ein Traum. Wie viel prächtiger mag erst das Ganze sein, was wahrgenommen werden kann.“
 
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Den Weg der Seele in so eine wunderschöne Geschichte zu verpacken gefällt mir sehr.
Vieles erinnert mich an meinen eigenen Weg und Erkenntnisse die ich bis heute für mich dazu gewonnen habe.
Manches macht mich nachdenklich.

LG
 
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