Im Westen nichts Neues (Das letzte Buch)

Serenade

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18. März 2007
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Es spitzt sich eher im Osten zu.

Die Ballungszentren aber liegen im Norden. Riesige Städte, in denen es keine Grünanlagen mehr gibt und die Menschen nur mehr mit Mundschutz ihre Wohnungen oder Häuser verlassen. Rund um den Kern der Städte wurden Zelte für die Armen und großteils Kranken errichtet. In manchen Ballungszentren, besonders in den Zeltlagern, brechen Seuchen aus, die man für längst ausgestorben hielt.

Der Süden ist ausgetrocknet. Wüste, so weit das Auge reicht. Nicht mal mehr Beduinen streifen mit ihren Kamelen durch die heißen, sandigen Länder des Südens.

Im Westen liegen die Meere und einstigen Länder, die bereits vor Jahrzehnten überschwemmt wurden. Hier gibt es tatsächlich nichts Neues.

Aber der Osten ist ein Geheimtipp. Dort stehen noch die alten Tempel hoch oben in den Bergen und das Land ist teilweise sogar so fruchtbar, dass die Menschen Selbstversorger sind und anbauen und ernten können.

Leider lassen sich diese Orte kaum, wenn überhaupt, erreichen. Es liegt nicht nur an den hohen Bergen und an der eher sauerstoffarmen Luft, sondern an der breiten Kluft, die beim letzten Erdbeben vor einigen Jahrzehnten entstand und die Länder vom Osten trennte. Für die Tempelmenschen – man nennt sie so – ist dies ein Segen, - meint man ja auch, dass es sie gar nicht gibt und der Osten ohnehin unbewohnt und wegen der vielen hohen Berge auch unwirtlich ist.



In dem Ballungszentrum, das dem Osten am nächsten ist und von wo man vom Rand aus, an schöneren Tagen, die jedoch sehr selten sind, die breite, riesige Kluft sehen kann, leben ein noch junger Mann und eine noch junge Frau.

Die junge Frau ist der Kluft näher, da sie am Rande der Stadt in einem der zerfledderten Zelte mit ihrem kranken Vater und den zwei älteren Schwestern lebt. Menschen in Zeltlagern sind der schlechten Luft ständig ausgesetzt und sie sind von den Almosen der Stadtmenschen abhängig. Täglich verhungern Menschen in den Zelten. Nicht nur ältere und kranke, sondern auch junge Menschen, mitunter Babys.

Täglich am Morgen kommen alte Lastwagen in die Zeltlager und teilen Wasser, Brot und andere Lebensmittel aus. Es reicht nie für alle und meist entstehen um einen der Wägen harte Kämpfe.

Auch an diesem Morgen hat Selma, die jüngste in der Familie, keine Chance, wenigstens einen halben Laib Brot zu ergattern. Der Vater kann sich von seinem Lager nicht mehr erheben und auch die Schwestern, Zwillinge, liegen krank darnieder.

Niedergeschlagen geht sie ins Lager zurück, bis ein älterer Mann sie an der schmalen Schulter berührt und ihr seine Flasche Wasser entgegen hält und auch das Brot, der er ergattert hat, mit ihr teilt. Selma will es zuerst nicht annehmen, aber der Mann lässt das nicht zu und begleitet sie sogar bis zu ihrem Zelt. Er erzählt ihr, dass er mal Arzt war und alles durch den Krieg verloren hat. Aber was soll ein Mann, der mal Arzt war, helfen können, wenn es hier keine Medikamente gibt? Dennoch sieht er nach dem Vater und den beiden 20jährigen Mädchen.

Mit dem Vater geht es zu Ende und mit den beiden Mädchen sieht es auch nicht gut. Sie haben beide den Virus, der in den Zeltlagern so gefürchtet ist. Selma sollte sich nicht mehr neben ihnen aufhalten und versuchen, in die Stadt zu gelangen. Ein so hübsches Mädchen wie sie, würde man überall aufnehmen. Die Reichen in den Städten sind ohnehin immer auf der Suche nach Putz- oder Kochhilfen. Da hat sich nichts geändert. Die Kluft zwischen Reich und Arm ist überdimensional groß geworden. Die Stadtmenschen leben in Saus und Braus und die Zeltmenschen müssen verhungern und sterben an hartnäckigen Viren, weil es für sie keine Versorgungen gibt.

Selma wundert sich, dass die Stadtmenschen Nahrung und frisches Wasser haben, da es in der Stadt keine grünen Flächen mehr gibt. Man baut untertags an, klärt der Mann, der einmal Arzt war, sie auf. Es ist alles unterirdisch. Vor allem die reichsten Menschen leben unterirdisch, wo sie sich eine Art Paradies geschaffen haben.

Der ältere Mann wundert sich, dass es dem Mädchen anscheinend leicht fällt, ihre Familie hinter sich zu lassen, als sie sich mit ihm auf den Weg zu den Stadtmauern und Stacheldrahtzäunen, die an die acht Meter hoch sind, macht. Es ist ein etwas weiterer Weg, denn die Zeltlager sind groß und reichen von den Stadtgrenzen bis zu den letzten Randzelten einige Kilometer. Die meisten Menschen liegen bereits im Sterben. Es wird nicht mehr lange dauern und die Zeltlager werden leer sein. Regungslos und mit einer maskenhaften Miene geht das Mädchen mit dem älteren Mann, der ihr Vater sein könnte, an den klagenden und jammernden Menschen vorbei. Viggo, so stellt sich der ältere Mann dem Mädchen auf dem Weg vor, mustert Selma genau und wundert sich wieder. Das Mädchen zeigte auch keine Regung, als es kein Brot und Wasser bekam. Anstandslos wandte sie sich um und ging langsam zwischen den sich balgenden Menschen in Richtung ihres Zeltes zurück. Viggo muss sich mehrmals abwenden, so kümmert ihn manches Schicksal mancher Menschen, die ihnen fiebernd und zitternd ihre leeren Hände um Nahrung bettelnd entgegen strecken.

Selma hatte nur einen Schluck Wasser aus der geschenkten Flasche genommen und die Flasche, samt Brot, bei ihrem sterbenden Vater und den Zwillingen zurück gelassen.

Einerseits hat sie recht, denkt Viggo, denn es ändert nichts, sich Kummer zu machen oder zu bleiben und selbst sterbend krank zu werden. Vielleicht hat das Mädchen ja den Virus bereits, denn fast alle haben ihn bekommen. Nur vereinzelt scheint es Menschen, wie ihn, zu geben, die gegen den tödlichen Virus immun sind.

Der Weg zu den Stadtgrenzen ist meist eben bis leicht hügelig. Einst gab es hier Wiesen und Wälder, sinniert Viggo auf dem Weg, da Selma schweigend dahin wandert und ihm bis jetzt nur kurz und bündig ihren Namen genannt und auf weitere Fragen keine Antwort gegeben hat. Aber auch das ist schon sehr, sehr lange her, das mit den Wiesen und Wäldern. Damals war er noch ein kleiner Junge, vielleicht sogar noch ein Baby, denn zu dieser Zeit begannen die letzten Kriege, in denen Viren dieser Art, wie er sich in den Zeltlagern verbreitet hat, frei gesetzt wurden. Es waren eigentlich keine Kriege wie im üblichen Sinn, als die Menschen noch mit Keulen aufeinander los gegangen sind und später Feuerwaffen daraus wurden, bis zur Atombombe, von der die letzte abgeworfen wurde, als seine Großeltern noch nicht geboren waren. Die letzten Kriege waren gemein und wurden von der oberen Gesellschaft eingefädelt. Die Oberen und Reichen, jene, die am großen Topf Platz genommen haben und über Leichen gehen. Das war schon immer so. Er kannte die Geschichten, die ihm einst seine Großeltern und auch Eltern erzählten, um für das Leben unter Menschen gerüstet zu sein.

Umso mehr erschreckt ihn jetzt das Gehabe des Mädchens, das schweigend und zart wie eine Elfe neben ihm geht. Eigentlich geht Selma nicht. Sie schwebt. Bei jedem Schritt wallt ihr dünnes, blondes, schulterlanges Haar im sanften Wind. Sie wirkt so zart und zerbrechlich und scheint bei einer Größe von knappen 1,70 Meter kaum 45 Kilo zu haben. Eine Elfe. Ein weltfremdes Wesen. So muss es sein, denkt Viggo und schüttelt über seine Gedanken den Kopf.



*
 
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Als ich Selma das erste Mal sah, hatte ich ebenso den Gedanken wie Viggo, den ich erst später kennen lernte. Er brachte das 'Elfenmädchen' bis zum Stadttor, wo man es kontrollierte und wundersamerweise durchließ. Zu dieser Zeit nahm man kaum mehr gesunde Menschen in der Stadt auf, weil es erstens zu gefährlich war, den Virus auch in die Stadt zu bringen und zweitens, weil es schon genug Menschen in der Stadt gab. Vor allem im Untergrund, wo wir uns tatsächlich so etwas wie ein Paradies geschaffen haben, durften sich jene Menschen erst nach gründlicher Untersuchung aufhalten. Arbeit gab es aber auch oben, wo die meisten Leute nur mit Mundschutz nach draußen gingen. Es gab draußen ohnehin nichts zu tun. Alles war zu betoniert. Keine Grünflächen. Keine Bäume, keine Pflanzen zierten die Gehwege, Straßen oder Gassen. Alles war irgendwie tot. Genauso tot wie die Menschen in den Zeltlagern.



Ich bin Paolo und lebe im Untergrund, in dem es aussieht wie auf einer zweiten Erde. Ich schreibe all dies hier und ich schreibe es meistens in der Gegenwartsform, weil ich es auf eine gewisse Art wieder erlebe. So möchte ich auch unser erstens Zusammentreffen gegenwärtig schildern, weil es mich auf eine sehr eigentümliche Art verändert hat.



Ich bin draußen. Oben. Manchmal werfen wir einen Blick nach oben, in der Hoffnung, dass sich das Klima wieder beruhigt und die ersten Grünpflanzen aus dem Asphalt und Beton sprießen. Der Alte sagt, wenn das passiert, ist es oben wieder ganz sicher und der Virus, den wir frei gelassen haben, hat sich verflüchtigt. Wir haben den Virus frei gelassen. So einfach sagt er das. Auch die anderen Alten sagen das. Die Alten sind jene, die das Sagen haben. Sie sind noch nicht alt, obwohl natürlich auch zwei oder drei Ältere unter ihnen sind.

Ein Engel aus Wolken erscheint am Himmel. Sein Oberkörper ist muskulös und seine Flügel sind gigantisch. Sie breiten sich über die ganze Stadt aus. Ich sehe gebannt nach oben, als wäre der Engel ein Wesen aus Fleisch und Blut, als um die Ecke ein Wächter mit einem Mädchen auf uns zu kommt. Wir sind zu dritt. Meine zwei Freunde und ich, die wir ausnahmsweise einen kleinen Streifzug durch die obere Stadt machen dürfen. Wir drei sehen entgeistert mit offenem Mund auf das Mädchen.

Es ist etwas an Selma, das ich mir bis heute nicht mehr erklären kann. Es war damals an ihr und es ist bis heute an ihr geblieben. Etwas Unerklärliches. Etwas, das Menschen nie und nimmer haben können. Es ist eine eisige Kälte, die jedes Herz schmelzen lässt. Anders kann ich das Gefühl, wenn ich in ihre stahlblauen Augen sehe, nicht beschreiben. Sie hebt in den Menschen gegensätzliche Gefühle gleichzeitig hervor.

Selbst der Wächter, meist sind es harte Burschen, wirkt ein wenig anders, als er mit ihr an uns vorbei in Richtung Gesundheitszentrum geht.



Ich blicke wieder hoch zum Himmel. Der Engel erscheint noch plastischer, als wäre er tatsächlich ein Wesen aus weißem Fleisch und weißem Blut. In seinem fast klaren Gesicht entsteht ein Lächeln, als würde er sich freuen, dass Selma zu uns gekommen ist.

Meine beiden Freunde geben mir einen Stoß und fragen mich, was ich denn so Interessantes am Himmel sehe. Nichts, nichts, gebe ich zur Antwort und wundere mich, dass sie den Wolkenengel mit den gigantischen Flügeln nicht sehen. Vielleicht wissen sie gar nicht, was ein Engel ist, denn Religionen oder Spirituelles gibt es bei uns schon lange nicht mehr. Es geht nur darum, zu überleben und vor allem gut zu überleben. Und das tun wir hier. Deshalb gibt es auch die Stadtgrenzen und die bewachten Tore, dass niemand Unerwünschter Zutritt hat.



Im Gesundheitszentrum wird Selma Blut abgenommen und überprüft, ob sie infiziert ist oder nicht. Im Grunde genommen ist es egal, denn Injektionen bekommt sie auf jeden Fall. Es gibt nämlich das Gegengift, wie die Chemiker es nennen, und das wird ihr sicherheitshalber gespritzt. Man könnte alle Menschen da draußen vor den Mauern retten, wenn man das wollte. Es dient zur Sicherheit der Stadt und ihren Menschen, sie nicht zu retten. So sagen es die Alten.



Früher gab es zu viele Menschen und man machte viele Fehler, was die Einwanderer aus fernen Ländern betraf. Auch damals wurden Krankheiten und einmal sogar eine schwere Seuche eingeschleppt, die tausende von Menschen das Leben gekostet hat. Es waren damals aber nicht nur die Einwanderer, sondern auch exotische Nahrungsmittel der so genannten 'freien Wirtschaft', welche wiederum tausende von Menschen nieder raffte.



Gut oder böse? Diese Fragen stellen sich die Menschen heute kaum mehr. So etwas wie ein Gewissen scheint es nicht mehr zu geben. Selma hätte gesagt: „Es ist wie es ist und man sollte nicht mehr daraus machen, als es ist.“ In dieser Hinsicht war und ist sie stets sehr pragmatisch. Gefühlskalt? Wiederum das Ja und das Nein zugleich. Selma hätte den Menschen vor den Mauern ganz sicher das Gegengift gegeben, weil nun mal genug da war. Sie hätte auch die Mauern nieder gerissen und allen Menschen Freiheit zugestanden. Alles muss grenzenlos sein, weil es das in Wirklichkeit auch ist. Man muss allen Menschen die Möglichkeit für ein gutes Leben geben. Ausnahmslos. Und man muss helfen, wenn man das kann, wenn die Möglichkeiten gegeben sind. Das war und ist Selmas Devise, selbst wenn sie nach hinten los geht. „Dann soll es eben so sein“, hätte sie gesagt.

Wir in der Stadt hätten das 'Dummheit' genannt. Zuerst auf sich selbst schauen, dann erst auf die anderen. Das ist unsere Devise, denn wenn dies jeder tut, geht es allen gut.
 
Selmas Ahnen väterlicherseits stammen von den westlichen Inseln, die schon lange dem Meer zum Opfer gefallen waren. Bereits ihre Großeltern lebten auf dem nördlichen Festland, bis sie die ständig eisige Kälte nicht mehr ertragen konnten und weiter in den Süden zogen, wo ihnen wiederum die Hitze zu schaffen machte.

Selmas Vater lernte auf seiner Wanderschaft, nachdem seine Eltern verstorben waren, Selmas Mutter kennen. Er wanderte dem Krieg davon und lebte mit seiner Frau in den Wäldern oder Bergen, wo es gerade passte und menschenleer war. Die beiden kämpften sich recht tapfer durch und lebten wie Nomaden. Auch als die Zwillinge geboren wurden, gaben sie das Wanderleben nicht auf. Selten trafen sie auf andere Menschen und hörten deshalb auch nur selten, was in der Welt vor sich ging.

Als Selma etwa vier Jahre alt war, kam die Familie am ersten Ballungszentrum vorbei, an dem gerade Mauern errichtet wurden. Das heißt, es war nicht das erste Ballungszentrum der Welt, sondern das erste, das die Familie zu Gesicht bekam. Zentren dieser Art gab es schon jahrzehntelang, nachdem das große Beben den Planeten gespalten hatte. Erst am zweiten Ballungszentrum, an dem sie bei ihrer Wanderung vorbei kam, hielten sie an und baten um Einlass. Sie können es sich in einem Zelt bequem machen und Nahrung wird täglich mit LKWs geliefert, - hieß es am Tor. Das Stadtzentrum hatte als die Kapazität an Menschen bereits erreicht. Dann gab es keinen Einlass mehr und die Menschen außerhalb waren zum Großteil zum Tode verurteilt.

Selma und ihre Schwestern hatten nie so etwas wie einen schulischen Unterricht. Obwohl die Eltern dies noch teilweise genossen haben – so weit man das so sagen kann, denn ich hasse die Schule – wurden die drei Mädchen nur oberflächlich von ihnen unterrichtet. Selmas Mutter war zu dieser Zeit bereits krank. Das war auch der Grund, warum sie sich im Zeltlager niederließen. Selma war fünf, als ihre Mutter starb.

Die Familie zog wieder weiter und bat bei anderen Ballungszentren – es waren genau vier – um Einlass. Man kann sagen, der Vater und die drei Mädchen wanderten im Mittelland (wie wir das noch lebenswerte Gebiet nennen), in einem Kreis von etwa 1500 Kilometer, bis sie erschöpft vor unserer Stadt Halt machten und wiederum um Einlass baten, der ihnen wie überall verwehrt wurde.

Auch hier sind die Menschen in den Zelten zum Tode verurteilt und ich wage es kaum nieder zu schreiben: Es war unsere Schuld. Das heißt, nicht direkt unsere Schuld, aber wir alle wussten Bescheid, sahen zu, taten aber nichts dagegen, als der Virus frei gesetzt wurde. Völkermord nannte man es einst. Aber das hier ist und war mehr als das. Die Alten haben es beschlossen, weil sie Angst hatten, die Menschen würden die Mauern niederreißen und die Stadt plündern.

Ich weiß nicht mehr, in welchem Ballungszentrum die Alten erstmals derartig bestialische Einfälle hatten, die dann auch noch durch geführt wurden, aber bald wurde das Morden durch Viren von allen Zentren vollzogen.

Selmas Mutter wusste nicht viel von ihren Ahnen. Wahrscheinlich kamen sie aus dem ehemaligen Osten. Großeltern und Eltern starben ziemlich früh und Selmas Mutter war bereits im Alter von elf Jahren auf sich alleine gestellt.


In der oberen Stadt ist nie viel los. Sie wirkt meist wie ausgestorben. Aber die Straßen sind rein und die bungalowartigen Häuser wirken wie neu erbaut neben den alten, riesigen Fabrikhäusern. Die Stadt und ihre Straßen sind wie ein Schachbrett angeordnet. Einmal habe ich sie schon von oben gesehen, als ich in einem Helicopter mitfliegen durfte. Den Flug habe ich gewonnen, aufgrund schulischer Leistungen. Und das, obwohl ich die Schule hasse. Eigentlich hasse ich alles hier. Vor allem das Privileg, mit meiner Familie, in der unteren Stadt leben zu dürfen. Sie ist wirklich wie ein Paradies. Es gibt alles dort unten. Sportanlagen aller Art, Tennisplätze, Fußballplätze, Laufbahnen, Schwimmbecken und vieles mehr, was dem Vergnügen der Menschen im Untergrund dienen sollte.

Oben gibt es nichts. Hier ist das so genannte Arbeiterviertel. Viertel, obwohl sich die Stadt mehr als 20 Kilometer nach allen Seiten hin ausstreckt. Gleichmäßig wie ein Schachbrett.

Ich habe schon immer unten gewohnt – in einer schmucken Einfamilienvilla, samt Garten und Pool. Wenn man nach oben schaut, scheint es, als würde man in einen sommerlich blauen Himmel schauen. Wie das alles konstruiert wurde, weiß ich nicht. Es interessiert mich auch nicht, weil es mir unnatürlich erscheint. Ich hasse diese künstliche unterirdische Stadt. Ich hasse auch das Schachbrett oberhalb, in dem tagtäglich in den Fabriken gearbeitet wird, um den Alten und Reichen im Untergrund ein luxuriöses Leben zu ermöglichen.

Oft wundere ich mich, dass wir hier oben so freundlich gegrüßt werden. Gerade eben, als wir die Kreuzung zur Milchwirtschaft (alles chemisch erzeugt) überqueren, da dies die heutige Schulexkursion sein soll und wir uns hier mit den anderen der Abschlussklasse treffen, die ich besuche, drei Arbeitern in den weißen Milchwirtschaftsdressen begegnen, verneigen sie sich fast vor uns. Sie erkennen uns an den Schulkleidungen der Oberstufe, blaue Hosen, weißes Hemd und blau weiß gestreifte Krawatte. Schulen gibt es auch hier oben. Es sind Schulen für jene Menschen, wie sie in den Fabriken und Laboratorien hier oben gebraucht werden.

Die unteren Schulen sind für Führungskräfte und den Jobs der Alten, die man früher Politiker nannte. Ich und einige andere meiner Klasse haben sich für den Zweig für Führungskräfte entschlossen, weshalb wir, unter anderem, heute diese Exkursion haben. Ob ich mal Abteilungsführer in der Milchwirtschaft werden will, weiß ich noch nicht. Es wird sich herausstellen, da wir nicht nur diesen Betrieb, sondern heute noch fünf andere besichtigen werden.


Wenn ich heute zurück denke und an das, was mir zu dieser Zeit noch bevor stand, verstehe ich nicht, warum ich damals mein Leben hasste. Ein Professor in der unterirdischen Stadt sagte mir einmal: „Es fehlt uns an Dankbarkeit.“ Wir seien nie mit dem, was wir haben und vor allem, was wir sind, zufrieden, sagte er weiter.

Ich hatte alles, was ein Mensch nur haben kann. Die Liebe meiner Eltern, auch wenn sie mir damals nicht wirklich liebevoll vorkamen, den Schutz der Alten, die mir zu streng erschienen, ein Heim, von dem die meisten nicht einmal träumen konnten, Essen, Trinken und Kleidung nach meiner Wahl. Ich hatte alles, was man sich vorstellen kann und doch war ich unzufrieden, weil ich das Elend außerhalb nicht ertragen konnte, obwohl ich damals gar nichts davon wusste. Ich wusste tatsächlich nichts von den Menschen hinter den Stadtmauern. Ich wusste wirklich nichts von diesem schrecklichen Völkermord. Aber ich spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Vor allem, als ab und zu Menschen in schlechtem Zustand zu uns kamen. Viele kamen ohnehin nicht mehr rein in die Stadt, weil kaum welche 'gebraucht' wurden. Durch die medizinische Versorgung waren wir kerngesund und wurden sehr alt, weshalb es an 'Ersatz' nicht mehr mangelte. Die Menschen in der oberen Stadt arbeiteten, wie sie sagten, sogar gerne und waren froh, etwas tun zu können. Sie waren stolz auf ihre Arbeit, auf ihre Leistungen, die sie im hohen Alter von 80 noch vollbrachten.

Ein wenig anders ging es in der unteren Stadt zu. Hier lebten die Alten und Führungskräfte, die man einst Akademiker nannte. Es waren Professoren, Ärzte, Ingenieure und ähnliches, was die obere und untere Stadt aufrecht erhielt. Jene waren von Geburt an stolz und fühlten, dass sie etwas ganz Besonderes sind.
 
Ich habe mich noch nicht entschieden, welchen Job ich einst angehen werde. Meine zwei Freunde sind sich auch nicht sicher. Als wir hinter den anderen der Klasse langsam hinterher schlendern, kommt uns Selma mit zwei Wächtern entgegen. Abermals erscheint sie mir wie ein Wesen aus einer anderen Welt, so zart und blass. Das fast weißblonde, schleierartige Haar, das ihr nur wenig über die Schultern reicht, tut den Rest dazu. Bei uns gibt es kaum blondhaarige Menschen. Die meisten sind braunhaarig oder schwarzhaarig, wie ich und haben dunkle Augen. Selmas Augen fallen mir wie beim ersten Mal wieder auf, als sie mir einen kurzen Blick zuwirft und sofort danach die Augen senkt. Mir geht ein Schauder über den Rücken. Auch meinen Freunden fallen ihre Augen auf. Aber sie können, wie ich, nicht sagen, was an ihnen so anders ist. Wahrscheinlich ist es die Kälte, die sie ausstrahlen, aber gleichzeitig erscheinen sie so offen und ehrlich. Ehrlichkeit mag ja kalt sein, - kalt gegenüber jenen, die die Wahrheit nicht ertragen.



Es war einfach für Selma, ihre Familie zu verlassen, wie ich später erfuhr, als wir uns auf die Reise begaben. Sie fühlte sich stets wie das fünfte Rad am Wagen. Sie war die jüngste und hielt die Wanderfamilie auf, weil sie nicht so schnell gehen konnte und ab einem gewissen Jahr wollte niemand mehr sie tragen. Nicht einmal die Mutter hatte ein liebes Wort für sie, wenn sie nicht mehr weiter konnte und weinte. Diese Art Leben machte das Mädchen hart. Hart vor allem zu sich selbst und auch hart zu anderen.

Als ihre Mutter gestorben war und ihr Vater und die Zwillinge weiterziehen wollte, hörte sie die drei nachts darüber reden, dass sie Selma zurück lassen wollen. Sie hatten tatsächlich vor, das Mädchen, falls es frühmorgens noch schlafen sollte, im Zeltlager allein zurück lassen. Aber Selma schlief nicht und stand schon marschbereit vor den Zelt, als der Vater und ihre beiden Schwestern aufwachten.

Als ich Selma fragte, ob sie ihnen diese Behandlung jemals verzeihen könne, sagte sie: „Was soll es da zu verzeihen geben? Damals waren alle so. Hast du nie gesehen, wie sie sich um Wasser und ein Stück Brot gegenseitig an die Gurgel gegangen sind? Einmal hat ein Vater seinen Sohn erschlagen, weil er ihm das Brot nicht geben wollte. So sind die Menschen. So sind wir. Wir sind Menschen.“

Als Selma mir dies erzählte, dachte ich das erste Mal daran, wie sehr meine Eltern mich geliebt haben und wie beschützt ich aufwachsen durfte. Vielleicht zum ersten Mal empfand ich auch so etwas wie Dankbarkeit und obendrein wusste ich, dass die Menschen nicht alle so sind, wie Selma sie beschrieben hat.



Aber das war später und nicht in dem Moment, als ich mein Leben genießen hätte sollen. Vielleicht war und bin ich der geborene Pessimist, da ich in all meinen Lebensphasen unzufrieden war. Erst heute, im hohen Alter, finde ich langsam zur Ruhe und kann das Leben einigermaßen schätzen, auch wenn sie mich hier den alten Griesgram nennen.



Es ist selten, dass wir mit Arbeitern zusammen treffen, außer wir halten uns zwecks Exkursionen oder wichtigerem in der oberen Stadt auf. Als ich Selma das zweite Mal gesehen hatte, drängte es mich direkt nach oben. Ich hatte keine Freundin und nicht mal die Aussicht auf eine. Obwohl sich viele meiner Klassenkollegen bereits gebunden hatten, interessierten mich Mädchen keineswegs. Erst als Selma auftauchte, regte sich etwas in mir.

Unser erstes wirkliches Treffen werde ich nie vergessen, wie so vieles, das bereits so lange in meinem Leben zurück liegt. Manches aber ist, als wäre es eben erst passiert, weshalb ich gerne in der Gegenwartsform darüber schreibe. Und mein erstes wirkliches Zusammentreffen mit Selma ist so ein Ereignis.



Sofort nach dem Aufwachen in meinem hellblauen Himmelbett denke ich an das elfenhafte Mädchen mit dem blonden Haar und den seltsamen stahlblauen Augen. Ich sehe sie vor mir, als würde sie eben jetzt an meinem Bett stehen und mich anlächeln. Eine tiefe Sehnsucht packt mich und ich weiß, ich muss nach oben. Ich muss sie wiedersehen und deshalb heraus finden, wo man sie untergebracht hat. Die Schule muss heute warten. Also gehe ich in mein geräumiges Badezimmer (jeder in unserer Familie hat ein eigenes Badezimmer), dusche, putze meine Zähne, kämme mein kurzes, schwarzes Haar, von dem meine beiden Freunde stets sagen, es sehe aus wie eine dichte Pelzkappe über meinem Schädel und kleide mich an. Vorsichtshalber ziehe ich die Schulkleidung an und schleiche mich aus dem Zimmer und ebenso ungesehen aus der Wohnung. Unser Personal, das in der Küche und im Wohnzimmer beschäftigt ist, bekommt auch nicht mit, wie ich die Gasse hoch laufe, obwohl die alte Köchin gerade aus dem Fenster sieht, sich aber schnell wieder abwendet, als hätte sie jemand gerufen.

Meine Eltern sind bereits aus dem Haus. Vater ist wahrscheinlich in der oberen Stadt, da er in letzter Zeit mit einem neuen Fabrikgebäude beschäftigt ist. Also muss ich aufpassen, um nicht von ihm gesehen zu werden. Er ist Architekt und hat bei einigen Freizeitzentren in der unteren Stadt faszinierende Gebilde geschaffen, die phantastisch und zugleich benutzbar sind. Vater hätte gerne mehrere Kinder gehabt, aber bei meiner Geburt gab es Komplikationen und Mutter konnte keine Kinder mehr bekommen. Vater liebt Kinder, deshalb widmet er sich gerne Projekten, die mit Kinder zu tun haben, wie etwa Kindergärten und eben Freizeitzentren.

Mutter müsste nichts tun und könnte den ganzen Tag faulenzen oder sich irgendwo vergnügen. Sie will auf eigenen Beinen stehen und von niemandem abhängig sein. Diesen Satz höre ich oft von ihr, wenn Vater sie bittet, leiser zu treten und nicht so viele Termine anzunehmen. Mutter ist Psychologin und geht von Haus zu Haus, auch in der oberen Stadt. Vor allem in der oberen Stadt, da die Menschen es oben viel öfter nötig haben, sich mal auszusprechen. Mutter geht es nicht um Therapien, welche die Menschen 'normalisieren' sollen. Sie meint, alle Menschen haben einen Tick, die einen einen größeren, die anderen einen kleineren. Das gehört einfach zu den Menschen. So sind sie. Auch eine Ansichtssache, die mir jedoch besser gefällt, als jene, die Selma einmal aussprechen wird.

Der Weg nach oben ist meist frei. Wir aus der unteren Stadt dürfen uns bewegen, wie wir wollen, nur ist es den meisten aus der oberen Stadt verboten, nach unten zu gehen, weshalb manchmal Wächter an den Aufzugtoren stehen.


Die Fahrt mit dem geräumigen Lift dauert eine Weile. Außer mir fährt aber niemand nach oben. Einerseits bin ich froh darüber, keine Zeugen für mein Schule schwänzen zu haben, andererseits ist mir im Aufzug alleine ein wenig flau, da es doch ein weiter Weg nach oben ist. Was, wenn der Lift irgendwo in der Mitte stecken bleibt? Bis jetzt ist es noch nie passiert und es passiert auch diesmal nicht. Meist sind es nur meine Gedanken, durch denen ich mir unnötig Sorgen mache, was mir wieder einmal klar wird.
 
Oben empfangen mich zwei Torwächter. Sie sind die ehemalige Polizei, die heute nicht mehr notwendig ist. Die Menschen in den Städten verhalten sich nach den Gesetzen. Es gibt nur wenig für die Wächter zu tun, die ihren Dienst zu aller erst an den Toren der Stadtmauern und an den Lifttoren der oberen Stadt zu versehen haben. Torwächter kann man nur werden, wenn man die nötige Statur und natürlich auch den nötigen Grips hat. An Grips fehlt es mir angeblich nicht, wohl aber an der Statur. Ich bin zwar nicht klein und auch nicht direkt schmächtig, aber ein Riegel von zwei Metern und obendrein ein Muskelpaket bin ich auch nicht. So gesehen werden manchmal nicht nur Männer von der oberen, sondern auch von der unteren Stadt, zu Wächtern ausgebildet. Frauen werden selten genommen. In meinem jungen Leben habe ich erst eine gesehen und da dachte ich, es handelt sich um einen Mann.



So nebenbei frage ich einen der Herkulesse, ob es einen Neuzugang von draußen gibt. Warum ich das wissen will? Ich bin ehrlich und sage, dass ich gehört habe, es sei ein besonders hübsches Mädchen angekommen. Die beiden lachen und geben mir zu verstehen, dass ich mir besser ein Mädchen von unten auswählen sollte.



Wir nennen es 'Neuzugang', wir, die noch nicht so genau wissen, was wirklich da draußen vor sich geht und warum wir zweimal im Jahr Injektionen bekommen, die gewisse Krankheiten von uns fernhalten sollen.



Der andere Herkules meint, die Neue habe ein Zimmer im Bungalow neben der Chemie bekommen. Bei welcher Chemie? Das wisse er nicht so genau. Sie habe das Zimmer nur vorübergehend, da abgewartet wird, wie sie auf die Injektionen anspricht.



Ich weiß, welche Chemie gemeint ist und laufe los. Vielleicht habe ich Glück und sie sieht gerade aus dem Fenster. Es sind vier Kreuzungen, die ich überquere, bis ich an dem riesigen Mittelgebäude ankomme, das in regelmäßigen Abständen von Bungalows umrahmt wird. So sieht es überall um Fabrikbauten oder ähnlichen Anlagen aus, um den jeweiligen Arbeitern den Weg zu verkürzen. Es wäre ja blöd, wenn einer aus der Milchfabrik drei Kilometer zur Arbeit in die Fleischfabrik (ebenso chemisch wie die Milch) laufen müsste.

An jeder Seite der 'Chemie' (es handelt sich um eine medizinische Einrichtung, Abteilung Seuchen) stehen an die 20 Bungalows. Sie sind zweistöckig und in einem Zimmer all dieser Zimmern soll meine Angebetete sein. Es ist zwecklos, denke ich und in dem Moment, als ich es denke, bewegt sich direkt vor dem Bungalow, vor dem ich stehe, der Vorhang im oberen Stockwerk, wo sich ein kleiner Balkon befindet. Die Balkontür öffnet sich und heraus tritt meine Julia.

Es mag kitschig klingen, aber damals empfand ich genauso. Ich sehnte mich nach dem Mädchen mit den eiskalten Augen, die jedoch jedes Herz zum schmelzen bringen. Es war fast krankhaft, wie es mich gepackt hat, obwohl ich sie nur zweimal gesehen hatte und absolut nichts von ihr wusste. Man könnte
direkt meinen, sie habe mich verhext. Aber diesen Glauben gab es nicht mehr bei uns. Wenigstens das war vorüber, auch wenn dieser Völkermord, den wir anrichteten, noch viel, viel schlimmer war. Und wo ich eben 'Julia' erwähnt habe, - ich liebe die ganz alte Literatur und weiß inzwischen mehr über sie als mancher Professor, der uns unterrichtet.

Ich bleibe stehen und sehe gebannt nach oben. Nur zaghaft wage ich zu winken und mit belegter Stimme „Hallo“ nach oben zu hauchen. Selma erschrickt ein wenig und legt ihre rechte Hand an die Brust. Aber sie lächelt unsicher und nickt stumm.

„Wie geht es dir?“ frage ich.

Selma zuckt stumm mit den Achseln.

„Sie kann nicht lesen und nicht schreiben und von Zahlen hat sie auch keine Ahnung. Aber sie ist hoch intelligent“, höre ich eine weibliche Stimme hinter mir. Es ist eine Frau aus der medizinischen Abteilung, die ich nicht näher kommen hörte und die sich bis zu Eingewöhnung um Selma kümmern wird.

„Kann sie sprechen?“ frage ich, als ich mich zu der etwa 35 Jahre alten Chemikerin und Ärztin umwende.

„Das kann sie und zwar sehr unflätig“, antwortet die Frau lächelnd.

„Sie ist sehr schön“, sage ich und blicke wieder hoch zum Balkon. „Ich möchte sie gerne kennen lernen.“

„Komm mit hoch“, schlägt mir die Ärztin vor und ich lehne nicht ab. Sie schließt mit einem Spezialschlüssel die Haustüre auf. Die Bungalows hier sind alle auf die selbe Art eingerichtet – zweckmäßig und einfach. Gewöhnliche Kücheneinrichtung, samt Essecke, zu meiner rechten Seite, wenn man den kleinen Vorraum, mit Schuhkasten und vier Haken für Mäntel und Jacken an der der linken Wand, betritt. Etwas weiter links führt eine Tür in das Wohnzimmer mit Regalen für Bücher, Sofa, zwei Fauteuils und einen Kasten für Getränke, Gläser oder sonstiges. Gerade aus führt die Treppe nach oben zu zwei Schlafzimmern und ein Badezimmer. Ein Schlafzimmer, in dem Selma sich befindet, hat einen Balkon.

„Wer wohnt in diesem Bungalow, außer im Moment Selma?“

„Meine Köchin“, gibt mir die Frau zu verstehen und öffnet die Tür zum größeren Schlafzimmer. „Sie stellt dieses Zimmer hier Selma zur Verfügung, da sie ohnehin alleine ist.“

Manchmal verstehe ich diese Einteilungen nicht und habe mich bis jetzt auch noch nie dafür interessiert, wie die Arbeiter und unser Personal leben und untergebracht sind, - dass sie nichts Eigenes besitzen, ihnen die Bungalows, samt Einrichtung, aufgrund ihres Jobs in bestimmter Lage zur Verfügung gestellt werden, sie neben einem kleinen Einkommen auch Nahrung und Arbeitskleidung bekommen. Werden sie krank, bekommen sie natürlich umsonst ärztliche Hilfe.
 
Wie das alles wirtschaftlich möglich war, verstehe ich bis heute nicht, denn wenn die Arbeiter auch nur ein Hungergeld ausbezahlt bekamen, das sie ohnehin kaum ausgeben konnten, war ihre gesamte Verpflegung nicht gerade billig. Und wir in der unteren Stadt lebten in Saus und Braus ein Luxusleben, wie es das auf diesem Planeten noch nie gab. Wo kam all der Reichtum her? Ich weiß es bis heute nicht, wie das alles möglich war.



Schließlich betreten wir das Schlafzimmer, das ebenso zweckmäßig, ohne Firlefanz, ausgestattet ist, wie die anderen Räume. Ein Doppelbett an der einen Wand, ein Kasten an der anderen Wand und nach vorne die offene Balkontür, wo draußen noch immer Selma an der Brüstung lehnt und nach unten blickt. Etwas zögernd gehe ich auf den Balkon.

„Mein Name ist Paolo“, sage ich leise und strecke ihr die Hand entgegen, als sie sich langsam umdreht.

Wieder dieser kalte und zugleich schmelzende Blick von unten herauf, während eine blonde Strähne ihres feinen Haares ins Gesicht hängt. Ihre Hände verschränkt sie hinten. Ihre zierliche Gestalt steckt in einem pinkfarbenen Overall. Wie gut würde ihr ein Kleid von 'Celeste', unserer Modeschöpferin erster Klasse, stehen, denke ich und ziehe meine Hand wieder zurück.

Auf dem Balkon befinden sich ein kleines Tischchen und zwei Klappstühle. Ich setze mich auf einen und bitte Selma, sich zu setzen, deren Namen ich bis dahin gar noch nicht kenne. Zu meiner Verwunderung setzt sie sich und ich höre zum ersten Mal ihre Stimme, mit der sie mir ihren Namen „Selma“ verrät. Ich zucke ein wenig zusammen, da ich mir eine ganz andere Stimme, eine eher flüsternde, höhere Stimme erwartet habe. Stattdessen hat das zartgliedrige Mädchen eine immens dunkle, aber doch sehr warme Stimme. Manchmal klingt sie auch ein wenig heiser, vor allem dann, wenn sie lauter spricht, was jedoch selten vorkommt. Selmas Stimme ist meist tief, warm und leise, fast flüsternd und doch lässt sich jedes Wort gut verstehen.

Und wieder wundere ich mich, denn Selma erzählt mir freiwillig, wie sie hier her gekommen ist, dass sie ihre Familie im Lager zurück gelassen hat. Sie erzählt auch von einem Mann, namens Viggo, der sie bis zum Tor gebracht hat und dass sie wissen möchte, wo er jetzt ist.

Ich wende mich fragendes Blickes zu der Ärztin um, die an der Tür zum Balkon steht.

„Er wohnt zwei Bungalows weiter. Wenn wir Leute hier brauchen, geht er raus und schaut sich nach Nachschub um“, erklärt sie mir kalt und auf meinen ratlosen Blick spricht sie weiter: „Das hast du wohl nicht gewusst, Bürschchen, dass da draußen das blanke Elend herrscht, was? Wohlbehütet im Untergrund.“

„Es tut mir leid, ich weiß tatsächlich nichts. Ich weiß nicht einmal, dass da draußen Lager ist“, entschuldige ich mich klagend.


„Da draußen sterben die Menschen in ihrem eigenen Dreck, während es hier wundersamerweise sauber ist“, gibt mir Selma zu verstehen, wobei sich ihre Stimme keineswegs verändert. Es klingt nicht vorwurfsvoll wie das von der Ärztin.

„Kann man sie nicht retten?“ frage ich in meiner naiven Art und die Ärztin lacht. Nur Selma sieht mich mit ihren stahlblauen Augen an, die gleichzeitig mein Herz zum schmelzen bringen, während es mir eiskalt den Rücken runter läuft.

„Viggo wird mal vorbei kommen, wenn es seine Zeit erlaubt“ sagt die Frau zu Selma und nickt ihr aufmunternd zu.



Ich schrieb, dass die Ärztin lacht. Echtes Lachen gab es bei uns nicht mehr. Wenn, dann eher das Weinen, aber selbst das schien es nicht mehr zu geben. Selma meinte einmal, es lag auch an den Injektionen, die wir alle damals bekommen haben. Sie dienten nicht nur gegen Seuchen und unwillkommene Viren, sondern auch gegen unsere Gefühle.

Freude und Leid sollte ausgeschaltet werden, um einen perfekten Staat zu gründen. Menschen würden durch Gefühle nicht richtig funktionieren.

Den menschlichen Trieb ließ man uns teilweise, obwohl auch der wahlweise ausgeschaltet wurde, wenn gerade kein Nachwuchs gefragt war. Das Problem beim Nachwuchs war, dass die meisten Frauen keine Kinder bekommen konnten und viele Männer zeugungsunfähig waren. Dies lag wahrscheinlich nicht nur an der Umwelt, die um jede Stadt nur mehr wüstenähnliche Landschaft war, sondern auch an den Injektionen, die wir regelmäßig bekamen. In dieser Hinsicht war niemand ausgeschlossen, selbst die Alten nicht.

Wenn also mal wieder Nachwuchs gefragt war, gingen einige 'Scouts', wie wir sie nannten, in die Zeltlager hinter den Mauern und sahen sich nach brauchbaren Menschen um. Viggo war einer von ihnen.



„Kann man die Menschen im Lager retten?“ frage ich eindringlich und starre die Ärztin an, die gleichzeitig auch Chemikerin war. Zwei Berufe in einem haben nur die Hochintelligenten.

„Man könnte, aber man tut es nicht, weil sonst die Städte überfüllt wären und wir in der unteren Stadt kein so schönes Leben hätten“, antwortet die Frau und starrt mit ihren fast schwarzen Augen zurück.

Wäre ich nicht gesessen, wäre ich eben auf meinen Hintern gefallen.

„Ich – ich – verstehe nicht“, stammle ich und Selma blickt mich interessiert an. Das ist selten, bzw. war selten, da man kaum Regungen in ihrem so schönen fast puppenähnlichen Gesicht erkennen kann und konnte.



Da ich eben 'puppenähnlich' geschrieben habe, - das war wohl der falsche Ausdruck, da es an starre Gesichter erinnert. Selmas Gesicht, - ihre großen, stahlblauen Augen, mit langen dunklen Wimpern und dunklen, wie gezeichneten Brauen, trotz ihres fast weißblonden Kopfhaares, die schmale, gerade Nase und der kleine Mund, mit doch vollen Lippen – dieses perfekt symmetrische Gesicht wirkte trotz wenig Mimik niemals starr oder wie das einer Puppe. Und doch ließ und lässt sich in ihm nie eine Regung erkennen. Man mag manche Puppen – ich hatte nie eine, wohl aber die meisten kleinen Mädchen – als schön bezeichnen, eben weil ihre Gesichter meistens symmetrisch gearbeitet sind und genau das war der einzige Grund, warum ich Selmas Gesicht so nannte.



„Junge, du verstehst vieles nicht und das ist auch besser so“, versucht die Ärztin mich zu besänftigen.

Ich belasse es dabei und frage, was nun mit Selma passiert und ob ich sie weiterhin ab und zu treffen darf. Selma wird ein paar Tage beobachtet. Im Moment sieht es so aus, als wäre sie gegen vielerlei Krankheiten immun und nicht nur hochintelligent, wie einige Tests bezeugten, bei denen lesen, schreiben und Zahlen erkennen nicht nötig ist. Man wird also sehen, ob dieses eher außergewöhnliche Mädchen nicht doch für Höheres berufen ist, obwohl man einfache Hilfskräfte für die chemische Anstalt in diesem Bereich hier gebraucht hätte. Und ja, ich könne Selma ab und zu sehen, wenn meine Erzieher darüber informiert sind und eine Zeit mit ihr, Frau Doktor Rike Tomet, ausmachen. Immerhin sei sie für Selma verantwortlich und demnach auch für ihr Wohl. Ich würde Selma niemals etwas tun, gab ich schnell zu verstehen und Rike lachte wieder ihr kaltes Lachen.

Selma selbst äußert sich während dieses Gesprächs nicht. Sie blickt zur Seite, hinunter auf die Gehwege zwischen den Bungalows und des riesigen Chemie- und Medizinwerks, - vielleicht in der Hoffnung, ihren 'Retter' Viggo zu sehen.
 
Gefühle wurden damals durch Medikamente unterdrückt. Wir, hier und jetzt, unterdrücken unsere Gefühle auch, aber auf eine andere Art. Man kann es nicht wirklich 'unterdrücken' nennen; es ist eher ein Überwinden oder viel mehr ein überdrüssig sein, weil da die Erkenntnis ist, dass Gefühle die Seele hemmen. Unsere Lehrer sagten stets, wenn du dich von deinen Gedanken und Gefühle leiten lässt, bist du nicht du selbst, weil die Energie nicht natürlich fließen kann. Gedanken und Gefühle hemmen diesen ewigen Fluss.



Aber so weit sind wir noch lange nicht in meiner Erzählung. Wir stehen erst am Anfang, wo ich noch ein unwissender, bis über beide Ohren verliebter Bursche war. Meine Verliebtheit hätte es gar nicht geben dürfen. Den sexuellen Trieb schon, aber dazu hatte ich gar kein Bedürfnis. Es genügte mir, Selma zu sehen und ihre Stimme zu hören, wenn sie mir von den Menschen hinter den Mauern erzählte, was ich kaum glauben konnte, da mir alles viel zu grausam erschien.



Meine Eltern, die Rike Erzieher nannte, erlaubten mir jeden Sonntag zwei Stunden mit Selma zu verbringen. Einmal bei ihr auf dem Balkon, wo ich auch Viggo kennen lernte und ein anderes Mal bei mir in meinem Zimmer, unter der Aufsicht meiner Nanny, damit wir nicht auf dumme Gedanken kommen, wie Mutter dies nannte.



Viggo, der ältere Mann, wie ich ihn anfangs nannte, war damals gerade mal so zwischen 30 und 40 Jahre alt. Als 16jähriger kommt einem ein Mann oder eine Frau Mitte 30 bereits alt vor. Er sah aber auch verwegen aus: schulterlanges, dunkles Haar, Vollbart und fast so kräftig gebaut wie die Wächter. Es fehlte ihm etwas an Größe, da er 'nur' knappe 1,80 war. Ich mochte ihn vom ersten Moment an, auch wenn diese Art der Wahrnehmung durch jene gewisse Injektion ausgeschaltet sein müsste.



Selma war ja immun gegen viele Krankheiten, darunter auch gegen die Seuche, welche die Menschen hinter den Mauern dahinraffen sollte und ich war anscheinend gegen jene gewisse Injektion, welche Gefühle ausschaltet, immun. Ich hatte Mitleid mit den sterbenden Menschen da draußen und wollte, dass man ihnen hilft. Als Rike und Viggo, die in dieses abscheuliche Geheimnis eingeweiht waren, uns verrieten, dass der Tod der Menschen gewollt ist, drehte ich fast durch. Selma blieb ruhig. Später sagte sie mir, das habe sie schon längst geahnt. An Intelligenz und schneller Erkenntnis war und ist mir sie stets weit voraus.



Dieses grässliche Geheimnis, von dem wirklich nur gewisse Menschen in der Stadt Bescheid wussten, erfuhren wir an unserem 18. Geburtstag, an dem Tag, an dem wir, Selma und ich, für volljährig erklärt
wurden. Natürlich wurden nicht nur Selma und ich volljährig, sondern auch die Jungs und Mädchen meiner Klasse und noch einige Jugendliche mehr, denen aber nicht das Geheimnis verraten wurde.

Die Tradition der Volljährigkeit schient sich all die Jahre, seit es Zivilisation gibt, nicht geändert zu haben. Alljährlich wurde für deshalb für alle, die im selben Jahr an einem bestimmten Tag eine große Feier abgehalten. Teilweise fand die Feier im Untergrund statt, da die 'Besseren' unter sich sein wollten und teil weise in der oberen Stadt.

Es waren Rike und Viggo, die uns beiden von den Viren erzählten, die dem Wasser beigesetzt werden, das draußen verteilt wird.



Ich habe mich, trotz Proteste meiner Eltern, dazu entschlossen, in der oberen Stadt, zusammen mit Selma, Rike (ich darf die Ärztin, wie auch Viggo, die beide ungefähr gleich alt sind, inzwischen beim Vornamen nennen) und Viggo zu feiern.



Die Feier ist fast vorbei. Die Menschenmenge auf dem Hauptplatz, der sich mitten in der oberen Stadt befindet, löst sich langsam auf. Diesmal wage ich es, Selmas Hand zu halten, was sie eine zeitlang zulässt, bis sie sie mir fast zornig entreißt und mir einen Blick zuwirft, den ich so verstehe: „Was erlaubst du dir?!“ Aber diese Mimik ist wiederum so kurz und schnell, dass ich glaube, mir diesen Blick nur eingebildet zu haben. Rike und Viggo, beide mit schulterlangen, dunklen Locken und fast schwarzen Augen, was sie wie Geschwister aussehen lässt, stehen uns gegenüber.

„Wir haben uns entschlossen, euch beiden etwas zu sagen, was nicht viele wissen“, beginnt Rike, „aber dazu müssen wir uns einen anderen Platz aussuchen. Ihr beide seid jetzt volljährig und steht auf eigenen Beinen. Du, Selma, bist meine Haushälterin, der ich alles anvertraue und vielleicht wirst du auch noch in der Med-Chemie 2 (so nennt sich das Gebäude, in dem Rike arbeitet), mit viel Lerneifer meine Assistentin, denn das Zeug dazu hast du.“



Das ist eigentlich die übliche Rede von Paten, wenn die Jugendlichen als volljährig erklärt werden. Die meisten, wenn nicht alle, sind mit ihren Schulen für ihre Jobs fertig und stehen tatsächlich auf eigenen Beinen, um sich selbst zu versorgen. Nur wer arbeitet, bekommt Unterschlupf und Nahrung und darf in der Stadt bleiben. Erst einmal habe ich mitbekommen, dass ein junger Mann aus der Stadt gejagt wurde und sein restliches Leben hinter den Mauern in den Zeltlagern verbringen musste.


Nun wendet sich Viggo, mein von mir auserwählter Pate, an mich: „Auch du, Paolo, bist jetzt volljährig und stehst auf eigenen Beinen als so genannter Selbstversorger, der imstande ist, eine eigene Familie zu gründen, wenn er das will. Du wirst nun Führer in der Abteilung XZS der Med-Chemie 2 sein und deinen Job zur vollsten Zufriedenheit aller erledigen.“ Seine Stimme wurde leiser und er neigte sich ziemlich nah an mein rechtes Ohr: „Da ich dich anders einschätze als die anderen deines Alters, haben Rike und ich uns entschlossen, dir und Selma, etwas anzuvertrauen, was nicht viele wissen und auch nicht wissen dürfen. Wenn du meinst, ein Geheimnis, das sehr, sehr erschreckend ist, für dich zu behalten, dann treffen wir uns in meinem Bungalow. Wenn nicht, dann hat dieses Gespräch jetzt nie statt gefunden.“

Viggo löst sich von meinem Ohr und sieht mich und Selma abwechselnd an. Da ich annehme, dass Rike Selma in diesen Momenten dasselbe zugeflüstert hat wie Viggo mir, nicke ich dem Mädchen, das heute volljährig ist und sich in den letzten vier Jahren äußerlich keineswegs verändert hat und noch immer von einer Elfenaura umhüllt ist, zu. Auch sie nickt und zu viert schlagen wir den Weg zu Viggos Bungalow ein.
 
Wie bereits erwähnt, ich drehte fast durch und möchte diese Augenblicke am liebsten vergessen. Ich schrie Rike und Viggo an, wie sie nur zulassen können, Menschen derartig zu behandeln. Ich gab ihnen all diese Schimpfworte, die ich von Selma gelernt habe. Es tut mir heute noch leid, die beiden Menschen, so beleidigt zu haben. Na ja, inzwischen tut mir nichts mehr leid, aber es macht sich in den Aufzeichnungen etwas besser. In diesem Fall, vor allem durch den Nachsatz, macht sich gar nichts mehr besser.

Fakt ist, es war Selma, die mich zur Vernunft brachte. Und auch wenn ich ihre Worte und die folgenden Gespräche nicht in Gegenwartsform schreibe, da dies wohl der schlimmste Moment meines bisherigen Lebens (ich wusste damals nicht, dass es noch viel schlimmere gibt!) war, so stimmen sie Wort für Wort.



„Weißt du denn nicht, dass alle Menschen gleich sind, Paolo? Du doch auch. Ich ebenso. Auch Rike und Viggo. Wir unterscheiden uns nicht wirklich, selbst wenn wir alle von uns denken, dass jeder von uns einzigartig ist. Wir sind Menschen, Paolo und Menschen sind alle gleich. Sie tun nichts ohne Profit zu bekommen. Ob aus materiellen oder geistigen Gründen ist einerlei. Du willst etwas für diese armen Menschen, wie du sie nennst, tun? Warum? Um dich besser zu fühlen? Um deinen gelebten Luxus ohne schlechtes Gewissen auszuleben? Das ist nicht besser als jene, die da raus gehen und das vergiftete Zeug zu verteilen. Auch sie meinen, dadurch besser zu leben und keine Angst haben zu müssen, dass die Meute da draußen einmal die Stadt stürmen könnte.

Wir alle schauen in erster Linie auf uns selbst, egal wie. Lass dir das einmal eindringlich durch den Kopf gehen und dann urteile über andere, falls du das dann noch kannst. Oder würdest du zusehen, wie einige von da draußen deine Mutter vergewaltigen und malträtieren, bevor sie sie genüsslich töten? Glaube mir, jene Menschen, die du angeblich so selbstlos retten möchtest, obwohl es dir viel mehr darum geht, ruhigen Gewissens schlafen zu können, wären in ihrem Hass auf die Stadtmenschen, dazu fähig. Ich weiß das, denn ich habe sie oft genug reden hören.

Du magst jetzt meinen, es sind doch nicht alle so. Natürlich nicht, die anderen würden wegschauen, wenn so was passiert, aber dennoch in die Stadt ziehen und hier leben, als wäre nie etwas geschehen.

Menschen sind Menschen, Paolo, was weder bedeutet, dass sie gut oder schlecht sind. Sie sind von Natur aus so, dass stets der Stärkere oder Klügere das Sagen hat. Und das war schon immer so. Zu Urzeiten bereits, als einer der ersten Menschen seinen Bruder erschlug. Jene so genannten bösen Gene haben sich durchgesetzt. Die so genannten guten Gene sind auf der Strecke geblieben und haben sich zu dem entwickelt, was der Mensch nun mal ist.“



Natürlich sind nicht alle so. Das war das erste, was ich noch immer kreischend über meine Lippen brachte. Selma nahm meine Hände, die ich ihr nur widerwillig ließ, obwohl ich zu jedem anderen Zeitpunkt über ihre Berührung glücklich gewesen wäre. Ja, das wisse sie auch. Man kann nicht alle Menschen über einen Kamm scheren. Dieses Sprichwort habe sie einmal irgendwo gehört und sich auch gleich erkundigt, was es bedeutet. Die Menschen sind Individualisten, habe man ihr gesagt, was aber auch wieder nicht stimmt, da doch nicht alle Menschen Individualisten sind.

„Dann sieh es eben so: Geh von dir selbst aus. Denke genau darüber nach, warum du jetzt so erbost bist und denke auch darüber nach, was du gegen all diese Grausamkeiten tun kannst und wie viele Menschen du in Gefahr bringst, wenn du etwas dagegen tust. Aber überlege es dir genau.“

Diese Worte Selmas beruhigten mich einigermaßen, während Rike und Viggo mich wie erstarrt beobachteten. Bevor ich wieder in den Untergrund zurück ging, baten mich alle drei, Stillschweigen zu bewahren und erst einmal über alles nachzudenken.



Selma hatte recht. Es war alles zum Schutz der Stadt und ihren Menschen. Und wir waren nun mal die Stärkeren, jene, welche die Macht in den Händen hielten. Vor allem wir in der unteren Stadt, während die Menschen in der oberen Stadt eher unsere Sklaven waren, auch wenn keiner von beiden dies zugeben würden. Wir nicht, weil wir uns gar nicht als Ausbeuter fühlten und die in der oberen Stadt nicht, weil sie stolz auf ihre Arbeit waren und wussten, dass sie das meiste für die Gesellschaft beitragen. Erst durch sie funktioniert das Uhrwerk, wie Viggo immer sagte. Die Alten und Führer mögen befehlen und auch wenn sie eine Ahnung von all unserer Arbeit haben, so sind wir es, die diese Arbeit tun. Recht hatte er.



Ich ließ es also bei meinem Wutanfall bleiben und unternahm nichts. Absolut nichts. Es gab für mich auch nichts zu tun. Sollte ich Aufruhr unter die Menschen bringen, die so zufrieden auf mich wirkten? Es funktionierte wirklich alles wie in einem perfekten Uhrwerk. Alle schienen glücklich zu sein, zumindest so glücklich, wie man in einer Welt wie dieser nun mal sein kann.



Heute bin ich anderer Meinung. Natürlich würde ich noch immer genauso handeln wie damals. Hätte ich etwas unternommen und hätte mir jemand geglaubt, - ich kann gar nicht sagen, was passiert wäre. Am ehesten denke ich, hätte man mich mundtot gemacht und dafür hätten wahrscheinlich sogar Rike und Viggo gesorgt, für die ich eine enorme Überredungskunst brauchte, um sie für unsere Reise zu begeistern. Von 'begeistern' kann natürlich nicht die Rede sein, aber wenigstens hatte ich sie damals neugierig gemacht.



Es war in den nächsten Tagen, nachdem ich mich beruhigt hatte, als Selma mir von diesem anderen Land und den anderen Menschen im Osten hinter der Kluft erzählt. Sie wisse auch nicht, ob etwas Wahres dran ist, aber jene Menschen, die davon berichteten, schienen dort gewesen zu sein.

„Warum kamen sie zurück, wenn es dort so lebenswert ist?“ frage ich, während wir am Abend auf ihrem Balkon (die Wohnung war inzwischen ganz die ihre) saßen, bevor ich in meine eigene kleine Villa (das Geschenk meiner Eltern zum 18ten) zurück kehre.

„Es werden nicht alle aufgenommen, haben sie erzählt. Es geht dort zu wie in einer großen Familie, die in absoluter Harmonie lebt. Wenn nur einer oder eine diese Harmonie stören könnte, wäre dies fatal. So haben sie erzählt.“

„Gut und schön, aber warst du schon einmal in der Nähe der Kluft? Ich habe mir sagen lassen, dass sie so breit ist, dass nichts und niemand sie überwinden kann. Es gibt auch keine Brücken. Und sie ist so tief, dass manchmal Rauch aufsteigt aus dem inneren Feuerkern der Erde. Wie haben es diese Menschen geschafft, zurück zu kehren?“

„Ich weiß es nicht. Darüber haben sie nichts erzählt. Sie sagten nur, man habe sie nicht aufgenommen“, erklärt Selma und sieht mich ratlos an.

„Aber“, spricht sie weiter, „ich möchte nicht für mein ganzes Leben hier in der Stadt leben, selbst wenn Rike mich zu ihrer Assistentin macht, was sicher interessant wäre. Dennoch ist mir dieses Leben zu chemisch. Verstehst du, was ich meine?“

Ich schüttle den Kopf.

„Einst zogen wir durch die Länder, von einem Lager zum anderen“, berichtet sie weiter, „Das war, auch wenn meine Familie nicht gerade die freundlichste zu mir war, doch sehr abenteuerlich. Jetzt lebe ich fast fünf Jahre in gähnender Langeweile und nichts tut sich. Ich lebe von chemischer Nahrung, bekomme chemische Injektionen. Alles ist chemisch und nichts wirklich lebendig, auch wenn Menschen hier leben. Es gibt auch andere Lebewesen als Menschen, Paolo. Und ich möchte wetten, du hast keine anderen Lebewesen gesehen.“



Um mir nicht selbst zu widersprechen, möchte ich etwas anmerken. Selma und ich waren damals unterschiedlicher Meinung, was die Menschen betrifft. Von ihr aus gesehen, waren die Menschen von Natur aus schlecht, während ich stets versuchte, den guten Kern in ihnen zu sehen. Von dieser Warte aus gesehen, trifft wohl beides zu, denn kein Mensch ist immer nur schlecht und schon gar nicht deswegen, weil er stets aus einem bestimmten Grund handelt und dieser Grund immer der eigene Profit ist, egal ob materieller oder geistiger Art. Wenn ich aber einem Menschen etwas schenke, ihm sozusagen Gutes tu und dabei ein angenehmes Glücksgefühl empfinde (aus diesem Grund handle ich ja genauso), richte ich ja keinen Schaden an. Aber wenn ich jemandem etwas weg nehme oder ihn gar töte, ist der Schaden groß. Also ist der geistige Profit (das Glücksgefühl oder sich gut fühlen) nicht der Rede wert, auch wenn Selma im Prinzip recht hat.

Das war es aber nicht, was ich tatsächlich anmerken möchte. Es geht darum, dass wir uns stets ein Bild von etwas machen, - vor allem von anderen Menschen. Wir sehen sie nun mal so und nicht anders. Dennoch ist es nicht der Mensch, wie er wirklich ist, sondern bloß ein Bild von ihm, sozusagen eine Illusion, die wir uns selbst machen. Genauso sehen wir die Welt. Auch von ihr machen wir uns bloß irgendein Bild, das sich jedoch laufend ändern kann. Es hängt wohl von unserer Stimmung ab und deshalb sind unsere Wahrnehmung keineswegs ernst zu nehmen. Viel mehr sollte uns bewusst werden, dass wir uns stets Illusionen hin geben. Erst, wenn wir nichts mehr be- oder verurteilen, sind wir der eigentlichen Wahrheit und Wirklichkeit näher.

Ich möchte diesen Absatz nicht nur an-, sondern auch vormerken, da mein so genanntes Weltbild nach unserer Reise bis in die Grundfesten erschüttert werden wird. Es kommt also noch dicker!
 
Nun weiter in meiner Erzählung. Es war also Selma, von der der Gedanke ausging, die Stadt zu verlassen. Für Viggo und mich wäre es einfach gewesen, da er offiziell stets einen auserwählten Begleiter mit in die Zeltlager nehmen darf. Rike hätte er wahrscheinlich auch als Begleiterin auswählen können, aber mit welcher Begründung? Ich war noch jung und hätte einen anderen Job angehen können, was mir bis zum 26igten Geburtstag möglich gewesen wäre. Sicher wäre es ein wenig unglaubhaft zu sagen, ich wäre lieber ein Scout, der sich der Gefahr, überfallen zu werden, aussetzt, als gemütlich in einem Büro einer Fabrik zu hocken. Aber Selma hätte man nie erlaubt, nach draußen zu gehen, selbst als Assistentin von Rike nicht. Jene, die von draußen kommen, dürfen nie wieder raus. Manche Gesetze gab es also durchaus und sie waren auch wichtig.

Mich brauchte Selma nicht überreden, mit ihr zu gehen. Das hatte sie ohnehin nicht im Sinn, da sie meinte, ich wäre zu verweichlicht für so eine Reise und sie würde mich sowieso nicht mitnehmen. Aber ich sah bald auch keinen Sinn mehr hinter diesem Leben, das ich „nur mehr dahin vegetieren“ nannte. Sie sehe es ja ebenso, meinte ich und Selma stimmte zu. Es sei mein Leben, gab sie mir schließlich zu verstehen und ich trage ganz alleine die Verantwortung dafür.

Aber, um die Stadt zu verlassen, würden wir Viggo brauchen, der vielleicht einen Plan hätte. Es war gar nicht so leicht, den verwegen aussehenden Mann zu überreden, der zuerst meinte, wir seien verrückt geworden. Niemand verlässt freiwillig eine Stadt. Es ist eher so, dass die Menschen rein wollen.

Es dauerte Tage, bis Selma ihm klar machte, dass sie hier noch durchdrehen würde und wenn sie nicht mehr raus könne, würde sie sich umbringen. Das wirkte! Selbstmorde gab es in der Stadt noch nie. Draußen schon, wenn die Menschen erkannten, dass der Virus sie erwischt hatte und sie dem dahin siechenden Tod entgehen wollten.

Und schließlich hatte Viggo die Idee, auch Rike zu überreden. Er würde mit uns gehen, aber nur, wenn Rike auch mitgeht.

Ich hatte schon lange den Verdacht, dass Viggo die selben Gefühle für Rike hat, wie ich für Selma. Aber beide Frauen schienen nicht zu verstehen, was da vor sich geht. Selma, denke ich, schon, denn sie bekam die Injektionen noch nicht so lange wie Rike. Und Rike hatte es sich schon als Jugendliche in den Kopf gesetzt, alleine zu bleiben. Sie wollte keine Familie. Sie wollte in eine Welt, wie diese, keine Kinder setzen. Es war also nicht schwer, diese Frau zu überreden. Sie war, was uns zwar ein wenig wunderte, sofort Feuer und Flamme für diese Idee, anstatt, wie wir dachten oder sogar befürchteten, uns bei einem der Alten zu melden.

Wir vier wollten also die Stadt verlassen, um nach Osten zu gehen, die Kluft überwinden und das geheimnisvolle Land mit seinen harmoniesüchtigen Menschen, die so ganz anders sein sollten wie wir, zu finden. Es war nicht einmal klar für uns, ob es dieses Land und diese Menschen überhaupt gibt und es nicht doch irgendein Scherzbold war, der das alles in die Welt setzte, um einige Träumer zu verunsichern und in den sicheren Tod zu schicken, die so blöd waren, diesen Geschichten Glauben zu schenken.


Ich bin das erste Mal außerhalb der Stadt. Tränen laufen mir schon wieder über die Wangen, während Viggo mich stützen muss. Vor den Wächtern musste ich mich zusammenreißen, da sie sonst Verdacht geschöpft hätten. Zuerst einmal, ob ich keine Injektionen gegen bestimmte Gefühle bekomme und zweitens, weshalb ich nach draußen gehe, wenn es mir nicht gut dabei geht.

Ich wusste nicht, dass mir meine Eltern so viel bedeuten, von denen ich mich nicht einmal gebührend verabschieden konnte. Meine Mutter fragte mich zwar, ob ich krank sei, da ich sie so seltsam ansehe und andauernd berühre. Ich wollte nicht vergessen, wie sie sich anfühlt, wie sie spricht, den Klang ihrer Stimme nie vergessen, wie sie sich bewegt, fast wie eine Primaballerina, elegant und tänzelnd. Nie wollte ich das Bild, das ich mir von ihr machte, zu einer Erinnerung machen, die es kaum mehr gibt. Ihre dunkle Schönheit, das dichte Haar, das ich von ihren Genen übernommen habe, ebenso die fast schwarzen Augen, die zwar fast alle Menschen hier haben, jedoch ein Blick aus ihren Augen etwas ganz anderes für mich war. Sie war meine erste große Liebe und jetzt, wo ich mit Viggo, der mich noch immer durch das Lager ziehen muss, wird mir das alles schmerzlich bewusst. Ich sehe das Leid um mich herum gar nicht, da ich nur den eigenen Schmerz spüre, der sogar körperlich ist, als würde mir das Herz in tausend Teile zerspringen.



Rike und Selma sind in einem der Transportwagen. Das hat Viggo arrangiert, der, wenn er nicht gerade als Scout durch die Zeltlager streift, auch Nahrungsmittel an die Menschen im Lager verteilt. Dass in einigen Nahrungsmittel Krankheitserreger enthalten sind, die meist tödlich sind, wusste und weiß er. Sein Gewissen, denn trotz Injektionen wissen die Menschen noch immer, was richtig und was falsch ist, beruhigte er, indem er sich sagte, es sei zum Schutz der Menschen in der Stadt.

Immer wieder gibt es kleine Übergriffe an den Grenzstationen oder viel mehr an den Mauern, wenn Menschen versuchen, darüber zu klettern. Sie haben keine Chance, da sofort der Alarm losgeht, denn sobald jemand die Sicherheitszone (das ist ein etwa drei Meter breiter Streifen zwischen Mauer und Stadt) berührt, jaulen die Sirenen. Dennoch steht Viggo noch immer dazu, es sei zum Schutz der Menschen in der Stadt, da es draußen zu viele Menschen gibt und wenn immer mehr werden, was trotz Viren der Fall ist, werden sie einmal die Mauern nieder rennen. Davon war er felsenfest überzeugt.

Rike war da etwas anders. Sie bedauerte das Schicksal der Menschen außerhalb der Mauern. Sagte sie zumindest. Mehr sagte sie nicht dazu, aber ich sah es an ihren Augen, dass ihr nie wohl dabei war, zu wissen, was wirklich geschieht.

Selma tendierte eher zu Viggo. Außerdem war ihre Meinung über Menschen ohnehin nicht die beste, auch wenn sie immer wieder betonte, sie sage nichts von gut oder böse, sondern, dass dies ganz einfach die Natur des Menschen ist. Der Mensch sieht sich immer an erster Stelle, ob als Spitze der Evolution oder als Einzelwesen. Zuerst ich, dann lange nichts, dann die Familie, vielleicht auch Freunde und Bekannte, und schließlich der Rest der Menschheit.



Viggo bleibt stehen und schüttelt mich. Er redet zwar sanft auf mich ein, aber der Klang seiner tiefen Bassstimme enthält eine gewisse Schärfe. Ich reiße mich zusammen, atme tief durch und versuche einen klaren Blick zu bekommen. Viggo deutet auf einen der Lkws, die eben aus der Stadt fahren. Für mich sehen sie alle gleich aus, aber wahrscheinlich ist es ein bestimmter Fahrer, den er bestochen hat, um die beiden Frauen mit zu nehmen.


Wir nähern uns dem Fahrzeug und Viggo winkt dem Fahrer zu, der daraufhin stehen bleibt und die Heckklappe öffnet, wo sich in dem Lader Nahrungsmittel befinden, hinter denen sich die beiden Frauen verstecken. Schnell klettern beide heraus und ich hätte sie in ihrer abgerissenen Kleidung nicht wieder erkannt. Ihnen muss bei mir genauso gehen, da sie mich nur in meiner Schuluniform und später in meiner Arbeitskleidung kennen. Rike trägt einen Rucksack mit sich, den Viggo ihr sofort abnimmt und Selma zwei Umhängetaschen. Eine davon nehme ich. Darin befinden sich Nahrung, Decken und Seile.

Bedächtig gehen wir durch das Lager, als würden wir uns um ein leeres Zelt umschauen. Ich hätte nie gedacht, dass es draußen so viele Menschen gibt. Ihr Zustand lässt wieder meine Tränen fließen. Kinder stehen vor den Zelten und halten bittend ihre Hände auf, dass ich mehrmals versucht war, ihnen etwas von uns abzugeben. Selma schien meine Gedanken zu spüren und zieht mich jedes mal energisch weiter.
 
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Wieder denke ich an meine Eltern und sehe sie vor mir, wie sie sich Sorgen machen, wenn sie feststellen, dass ich nicht mehr da bin. Aber wie Selma richtig sagte, ich muss Eigenverantwortung übernehmen und zu dem, was ich nicht mehr rückgängig machen kann, ausnahmslos stehen. Ich habe mich nun mal dazu entschlossen, zu gehen.



Wir sind am frühen Morgen los gezogen. An Abend, kurz vor Sonnenuntergang lassen wir das letzte Zelt hinter uns. Man kann sich vorstellen, wie groß dieses Lager ist, denn wir gingen ziemlich zügig voran. Und keiner von uns weiß, wie weit es bis zur Kluft ist und ob dies auch der rechte Weg dorthin ist.



„Jemand folgt uns“, sagt Viggo plötzlich.

Wir bleiben stehen und sehen uns um. Es sind zwei Männer und eine Frau. Wir hätten uns nicht verstecken können, da es weit und breit keine Vegetation gibt. So weit wir blicken, breitet sich ebener, trockener Wüstenboden vor uns aus. Schon als ich die Gegend sah, wollte ich Selma fragen, wo denn nun die Pflanzen und Tiere sind, von denen sie mir erzählt hat.

Die Männer tragen Proviant bei sich, während die Frau leer einher geht. Sie grüßen uns freundlich und fragen, wohin wir wohl gehen mögen.

„Einfach nur weg von hier“, gibt ihnen Viggo zu verstehen.

Einer der Männer dürfte in meinem Alter sein, der andere etwas älter. Die Frau, so schätze ich, ist etwas jünger als Rike. Die drei sind nicht miteinander verwandt. Sie haben sich im Lager getroffen und beschlossen, nicht hier zu bleiben. Als sie uns vorbei ziehen sahen, gingen sie uns einfach nach.

„Ich habe von einem Land gehört, das jenseits der Kluft ist. Dort würde es den Menschen besser gehen“, sagt die Frau, nachdem wir uns vorgestellt haben und langsam weiter gehen.

Rike und Viggo werfen sich einen Blick zu und nicken.

„Wisst ihr den Weg dorthin?“ fragt Rike.


„Nach Osten und ich denke, wir sind in die richtige Richtung unterwegs. Hinter uns geht die Sonne unter“, meint die Frau, die sich mit dem Namen Lea vorstellt. Der jüngere Mann heißt Abram und der ältere nennt sich Sam.



Wir erkannten kaum, dass wir auf unserem Weg weiterkommen, da sich die Gegend um uns kaum veränderte. Die Eintönigkeit schläferte uns ein und das Fehlen der Injektionen zeigte langsam seine Wirkung. Vor allem Rike und ich waren betroffen. Wir waren wie Drogensüchtige, bekamen Krämpfe und wurden immer wirrer im Kopf. Deshalb schreibe ich auch in der Vergangenheit, weil ich kaum eine Erinnerung an diese Wegstrecke hatte, bis wir unseren ersten Baum sahen und einige Sträucher dahinter, bis der zuerst rissige und dann ockerfarbene Boden grün wurde. Viggo und die anderen drei wälzten sich im taunassen Gras, steckten ihre Gesichter rein und tranken das frische Nass.

Dieses Bild habe ich noch vor mir, aber den Genuss, den Planeten in seinem natürlichen Kleid zu sehen, hatte ich erst viel später, nach den Entwöhnungszuständen. Rike war mir in dieser Hinsicht voraus. Bei ihr dauerte es nur wenige Tage. Wahrscheinlich nahm sie irgendwelche Zusätze, da sie als Chemikerin und Ärztin Zugang hatte.

Viggo verriet mir, dass er es oft irgendwie schaffte, gewissen Injektionen aus dem Weg zu gehen. Unsere anderen drei Weggefährten waren überhaupt nicht davon betroffen. Sie waren nur sehr empört, als sie die Wahrheit erfuhren. Wie wir so etwas nur zulassen konnten! Damit meinten sie nicht nur die Krankheitserreger, mit denen wir die Lager verseuchten, sondern auch das, was wir mit uns selbst anstellen ließen.

Selma hatte es leichter, auch wenn sie ein bis zwei Tage an der Entwöhnung litt. Sie sprach nicht mehr viel. Gerade noch das Wichtigste. Bäume, Gebüsch und Wiese kümmerten sie nicht. Das kannte sie ja bereits. Auch als uns das erste größere Tier begegnete, machte sie keinen so wilden Tumult wie wir. Sogar Abram, Sam und Lea hüpften freudig herum, als ein etwas über ein Meter großer Vierbeiner an uns vorbei preschte. Selma meinte, das sei ein Pferd gewesen. Es würde wieder Wildpferde geben.



Aus den alten Geschichtsbüchern wusste ich so halbwegs einige Tierarten, aber Pferde waren da nie dabei. Es muss also schon lange zurück liegen, als es noch Pferde gab. Ich kannte vorwiegend noch die Nutztiere aus den alten Büchern, wie etwa Kühe, Schweine und Geflügel.

Damals empfanden es manche Menschen als Grausamkeit, diese Lebewesen, die ihnen ähnlich waren, einzusperren und zu Tode verurteilen, was auch bei gewissen Menschen damals noch üblich war. Immer mehr Menschen weigerten sich, bevor der große Krieg ausbrach, Fleisch zu essen. Nach dem Krieg gab es ohnehin nichts mehr und viele starben an Seuchen, Hungertod und Umwelteinflüsse, da es zuerst bitterkalt und schließlich überall heiß wurde. Es war ein Wunder, dass sich manche Menschen retten konnten und schließlich derartige Imperien aufstellen konnten, wie es sie heute gab.



Ich weiß nicht, woher das Wissen kam, mit dem in den Fabriken gearbeitet wird. Eigentlich weiß es niemand. Niemand macht mehr Notizen. Es gibt keine Geschichtsschreiber mehr. Auch als ich Rike zu diesem Thema befrage, schaut sie mich nur mit großen Augen an und zuckt mit den Schultern.

Es ist das erste zusammenhängende Gespräch, das Rike und ich nach unserer Entwöhnung haben, als wir nebeneinander gehen und uns noch immer ein wenig über unser Benehmen schämen.


„Es ist seltsam, aber diese Frage hat sich nie jemand gestellt. Wir leben schon sehr lange in den Städten, wissen von anderen Städten und haben durch Kuriere auch einen Austausch unseres Wissens. Aber woher dieses Wissen kam und von wem, weiß niemand“, stellt sie erstaunt fest und nimmt aus einer Seitentasche eine kleine Dose, in der sie die Tagespillen aufbehält.

Feste Nahrung, wie sie chemisch in den Fabriken hergestellt wird, wäre zu aufwändig gewesen, also entschieden sich Rike und Viggo für jede Menge Pillen, die Hunger und gleichzeitig auch Durst stillen. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas bei uns gibt.

„Ja, das“, meint Rike, als ich ihr zusehe, wie sie die Pille schluckt, „Davon habe ich auch erst erfahren, als ich mich vor ein paar Jahren bei einem Kurier erkundigte, wie er es so lange ohne Nahrung aushält, da er einige Tage zur nächsten Stadt unterwegs ist. 'Das weiß du nicht, du als Chemikerin?' lachte er mich aus. Seitdem weiß ich, dass wir derartige Vorräte haufenweise lagernd haben. Und sie brauchen so wenig Platz.“

Den letzten Satz lacht Rike heraus.

„Wir wissen so wenig über uns selbst. Meinst du nicht?“ frage ich.

„Vielleicht ist das auch besser so“, sagt Rike noch immer lachend und gesellt sich nach vor zu den anderen.
 
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