Was ist Wissenschaft und wie funktioniert sie?

martinpi

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Wir beginnen beim oberen Kastl in dem kreisförmigen Diagramm. Natürlich könnte man auch bei jedem anderen Kastl im Kreis anfangen.

wie-funktioniert-wissenschaft.jpg

Eine wissenschaftliche Erkenntnis beginnt normalerweise mit einer Fragestellung.
Zufalls-Ergebnisse gibt es auch, aber das ist eben der häufigste Fall.
Ein Ornithologe wird mit dem Fernglas in den Wald gehen, ein Soziologe wird eine Umfrage machen, und die Physiker machen Experimente.
So oder so kommen wir zu einer Beobachtung.

Da haben wir schon das erste Problem: Der Mensch ist ein schlechter Beobachter.
Er vergisst manches, erinnert sich an Dinge die gar nicht waren, überbewertet Einzel-Ergebnisse, besonders dann, wenn das heraus kommt was heraus kommen soll. Das heißt, wir müssen die Beobachtung möglichst objektiv machen. Aus der Medizin kennt ihr den Doppel-Blind-Versuch, bei dem der Beobachter gar nicht weiß was heraus kommen soll, damit er das Ergebnis nicht (auch nicht unterbewusst) verfälschen kann.

Jetzt haben wir eine Beobachtung, was machen wir als nächstes? Veröffentlichen. Warum? Weil man veröffentlichen muss. Publish or perish. Veröffentlichen oder verrecken. Wenn man sich um eine wissenschaftliche Stelle bewirbt, oder wenn es sich um eine Vertrags-Verlängerung handelt, legt man seine Publikationsliste vor.

Wie veröffentlicht man? Aus der jüngsten Geschichte wissen wir, dass die Tageszeitung "Österreich" ein geeignetes Medium ist ;-)
Nein, es geht anders.
Man reicht sein paper, wie es im Jargon heißt, bei einem wissenschaftlichen Verlag ein. Der prüft es erst einmal formal und schickt es zur Begutachtung an andere Wissenschaftler, die im selben Arbeitsgebiet forschen, sogenannte peer-reviewers. Diese formulieren Anmerkungen und Kritikpunkte, schicken sie an den Verlag und der schickt sie anonym an der Autor. Der arbeitet die Punkte ab, macht Verbesserungen, und reicht es erneut ein. Das Spiel wiederholt sich so lange, bis die Arbeit zur Veröffentlichung angenommen wird.

Andere Wissenschaftler lesen diese Veröffentlichung, bauen darauf auf bzw. überprüfen ihrerseits die Resultate. Sie machen das gleiche Experiment und schauen ob das gleiche heraus kommt. Es kann passieren, dass die Arbeit auf Grund von Mängeln zurück gezogen wird. So z.B. geschehen im vergangenen Herbst, als eine bahnbrechende Arbeit über Supraleitung zwei Jahre nach der Veröffentlichung gegen den Willen des Autors zurück gezogen wurde.

Wir haben jetzt eine gesicherte Beobachtung. Idealerweise wurde nur beobachtet, ohne sich von dem Gedanken leiten zu lassen, was das bedeutet und wie es zu erklären ist. Das kommt im nächsten Schritt, das ist die Hypothese (rechtes Kastl): Es könnte so und so zu erklären sein.

Dann sind die Theoretiker am Werk (unteres Kastl). Sie versuchen eine Formel bzw. ein Formelwerk zu finden, mit der die neue Beobachtung erklärt werden kann.

Die Erklärung für etwas zu finden was man bereits kennt, ist nicht der heilige Gral der Wissenschaft. Eine Theorie muss mehr können, nämlich überprüfbare Voraussagen machen (linkes Kastl). Die Experimentalphysiker denken sich Versuche aus, um die Theorie zu überprüfen. In den meisten Fällen wird das heraus kommen, was man erwartet hat. Wenn etwas anderes heraus kommt, ist entweder etwas falsch, oder man hat eine neue Beobachtung gemacht. Die versucht man wieder mit einer Hypothese erklären usw.

So dreht sich das Radl ständig weiter und erzeugt Erkenntnisse.

Dass ich Originalarbeiten lese, kommt selten vor. Normalerweise genügt mir populärwissenschaftliche Literatur, sozusagen Wissenschaftsnachrichten in einfacher Sprache. Wie wir kürzlich gesehen haben, ist auf diese nicht unbedingt Verlass. Sie sind ja nicht überprüft. Eine gewisse Portion Skepsis und etwas kritische Betrachtung sind durchaus angebracht. Es beginnt dabei, nachzusehen, ob die Originalarbeit, auf die Bezug genommen wird, verlinkt ist. Nachsehen, ob sie in einem wissenschaftlichen Magazin veröffentlicht wurde, man googelt nach den Autoren und sieht im Zweifelsfall nach, ob überhaupt das drinsteht was in der Originalarbeit steht - bzw. umgekehrt.

Das Rad dreht sich also, und natürlich läuft es nicht immer so einfach und so rund wie ich es hier dargestellt habe. Es rumpelt, quietscht und eiert. Es gibt Plagiate, Fälschungen, persönliche Konflikte zwischen Forschenden, usw. Es gibt piracy magazines, die wie ein wissenschaftliches Magazin aussehen und die gegen Geld unüberprüfte Texte veröffentlichen. Einmal hat sich jemand darüber aufgeregt, dass 1% der wissenschaftlichen Arbeiten gefälscht sind. Ein anderer hat eingewendet: Bei dem Veröffentlichungs-Druck, dem die Leute ausgesetzt sind, ist 1% sogar ein sehr guter Wert.

So funktioniert also die wissenschaftliche Methodik. Jetzt sollte auch klar sein, dass nicht überall Wissenschaft drin ist, wo Wissenschaft drauf steht.

Nicht alles, was ein Wissenschaftler von sich gibt, ist Wissenschaft. Das schlimmste Beispiel ist Hans Peter Dürr. Als Leiter der Max Planck Gesellschaft war er der direkte Nachfolger von Werner Heisenberg und somit ein prominenter Wissenschaftler. Er hat die Arbeit, für die er bezahlt wurde, nicht gemacht, sondern populärwissenschaftliche Werke verfasst, in denen ungeheurer Blödsinn steht.

Oder Rupert Sheldrake. Er hat sich (gegen den Rat älterer Kollegen) aus dem Wissenschaftsbetrieb hinaus katapultiert, indem er ein Buch mit dem Titel "A New Science of Life - The Hypothesis of Formative Causation" geschrieben hat, das sich an ein Laien-Publikum gewandt hat und in dem nicht wissenschaftlich überprüfte Behauptungen stehen. Das angesehene Wissenschaftsmagazin Nature urteilte; "a book for burning". Auf deutsch heißt es "Das schöpferische Universum. Die Theorie des morphogenetischen Feldes", da ist die Hypothese auf magische Weise zur Theorie avanciert. Deutschsprachigen Lesern kann man offensichtlich mehr zumuten. Seine Grundidee ist alt und längst überholt, aber er macht weiterhin gute Geschäfte indem er seine Tätigkeit als Wissenschaft verkauft - und weil die Wenigsten wissen, was Wissenschaft ist.

Ihr wisst es jetzt.
 
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Ihr wisst es jetzt.
genau ;-)

wobei ja viele Theorien zuerst verworfen oder unterdrückt wurden, bis sie später mal Allgemeingut wurden, wie die Theorie der Kontinentaldrift, der Mendelschen Vererbungslehre und vieles weitere.
Wichtig ist, dass eine Theorie falsifizierbar (widerlegbar)sein muss, also das heisst, es gibt keine endgültigen Erkenntnisse.
 
genau ;-)

wobei ja viele Theorien zuerst verworfen oder unterdrückt wurden, bis sie später mal Allgemeingut wurden, wie die Theorie der Kontinentaldrift, der Mendelschen Vererbungslehre und vieles weitere.
Wichtig ist, dass eine Theorie falsifizierbar (widerlegbar)sein muss, also das heisst, es gibt keine endgültigen Erkenntnisse.

Simmt.

Der Wissenschaftsapparat ist träge. Für außergewöhnliche Behauptungen werden außergewöhnliche Beweise gefordert. Aber letztlich richtigen Ideen doch durch, auch wenn sie zuerst verworfen oder unterdrückt wurden.

Dass jede Erkenntnis umgestoßen werden kann (bzw. wie du richtig schreibst, umgestoßen werden können muss) und es daher keine endgültigen Erkenntnisse geben kann, ist ein Grundprinzip der Wissenschaft.
 
Ihr wisst es jetzt.

Wozu kann man dieses Wissen jetzt anwerden?
Ich zeige es anhand eines, für mich selbst überraschenden, Falls vor.

Ich hatte dazu schon vor einiger Zeit das hier im Netz gefunden:

https://idw-online.de/de/news391

Unter dem Titel "Beobachtung beeinflusst Wirklichkeit" wurde über ein Experiment am Weizmann Institute of Science berichtet. Danke Renate für den Link.

Der Text ist 25 Jahre alt, aber nicht minder spektakulär: Erstmals ist der sogenannte Beobachtereffekt nachgewiesen worden. Dass dieser Nachweis erst nach ca. 100 Jahren erbracht wurde, ist nicht ungewöhnlich. Bei der Verschränkung, bei Gravitationswellen, beim Higgs-Boson, beim Casimir-Effekt, etc. hat es auch lange gedauert. Das liegt meistens daran, dass die Technik erst so weit entwickelt werden musste, dass der Nachweis möglich ist.

Quantenheilung, Hellsehen, Telepathie etc. sind damit einer wissenschaftlichen Erklärbarkeit einen entscheidenden Schritt näher gekommen.

Diesen Link habe ich schon einmal erwähnt, dabei ist es mir mehr um die Physik gegangen. Diesmal soll es um die Wissenschaft an sich gehen bzw. um Wissenschaftskommunikation, und wie man solche Informationen richtig liest.

Handelt es sich dabei um einen wissenschaftlichen Text? Er sieht auf jeden Fall so aus. Das Weizmann-Insitut ist als solches über jeden Zweifel erhaben. Und "Informationsdienst der Wissenschaft" klingt auch Vertrauen erweckend.

Die fundamentale Aussage wird anhand eines Experiments belegt, das detailliert und trotzdem in leicht verständlicher Form beschrieben wird. Für eine genaue Beschreibung des Experiments und seiner Resultate wird auf eine wissenschaftliche Veröffentlichung verwiesen. Normalerweise sollte diese Veröffentichung verlinkt sein. Das ist sie nicht, aber da Journal, Autoren und das genaue Veröffentichungsdatum angegeben sind, ist es leicht, die Veröffentlichung zu finden.

Veröffentlicht wurde in "Nature", das ist eines der führenden wissenschaftlichen Journale. Es ist dafür bekannt, sehr genau zu überprüfen und eine Veröffentichung in Nature bringt den Autoren entsprechenden Respekt und viele sogenannte impact points ein.

Also gut, die Veröffentlichung aufsuchen. Dort sieht man erst einmal den abstract, das ist eine Kurzfassung, und zwar auf englisch. In diesem steht einiges über das Experiment, aber nichts über den Beobachtereffekt. Seltsam: Die Hauptaussage steht nicht im abstract? Das ist verdächtig.

Bis jetzt war alles ziemlich einfach und eigentlich könnte man es dabei schon bewenden lassen. Hätte ich im abstract eine Erwähnung des Beobachtereffekts gefunden, wäre ich jetzt fertig. Aber in der Originalarbeit könnte doch noch etwas darüber stehen, also weiter suchen. Die Originalarbeit ist nicht so leicht zugänglich. Andere Journale stellen ältere Arbeiten frei zur Verfügung, für diese Arbeit muss man bezahlen oder man findet sie in einer (Universitäts-)Bibliothek.

Und sie ist nicht so leicht zu lesen. Da geht es technisch und mathematisch zur Sache, natürlich auf englisch. Auf den ersten Blick habe ich das Gesuchte nicht gefunden. Mich interessiert das Experiment sowieso, also habe ich mich durchgebissen. Vielleicht steht es in der Schlussbetrachtung, vielleicht irgendwo im Text versteckt. In diesem Fall wäre der Artikel zwar aufgebauscht, aber nicht falsch.

Ergebnis: Auch im Volltext der Originalarbeit findet sich keine Erwähnung des Beobachtereffekts. Der Artikel ist definitiv fake news.

Wie kann so etwas, trotz der beschriebenen exakten Methodik, des Renommees des Weizmann-Insituts und des Renommees von Nature passieren?

Um die obige Frage zu beantworten: Der idw-Artikel ist keine wissenschaftliche Arbeit und daher vor der Veröffentlichung nicht unabhängig überprüft. Er berichtet in einfacher (und in diesem Fall deutscher) Sprache über eine wissenschaftliche Arbeit. Oder er sollte es tun. Normalerweise verlasse ich mich bei populärwissenschaftlichen Artikeln (Podcasts, Videos,...) darauf, dass der Inhalt auch wirklich stimmt.

Obwohl unter dem Titel groß "Weizmann Institut" steht, die email-Adresse rrluba@wis.weizmann.ac.il angeführt ist und Tal Eizman israelisch klingt: Der von Renate verlinkte Artikel ist nicht vom Weizmann-Insitut selbst.

Dem "Informationsdienst der Wissenschaft" dürften die Pferde durchgegangen sein. Ein Nachweis des Beobachtereffekts erregt natürlich viel mehr Aufmerksamkeit als der Bericht über ein weiteres dephasing-Experiment.

Und 25 Jahre lang ist das niemandem aufgefallen?
 
Auszüge aus dem oben genannten Artikel:

Zum Forscherteam unter der Leitung von Prof. Mordehai Heiblum gehoerten der Doktorand Eyal Buks, Dr. Ralph Schuster, Dr. Diana Mahalu und Dr. Vladimir Umansky. Die Forscher sind Mitglieder der Abteilung fuer Festkoerperphysik des Weizmann-Instituts und arbeiten am institutseigenen Joseph-H.-und-Belle-Braun-Zentrum fuer Submikronforschung.

Das Weizmann-Institut ist ein bedeutendes Zentrum fuer wissenschaftliche Forschung und Hochschulstudien in Rehovot, Israel. Die 2400 Wissenschaftler, Studenten und anderen Mitarbeiter des Instituts betreiben ueber 850 Forschungsprojekte, die das gesamte Spektrum der heutigen Wissenschaft abdecken.


Sowohl das Weizmann-Institut als auch die namentlich aufgeführten Forscher haben diesen von @martinpi
Der Artikel ist definitiv fake news.
fake news genannten Artikel über 25 Jahre lang so im Netz stehen lassen, ohne irgendwelchen Widerspruch oder Richtigstellung......

Das wäre doch die wirkliche Sensation in der Wissenschaft. Einem wissenschaftlichen Institut samt seiner Mitarbeiter wird eine Behauptung untergeschoben und niemand widerspricht.

Gibt es so was? Kann es das geben? Hat es so was schon mal gegeben?
 
IDW hat sehr allgemein geantwortet, dass sie für den Inhalt nicht verantwortlich sind und dass ich mich direkt an den Absender wenden soll. Klingt nach einer standard-Antwort.

Die beiden email-Adressen des Weizmann-Instituts (im Nature paper ist auch eine angegeben) sind ungültig. Ich habe deshalb an die allgemeine Kontaktadresse des Instituts geschrieben, aber bis jetzt keine Antwort erhalten.

Du glaubst mir eh nicht, das ist OK. Dann versuch halt selber, einen Beweis dafür zu finden, dass das Weizmann Institut den Beobachtereffekt nachgewiesen hat. Was ich in diese Richtung unternommen habe, habe ich beschrieben. Aber ich habe ja nur gesucht, um zeigen zu können dass die Suche erfolglos war. Du bist da besser motiviert. Nur zu! Wühl dich durch die wissenschaftlichen(!) Publikationen, kontaktier die Autoren und Institutionen, mach dich an die Arbeit.
 
Alles schön und gut verehrte Herren und Damen, aber zur Wissenschaft gehört auch Erfahrung. Doch zugegeben, dies gehört zu einer anderen Wissenschaftskultur. Für mich sind die Aspekte einer Wissenschaft ausschlaggebend.
Ich akzeptiere keine Wissenschaft, nur aufgrund des Instituts, wenn die Basis nicht stimmt, das ist ja lächerlich.
 
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IDW hat sehr allgemein geantwortet, dass sie für den Inhalt nicht verantwortlich sind und dass ich mich direkt an den Absender wenden soll. Klingt nach einer standard-Antwort.

Die beiden email-Adressen des Weizmann-Instituts (im Nature paper ist auch eine angegeben) sind ungültig. Ich habe deshalb an die allgemeine Kontaktadresse des Instituts geschrieben, aber bis jetzt keine Antwort erhalten.

Du glaubst mir eh nicht, das ist OK. Dann versuch halt selber, einen Beweis dafür zu finden, dass das Weizmann Institut den Beobachtereffekt nachgewiesen hat. Was ich in diese Richtung unternommen habe, habe ich beschrieben. Aber ich habe ja nur gesucht, um zeigen zu können dass die Suche erfolglos war. Du bist da besser motiviert. Nur zu! Wühl dich durch die wissenschaftlichen(!) Publikationen, kontaktier die Autoren und Institutionen, mach dich an die Arbeit.
Bei uns sagt man: Mit einem Beweis konnte ich 40 Wissenschaftler bezwingen, Aber mit 40 Beweisen verlor ich gegen einen Unwissenden.
 
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