Jeder Wissenschaftler braucht ein Glaubensgebäude, um überhaupt arbeiten zu können. Da gibt es die Grundannahmen, auf die aufgebaut wird, den Glauben, dass bestimmte Methoden zuverlässige Ergebnisse bringen, Regeln, um wissenschaftliche Schlussfolgerungen zu ziehen. Und dann gibt es die Arbeitshypothesen, an die man versuchsweise glaubt.
Der Glaube an Arbeitshypothesen kann schnell ausgetauscht werden, manchmal kann sogar der Glauben an bestimmte Grundannahmen, Methoden und Regeln erschüttert werden. Am Ende verbleiben in einer Theorie die Glaubenssätze, denen man am meisten glaubt. Doch egal, wie gut eine Theorie nachgeprüft wird, letztlich bleibt es ein Glaubensgebäude, das dadurch gewinnt, dass man andere davon überzeugen kann, es in ihre Glaubenswelt mit aufzunehmen. Innovative Wissenschaftler zeichnen sich auch dadurch aus, dass ihr Glaubensgebäude nicht so festgefügt ist wie bei anderen.
Man könnte meinen, die Mathematik habe eine gewisse Sonderstellung darin, aber das stimmt nur teilweise. In der Mengenlehre gibt es eine Grundannahme, das ZORNsche Lemma, die man entweder glauben kann oder nicht, beweisbar ist sie nicht. Es ergibt sich daraus ein anderer Mengenbegriff, und weil die Mengenlehre Basis für alles andere ist, spricht man von einer Mathematik mit ZORN und eine Mathematik ohne ZORN, und ein Mathematiker kann sich entscheiden, welcher Mathematik er glaubt.
Manchmal höre ich, dass in der Religion das Wort Glaube eine andere Bedeutung besitzt, und zwar in etwa "tiefes Wissen". Ich halte das nicht für richtig, schon die Existenz diametral unterschiedlicher Religionen gibt mir recht. Ich meine hingegen, dass sich beispielsweise die Naturwissenschaft nicht grundsätzlich von der Religion unterscheidet, nur dass der Fokus ein anderer ist, und die Grundannahmen, Methoden, Regeln anders sind. Und diese bilden ebenfalls ein Glaubensgebäude, analog beispielsweise zum Gebäude der modernen Physik.
Und auch für die Esoterik verhält es sich nicht anders. Oft wird der Unterschied zur normalen Wissenschaft (Exoterik) mit objektiv/subjektiv angegeben, aber das ist nicht richtig. In Wirklichkeit sind es Methoden wie die kontemplative Innenschau, die in der Esoterik zentral sind, aber in der Exoterik letztlich nicht zugelassen sind. Und eine esoterische Theorie/Richtung ist wertlos und verschwindet, wenn sie nicht von mehreren Menschen nachvollzogen und bestätigt werden kann, wodurch sie ebenfalls den Rang von Objektivität bekommt. Das ist das selbe wie in der Quantenphysik, wenn man berücksichtigt, dass nicht viele Leute Elektronenbeschleuniger so gut bedienen können, dass sie den Beweis wirklich nachvollziehen können, dass es Reaktionen gibt, die nicht den Gesetzen der klassischen Physik, wohl aber der Quantenmechanik gehorchen.
Was heißt schon falsifizierbar? Es gibt unzählige Theorienstreits in der Naturwissenschaft, in denen die eine Seite der jeweils anderen vorwirft, falsch gemessen zu haben, oder von falschen Annahmen ausgegangen zu sein. Insofern ist auch keine wissenschaftliche Theorie wirklich "falsifizierbar", nur manche Theorien werden unpopulär und sterben aus. Wenn man das als "Falsifizierung" ansieht, dann gibt es Falsifizierung natürlich auch in der Religion und in der Esoterik.