Impressionen

Thygyrill hockt im Schneidersitz auf seinem Lieblingsplatz. Tränen fließen aus seinen mit Goldstaub geschminkten und mit Kajal umrandeten Augen. Er will nicht brutal und grausam gewesen sein. Nicht er! Wenn, dann Ysil, die ewige Kriegerin. Vor allem, als sie ihm vom Leben der Priesterin erzählte, als sie Morgana, die Hexe kennen lernte. Es gab sie wirklich, die Schwester von König Arthur, wie die wahre Legende (wie die herrlichen Bücher von Marion Zimmer Bradley) es bezeugt. Morgana war nicht böse. Sie vertrat die alte Religion, jene, die noch eins mit der Natur war. Durch die Kraft der Natur, mit der alle Priesterinnen unter Morgana gesegnet waren, konnten sie auch Böses herauf beschwören – Böses für jene Menschen, die ihnen Böses antun wollten. Böses mit Bösem vergelten. Er hätte das nie getan. Er, Thygyrill, der Sanfte, der sich damals selbst den Todesstoß gab, als er seine große Liebe – seinen eigenen Vater – verlor. Niemals hätte er andere verletzt. Sich selbst ja, aber andere? Niemals! Nicht, dass er zu feig dazu gewesen wäre, wie er noch immer manchmal glaubt. Ja, manchmal hält er sich schon noch für einen Feigling, der Schwierigkeiten lieber aus dem Weg geht, als sich der Herausforderung zu stellen.

„Aber das ist das Leben, Thygyrill! Das Leben selbst ist immer eine Herausforderung, dem man sich zu jeder Zeit und an allen Orten stellen muss.“

Thygyrill wendet sich um. Dieses Wesen, das mit so einer überaus weichen, sanften Stimme gesprochen hat, hat er hier und überhaupt noch nie gesehen. Es leuchtet ein wenig zu dunkel, aber es ist wunderschön.



Bevor ich dieses Wesen zu Wort kommen lasse (falls es überhaupt spricht!) wiederhole ich noch einmal folgendes: Bewusstsein und Gefühle gehören dem weltlichen Körper an und Geist und Seele dem Jenseits.

Dick und fett notiert wie die Worte 'rein und unverwundbar', was für die Quelle der Kraft und die Andere Seite steht, nämlich für den Geist und für die Seele.

Über Bewusstsein wurde schon viel gesagt, viel zu viel. Auch über den Bewusstseinsstrom, der eigentlich besser erklärt, als die Bewusstseinsblasen. Strom, nicht der für Energie oder Licht, sondern ein sehr breiter Fluss, Wasser, das Fließende. Alles fließt, wie angeblich schon Heraklit einst sagte. Angeblich! Ja, weil ich es nicht weiß und nicht dabei war, als er es sagte. Wahrscheinlich. Oder gab es mich damals? Eher nicht. Aber immer alles anzweifeln! Nie was für gesichert halten. Nichts ist sicher. Niemals. Soviel zu dem, was wir Wirklichkeit nennen. Auch nicht sicher. Niemals. Alles nur Worte. Und nun aufgepasst, denn es folgen weitere verwirrende Worte!



Wir hängen uns an den Bewusstseinsstrom, den wir selbst mit Kraft unseres Gehirns entwickelt haben. Und Gefühle? Sie entstehen durch die Hormone im Körper. Ganz klar.

Was aber sind Geist und Seele? Das Geistige. Das Unsichtbare. Aber Geist ist sehr viel mehr als nur das. Er ist jene Kraft, die Leben erst erschafft, egal wie und egal welches Leben. Besteht die Quelle der Kraft aus Geist? Könnte man sagen. Sie ist Geist, sie ist reiner und unverwundbarer Geist. Seele hingegen könnte man ihre Aspekte nennen, oder viel mehr ihre Emanationen, jene Energiebänder, die das Universum und ihre Lebewesen darstellen. Darstellen? Vielleicht spielen? Sie stellen das Theater, samt Stück dar, alles, das Theater, wie das Stück selbst, ob es sich um ein Lustspiel oder ein Drama handelt, egal, und natürlich die Schauspieler, die Hauptakteure des gesamten Manövers. Zugleich jedoch sind diese Seelen (Ganzheiten des Selbst) auch die Quelle der Kraft selbst, eins mit der Quelle der Kraft – untrennbar eins.



„Das Leben ist eine Herausforderung? Für wen?“ fragt Thygyrill und dreht sich im Schneidersitz zu dem Wesen um, wodurch er jetzt mit dem Rücken zum schier bodenlosen Abgrund hockt.

„Für uns alle“, sagt das Wesen, wobei es natürlich nicht spricht wie Menschen sprechen. Dennoch übermittelt es Thygyrill genau das und Thygyrill, der ja auch nicht mehr spricht wie ein Mensch, übermittelt dem Wesen auch genau das.

„Ich bin böse“, klagt Thygyrill.

„Wer sagt das?“

„Eigentlich niemand. Aber ich weiß, dass ich böse bin, weil ich die Dinge auf eine sehr bösartige und grausame Art wahrnehme.“

„Du meinst das mit Ysil und ihrem Drachen?“

„Woher weißt du das?“

„Ich weiß es eben. Das war nicht bösartig und schon gar nicht grausam. Ysil und ihr Drache haben sich ausgetauscht. Blut und Blut sind eins, genauso wie Geist und Seele eins sind. Wir nennen es Blut, weil es fließt. Der ständige Lebensfluss. Der Blut- und Bewusstseinsfluss.“

„Ich verstehe nicht.“

„Ysil legte ihren Kopf in Sir Izmirs Herz. Welch wundervolles Bild. Du bist noch immer viel zu sehr Mensch, Thygyrill, weil du dieses Bild nicht als das erkennst, was es tatsächlich darstellt. Sicher wäre es ein noch größerer Vorteil gewesen, wenn du auf Arimas Anweisung gehört und nicht geschaut, sondern mit all deinen Sinnen 'gesehen' hättest.“

„Was hätte ich 'gesehen'?“

„Fließende Energie, die wie aus einem Vulkan hervor bricht. Oder vielleicht Energie, die wie ein Feuerwerk am Himmel explodiert. So was in der Art. Sir Izmirs Blut ist nun Ysils Blut, das sie in ihrem Kopf empfangen hat und er in seinem Herzen. Kopf und Herz haben sich vereinigt. Blut und Blut sind eins.

Wir sammeln Bewusstsein. Wir sammeln so viel Bewusstsein wie nur möglich. Deshalb gibt es das Universum. Deshalb gibt es die Seelen, die sich an den Bewusstseinsstrom hängen, den sie selbst erschaffen haben.“



Wie ich bereits sagte. Aber wie gesagt, man soll nicht sofort alles glauben, bevor man es nicht weiß. Ach, noch immer so viel Kopf! Zu viel Kopfsache! Kopf und Herz sollen doch eins sein, so wie Diese und die Andere Seite eins sein soll.



„Du beantwortest gleich zwei Fragen auf einmal. Eben wollte ich fragen, ob Ysil recht hat und Arima niemals die beiden Energien harmonisieren hätte dürfen.“

„Er hat die Energien so verteilt, wie es für alle Lebewesen am besten ist. Und am besten ist für alle Lebewesen, dass sie so viel Bewusstsein wie nur möglich schöpfen.“

„Das hört sich nach Sklavenarbeit an. Für wen schöpfen wir Bewusstsein?“

„Für uns, Thygyrill! Nur für uns selbst!“

Und im nächsten Moment war das Wesen verschwunden, ohne dass Thygyrill es fragen konnte, woher es kommt und wer es ist.

In Windeseile macht sich Thygyrill auf zu seinem weißen Palast und hofft, Arima anzutreffen. Aber weder sein weißer Palast, noch Arima sind da. Nicht einmal die Stadt ist da und auch nicht die angrenzende Gegend, die Wälder und Wiesen und Felder und all das. Nichts ist da. Nichts?
 
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Was, wenn du einem Etwas gegenüber stehst, das du nirgendwo einordnen kannst? Etwas, das sich im Bereich des Unerkennbaren befindet? Etwas, von dem es tatsächlich nichts Vergleichbares gibt. Was wirst du dann erkennen? Nichts?



Thygyrill schwebt im Nirgendwo. Er sieht nichts. Er hört nichts. Er riecht nichts. Er schmeckt nichts. Er fühlt nichts. Sein Körper oder das, was man seinen Körper (immerhin ist er kein irdischer Mensch mehr) nennen könnte, berührt nichts.

Erinnert ein wenig an das wunderbare Herz-Sutra. Dennoch ist da ist nicht nichts. Da ist die Andere Seite. Das ist alles. Und diese Andere Seite ist das Gegenstück von Dieser Seite, wo es alle möglichen Arten von Wahrnehmungen gibt. Und doch bedingen sie einander. Eine kann es ohne die andere nicht geben. Eine kann ohne die andere nicht existieren. Sie sind die zwei, die eine sind.




„Werden wir immer mehr zur Energie der Anderen Seite?“ fragt Ysil, als sie neben Sir Izmir und Arima (der erst genannte rechts, der andere links von ihr) durch eine Blumenwiese wandert.

„Schwer zu sagen“, erwidert Arima. „Ich würde eher sagen, wir tendieren dahin, wo es kaum noch Wahrnehmung gibt. Die Lebewesen werden immer unbekümmerter. Sie wissen bereits, dass ihnen nichts passieren kann. Selbst wenn sie sterben.“

„Selbst wenn sie sterben?“

„Na ja, wir sind anscheinend nur Lastenträger. Unsere persönliche Geschichte ist ein Großteil unseres Bewusstseins, die wir im Tode ablegen. Versteh mich nicht falsch, Ysil. Das heißt nicht, dass alles für nichts ist. Bewusstsein ist Energie, so wie alles Energie ist. Alles ist immer nur die Quelle der Kraft, wenn wir es ganz genau nehmen. Alles andere ist veränderlich, zerstörbar oder wie immer du es nennen willst, - sogar die Energie der Anderen Seite ist nicht so starr, wie wir meinen. Auch sie neigt zur Veränderung.“

„Heißt das, die Quelle der Kraft nimmt alles in sich auf? Frisst sie sozusagen unsere Geschichte?“ fragt Ysil verwirrt.

„Die Quelle der Kraft nimmt nichts auf. Sie ist unveränderlich. Sie ist rein und unverwundbar und unveränderlich.“

„Sozusagen ist alles immer schon in ihr gewesen, auch wenn die Momente für uns erst zu kommen scheinen.“

„Kluges Kind, Ysil. Besser hätte ich es auch sagen können, obwohl es kaum Sinn macht, über die Quelle der Kraft zu sprechen, da alles Gesagte sehr zur Verfälschung neigt. Es stimmt also nicht wirklich, dass alles schon immer in ihr gewesen ist, da es so etwas wie – in ihr – nicht gibt. Aber wie gesagt, es ist zwecklos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wie wir einst so schön auf der Erde sagten.“

„Irgendwann aber erinnern wir uns wieder, auch wenn es so scheint, dass manche Leben für nichts und wieder nichts waren und sie scheinbar irgendwo in den Zeiten und Räumen irgendwelcher Welten für immer verloren gegangen sind.“

„Vielleicht gibt es Leben, an die wir uns als Ganzheit des Selbst gar nicht erinnern wollen?“ meint Arima scherzhaft und die beiden lachen. Sir Izmir blickt die beiden groß an und schüttelt verwundert seinen riesigen Kopf.





Thygyrill ist kurz versucht zu sprechen, aber ihm fehlt die Erinnerung daran. Er weiß nicht, wie Sprechen funktioniert und wozu es gut ist. Er fühlt nichts mehr, obwohl man sagen könnte, er fühlt sich eins mit allem, wobei er alles gleichzeitig als Nichts empfindet, selbst wenn er nichts empfindet.

Irgendwie wären jetzt die Zeilen von Sören Kierkegaard passend:


Einsam sich selbst überlassen, steht er in der Welt. Er hat kein eigenes Zeitalter, an das er anknüpfen kann, denn seine Vorzeit ist noch nicht gekommen. Keine Nachzeit, auf die er hoffen kann, denn seine Nachzeit ist schon vorüber. Einsam hat er die ganze Welt gegenüber als das Du, mit dem er in Widerstreit liegt, denn die ganze übrige Welt ist für ihn nur eine einzige Person. Und diese Person, dieser unabweisbar zudringliche Freund ist das Missverständnis. Er kann nicht alt werden, denn er ist nie jung gewesen. Er kann nicht jung bleiben, denn er ist schon alt geworden... usw.“



Man hält es kaum für möglich, dass es um 1840 Menschen gab, die derartige Gedanken hatten. Oh doch! Ich halte es für möglich. Ich halte es sogar für möglich, dass die Menschen damals, je weiter man zurück geht, nachdenklicher und genialer waren als heute im E-Zeitalter. E steht für Elektronik. Ein furchterregendes und ebenso furchtbares Zeitalter. Überwachung und Bevormundung, obwohl man meint, endlich gäbe es eine gewisse Freiheit. Das Gegenteil ist der Fall! Selbst die Freiheit, alles zu wissen, was es zu wissen gibt (Google weiß alles!), macht uns noch mehr zu programmierte Lebewesen.

Die persönliche Geschichte besteht nur mehr aus elektronischen Daten. War sie früher schon nichts als Ge- und Erlerntes, ist sie heute das Zertrümmern jeglicher Individualität, auch wenn es anders scheint. Es gibt keine Individualität mehr. Für mich bedeutet Individualität nichts anderes als Authentizität, auch wenn es sich um zwei verschiedene Begriffe handelt. Es gibt nichts Echtes mehr.



Die persönliche Geschichte lässt sich nicht auslöschen, auch wenn sie noch so unpersönlich ist. Die persönliche Geschichte ist das, was ich erlebt habe, das, was mich ausmacht. Wer bin ich denn, wenn ich alles, wirklich alles, vergesse?

Und schließlich ist es Thygyrill, der ein wenig hart auf dem Boden 'seiner Stadt', direkt vor dem Portal seines weißen Palastes aufschlägt und laut klagend schreit: „Wer bin ich?“
 
„Wo ist eigentlich Thygyrill?“ fragt Ysil und lässt sich mit Arima am Seeufer nieder, während Sir Izmir zu den anderen Drachen stampft, die auf der Wiese grasen.

„Er bekommt gerade eine Lektion in Sachen Demut.“

„Wie bitte? Ausgerechnet Thygyrill, der die Demut selbst ist?“

„Du meinst, er ist demütig, Ysil?“

„Und wie! Er traut sich selbst überhaupt nichts zu und glaubt, für nichts und wieder nichts geboren worden zu sein. Weißt du, was er mir letztens sagte?“

„Nein, Ysil, aber wir könnten ein Rate-Quiz starten.“

„Scherzbold! Er sagte, auf der Erde, so weit er sich erinnern kann, dachte er stets, er würde dem lieben Gott die Zeit stehlen. Das war aber nicht wörtlich gemeint. Thygyrill meinte, es gab so viele kluge und fleißige Menschen, denen die Zeit davon rannte. Er hätte diesen Menschen seine Zeit gerne gegeben, weil er glaubte, für nichts und wieder nichts auf der Welt zu sein.“

„Ysil, das ist Selbstmitleid. Thygyrill ging in seinem Selbstmitleid auf und bettelte damit gleichzeitig nach allen möglichen Anerkennungen. Sobald mal jemand zu ihm sagte, er sei ja so gut in diesem oder jenem, hättest du seinen Energielevel sehen sollen. Da bauschte sich in seinem Innersten einiges auf. Und weißt du, was das war? Nein, nichts da mit Rate-Quiz! Es war sein Ego, das sich von Selbstmitleid und Anerkennung nährte und Thygyrill damit immens schwächte.

Thygyrill erkennt bis heute nicht, dass das Ego nichts anderes als eine Entwicklung des Körpers ist, um mit der entsprechende Wahrnehmung zu unterscheiden (aber nicht urteilen oder verurteilen! ← Anm. der Autorin). Leider meint das liebe Ego in seiner vollen Entwicklung alles zu besitzen und Herrscher über alle anderen Lebewesen zu sein. Alles, Körper, Bewusstsein, wie auch das Ego, sind nur geborgt und meistens wird all das missbraucht. Deshalb wäre Demut sehr angemessen. Jedoch Demut, die vor niemandem den Kopf zu beugt, aber auch niemandem gestattet, vor ihr den Kopf zu beugen.“

„Wir sind nichts, oder, Arima?“

„Wir sind zu klein, Herz“, murmelt Arima und lächelt sanft.

„Was?“

„Ach, nichts. War nur so ein Gedanke. Siehst du, Ysil und du bist wieder das Gegenteil. Du trumpfst zwar auf, als wärst du das Selbstbewusstsein in Person, aber tief in dir fühlst du dich so, wie Thygyrill vorgibt zu sein.“

Ysil blickt überrascht auf. Ihr Blick ruhte vorhin auf dem See, dessen Spiegel glatt und ruhig war und doch alle Umgebung in sich reflektierte.

„Du meinst, Thygyrill hält mehr von sich selbst als er zugibt? Und ich glaube, der letzte Dreck des Universums zu sein?“

„So in etwa könnte man es sagen. Aber ich weiß, dass Sir Izmir dir helfen wird. Immerhin hat er dir gestattet, deinen Kopf mit seinem Herzen zu vereinigen und das haben noch nicht viele Drachenreiter geschafft.“

„Und Thygyrill?“

„Siehst du, das meine ich, Ysil! Du sorgst und kümmerst dich nie um dich, aber bei anderen bist du beinahe eine Heilige.“

„Was ist eine Heilige?“

„Eine blöde Benennung, die eigentlich nur ausdrückt, dass sich jemand mehr um andere als um sich selbst kümmert.“

„Ist das nicht der Sinn des Lebens?“

„Zum Großteil schon, aber es sollte nicht in Selbstaufgabe ausarten wie bei dir manchmal. Ich wiederhole für dich noch einmal. Wahre Demut bedeutet, vor niemandem den Kopf zu beugen, aber auch niemandem gestatten, vor einem den Kopf zu beugen. Verstanden?“

„Ich beuge vor niemandem den Kopf, Arima.“

Arima verdreht die Augen und seufzt.

„Das ist bildlich gesprochen. Also sag mir, wer, meinst du, steht höher in der Hierarchie – Izmir oder du?“

„Natürlich Sir Izmir!“

„Und wer steht in der Hierarchie unter dir – dieser kleine rote Käfer, der eben auf dem Grashalm dort krabbelt, oder du?“

„Der Käfer natürlich!“

Arima seufzt abermals. Vielleicht, denkt er, hat er sich geirrt, als er die beiden in diese Dimension mit genommen hat. Aber noch ist nichts verloren, denkt er und blickt Ysil lächelnd an, als er bemerkt, dass es ein wenig in ihrem Energieleib funkt.

„Ja klar! Ist doch logisch!“ jubelt sie auf. „Es scheint, als wäre in mir, genauso wie in Thygyrill, noch immer zu viel Mensch. Aber wir sind weder Mensch, noch dieses hier, als was wir uns wahrnehmen, denn in Wirklichkeit sind wir reine, unsterbliche Energie, die sich von nichts und niemandem unterscheidet. Sir Izmir, der Käfer und ich sind in Wahrheit nichts als Energie. Wir unterscheiden uns nicht, selbst wenn es durch die Wahrnehmung in dieser Dimension hier so scheint. Wir müssen endlich darüber hinaus gehen und der Wahrheit ins Gesicht blicken.“

„In die Fratze, Ysil, in die Fratze“, flüstert Arima unheilvoll und Ysil läuft ein kalter Schauer über den ganzen Körper.
 
Die Gassen sind voll mit Menschen, pardon, voll mit Wesen, Lebewesen oder wie auch immer. Natürlich sind es keine Menschen, da Menschen nur auf der Erde leben. Hier, in der Stadt, die Thygyrills Stadt genannt wird, gibt es andere Wesen, bunte Wesen, halb Tier- halb Humanoidwesen.

Die Gassen der Stadt, kurze, enge, breite Gassen sind überfüllt von ihnen. Es ist laut und Thygyrill steht entsetzt vor dem Portal seines weißen Palastes. Ihm graut vor Menschenaufläufe, pardon, vor Wesenaufläufe.

Seltsam, bis jetzt ist ihm nicht aufgefallen, wie leer die Stadt stets war. Er bemerkte, außer ihm, keine anderen Bewohner in diesen Prachtbauten. Würden Ysil und Arima nicht ab und zu vorbei schauen, würde sich Thygyrill vollkommen allein fühlen.

Thygyrill bekommt es mit der Angst zu tun. So groß ist die Stadt auch wieder nicht, selbst wenn in all den Palästen, Schlössern und Prachtvillen viele Wesen (oder was auch immer) Platz hätten. Aber so viele auch wieder nicht, wie sich eben ein breiter Strom an seinem Vorgarten vorbei wälzt.



Wir überschätzen uns oft. Wir meinen, besser zu sein als viele andere. Mit 'wir' meine ich mich selbst, da ich nicht nur ein Ich in mir trage, sondern mehrere, die ich 'wir' nenne. Hat doch jeder! Ist ja nichts außergewöhnliches.

Was, wenn es plötzlich kein Wir, ja nicht einmal mehr ein kleines Ich gibt?

Ich wende mich mal kurz von Thygyrill ab und denke an einen Film den ich vor kurzem gesehen habe. Er nannte sich „Dark City“. In diesem Film wacht ein Mann auf und ist plötzlich ohne Erinnerung. Außerirdische haben die Stadt überfallen und geben den Menschen durch Injektionen, während sie sie in Schlaf versetzen, andere Erinnerungen ein, die sie niemals wirklich hatten.

Wie wirklich sind unsere Erinnerungen tatsächlich? Sind es immer „unsere“ Erinnerungen?



Was also sind wir ohne Erinnerungen? Genau diese Frage stellte sich Thygyrill, als er vor dem Portal seines weißen Palastes lag. Dabei geht es gar nicht so sehr darum, ob unsere Erinnerungen wirklich sind. Viel mehr geht es darum, ob wir selbst wirklich sind, falls wir uns bloß als Menschen wahrnehmen, aber in Wirklichkeit nichts anderes als eine Art Energietropfen, Energieband, oder wie auch immer, sind?

Matrix lässt grüßen. Auch ein Film, der nachdenklich macht.

Was aber, wenn alles so ist, wie es ist (na, wie ist es denn?) und wir nur Hirnspinnerei betreiben, weil das alltägliche Leben ja sonst langweilig wäre. Wir werden geboren, weil die Evolution das so beschlossen hat, leben ein ganz gewöhnliches Leben, das uns vorgeschrieben wird, sterben und werden begraben. Aus. Finito. This is the end, my friend. Oder gibt es doch so etwas wie ein Jenseits?



Um beim Film zu bleiben, letztens sah ich einen Film, der von einer Welt erzählte, in der es keine Lügen gibt. Aber plötzlich kann ein Mann lügen und erzählt den Menschen, dass es einen Gott und einen Himmel gibt. Wenn die Menschen sterben, kommen sie dort hin und jeder bekommt eine prunkvolle Villa, in der er für immer leben kann. Schließlich gibt der Mann zu, dass er gelogen hat und dass es keinen Gott und keine Villen gibt. Ich fragte mich, wie kann er das? Wie kann er WISSEN, dass es nicht doch so ist, wie er angeblich gelogen hat? Ich für meinen Teil kann weder sagen (wissen!) dass es einen Gott gibt, noch, dass es keinen gibt.

Ich mache es wie die Narren, laut Freund Carlos, der in einem seiner wunderbaren Bücher Don Juan die drei Gewohnheiten aufzählte:



Es gibt dreierlei schlechte Gewohnheiten, in die wir immer wieder verfallen, sobald wir im Leben mit ungewöhnlichen Situationen konfrontiert sind.

Erstens können wir das, was geschieht oder geschehen ist, leugnen und so tun, als sei nichts geschehen. So machen es die Bigotten.

Zweitens, können wir alles unbesehen akzeptieren und so tun, als wüssten wir, was geschieht. So machen es die Frommen.

Drittens kann ein Ereignis uns zwanghaft beschäftigen, weil wir es weder leugnen noch rückhaltlos akzeptieren können. So machen es die Narren.

Doch es gibt noch eine vierte Möglichkeit, die richtige nämlich, die eines Kriegers. Ein Krieger handelt so, als sei überhaupt nichts geschehen, weil er an gar nichts glaubt, und doch akzeptiert er alles unbesehen. Er akzeptiert, ohne zu akzeptieren, und leugnet, ohne zu leugnen. Nie tut er so, als wisse er, noch tut er so, als sei nichts geschehen. Er handelt so, als ob er die Situation in der Hand hätte, auch wenn ihm vielleicht die Hosen schlottern. Diese Art zu handeln vertreibt die zwanghafte Beschäftigung mit den Dingen.“



*



„Schließe sie aus deinem Bewusstsein, Thygyrill, sonst überrennen sie dich und du vergisst tatsächlich, wer du bist!“

Da ist sie wieder, diese engelsgleiche Figur und ebenso engelsgleiche Stimme, die er mehr in sich selbst als außerhalb fühlt.

„Es wäre mir einerlei. Wie oft wünschte ich mir schon, alles zu vergessen, anstatt mich an alles zu erinnern, wie Ysil es tut. Wie glücklich wäre ich ohne Erinnerung. Wie ein Baby, das strahlend seine Mutter anlacht und sich für immer und ewig geborgen fühlt.“

„Sei kein Narr, Thygyrill!“

„Narren braucht die Welt! Was wäre sie ohne Joker, die man immer und überall einsetzen kann und sie doch nirgends dazu passen?“

„Du bist kein Joker, Thygyrill. Du bist zu gewöhnlich. Du überschätzt dich. Du bist genauso gewöhnlich, wie jene, die dich bald überrollen. Und wenn sie das tun, dann mit Recht!“
 
„Sei kein Narr, Thygyrill!“

„Narren braucht die Welt! Was wäre sie ohne Joker, die man immer und überall einsetzen kann und sie doch nirgends dazu passen?“

„Du bist kein Joker, Thygyrill. Du bist zu gewöhnlich. Du überschätzt dich. Du bist genauso gewöhnlich, wie jene, die dich bald überrollen. Und wenn sie das tun, dann mit Recht!“
Mein "gefällt mir" gilt nur für den ersten Teil, nicht für das hier. Thygyrill hat recht, die Welt braucht Narren, nur dürfen auch Narren mal Feierabend, Wochenende und Urlaub haben, sie dürften sogar in Rente gehen, wenn sie wollen. Ja, ein Narr ist genauso gewöhnlich wie alle anderen, das hat nichts mit Selbstüberschätzung zu tun.

Immer und für immer ein Narr sein zu müssen schon eher, denn das können zu wollen wäre masochistisch - meine Meinung dazu.
 
Ich stimme deiner Meinung zu. Aber zwischen Narren und Narren mag ein Unterschied bestehen, denn "the world is in the hand of fools" oder "the fool on the hill" ist nicht ein und derselbe Narr. Oder?
Ja, Thygyrill hat recht, da die Welt Narren der zweiten Sorte braucht, jene, die lachen, auch wenn ihr eigenes Haus gerade abbrennt. Dennoch, vielleicht habe ich das schlecht ausgedrückt, Thygyrill ist (noch) zu gewöhnlich, um ein Narr oder Joker zu sein, deshalb der Einwand der engelsgleichen Stimme.
Übrigens freue mich über deine Reaktion, Pilgrim. Danke!
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Ich kann dir nur sagen, dass wir bewegliche Leuchtende Wesen sind, die aus Fasern bestehen. Die Übereinkunft, dass wir feste Objekte seien, ist die Tat des Tonal. Wenn das Nagual die Führung übernimmt, sind ungewöhnliche Dinge möglich.“

So sprach Don Juan einst zu Freund Carlos. Klar und deutlich. Ohne Umschweife. Direkt. Tonal und Nagual, das einzig wahre Paar.
Und für mich: Die Energie Dieser Seite und die Energie der Anderen Seite.



Die engelsgleiche Figur ist eigentlich keine Figur. Sie wirkt wie ein Pfahl, oder viel mehr wie ein sehr hoher Obelisk aus Licht, das nicht blendet, das eher dunkel erscheint. Es ist, als würde der leuchtende Obelisk direkt aus Thygyrills Kopf ragen, als würde er einen enorm hohen Pfahl auf dem Kopf tragen, der weit bis in den Himmel ragt, der schier unendlich ist.



Man möchte glauben, Thygyrill habe endlich Kontakt zur Ganzheit seines Selbst. Weit gefehlt! Es ist seine Andere Seite, die wir Menschen sehr selten sehr subtil spüren. Wir können sie auch gewaltig spüren, wenn wir uns, z.B., in Lebensgefahr befinden. Unglaublich, welche Kräfte wir da entwickeln können! Und manchmal ist da diese leise, winzige Stimme, die, wenn wir auf sie hören würden, uns vor allerlei Blödsinn bewahren würde.



In seiner Angst ruft Thygyrill nach seinem Drachen, nach der schwarzen Lady Ferryn. Wie ein dunkler, fast unsichtbarer Schatten gleitet sie lautlos herbei und weiß sofort, was zu tun ist, bevor Thygyrill noch einen Warnruf ausstoßen kann. Nachdem alles vorbei ist, hält Thygyrill beide Hände vors Gesicht.

„Das war gut gemacht. Was ist denn los, kleiner Thygyrill?“ scheint das leuchtende Ding, die Andere Seite Thygyrills, zu fragen.

„Sie hat sie alle mit ihrem Feuer ausgelöscht, getötet“, stammelt der Arme.

„Na und? Sie waren doch nicht wirklich. Sie lebten bloß in deiner Vorstellung.“

„Ich habe sie nicht herbei gewünscht. Sie waren plötzlich da, genauso wie damals diese wilde Horde da war und alles ausgelöscht hat.“

Die Andere Seite scheint warmherzig zu lächeln.

„Das war auch deine Vorstellung. Weißt du, manchmal tauchen Dinge in uns auf, von denen wir selbst keine Ahnung haben. Wir sind uns selbst fremd. Aber jetzt hast du die Möglichkeit, deine Ganzheit zu erkennen. Nein, nein, nicht die Ganzheit deines Selbst. Das wäre zu viel auf einmal. Ich meine, die Ganzheit eines kleinen Aspektes deiner Ganzheit des Selbst. Das, was du schon viel früher hättest erkennen sollen, aber leider darauf vergessen hast. Weißt du, dass du es schon als Mensch hättest schaffen können?“

„Ich? Ich dachte, jedes einzelne Leben besteht aus einem einzelnen Aspekt der Ganzheit.“

Die Andere Seite scheint nachzudenken.

„Es ist schwer zu erklären, wenn überhaupt. Weißt du, die Andere Seite kennt keine Unterschiede. Und warum? Weil ALLES unterschiedlich ist. Nichts gleicht dem anderen. Und somit ist alles gleich. Erinnerst du dich noch daran, was du wahrgenommen hast, bevor du vor diesem Portal etwas unsanft aufgeschlagen bist?“

„An nichts – wortwörtlich an nichts, weil ich nichts wahrnehmen konnte.“

„Das ist meine Welt – rein und unverwundbar. Und sag nicht, dass es keine Wohltat war!“

„Es war angenehm. Aber sag, wie hätte ich dich als Mensch erkennen können?“

„Indem du all dies unnötige Zeug von dir wirfst, all diese Erinnerungen, die nichts bringen. Weißt du nicht, dass ich immer die Führung übernehme? Es bin immer ich, die dich führt. Oder der dich führt. Wie auch immer. Geschlecht und Name haben auf der Anderen Seite noch nie eine Bedeutung gehabt.

Woran du dich leider nicht erinnerst, ist ein Teil Dieser Seite, in der wir gemeinsam und in Harmonie agierten. Aber irgendwann begannen wir zu streiten und jeder von uns wollte Führer sein. Das war nicht möglich und da ich jeglichem Streit aus dem Weg gehe und vor allem abwarten kann, da ich ja wusste, dass meine Zeit immer kommt, überließ ich Dieser Seite die Führung. Und sieh mal,wohin euch alle das gebracht hat. Vor allem die Menschen! Die stecken ja mächtig in der Sch... äh, Sackgasse. Es geht nicht mehr nach vor und schon gar nicht mehr zurück.“

„Sterbe ich eben?“ fragt Thygyrill ängstlich.

„Schon möglich. Die Andere Seite zu erkennen ist immer ein bisschen wie sterben, weil du dich endlich von all dem unnötigen Schwachsinn löst. Aber so was wie einen endgültigen Tod gibt es nicht. Es ist viel mehr eine Art hinüber wandern, oder hinaus oder hinunter oder eben zur Anderen Seite wandern. Und wie gesagt, das hättest du schon als Mensch geschafft.

Ach ja, du wolltest wissen, ob es immer ein und derselbe Aspekt war. Nun, wie ich schon sagte, es lässt sich nichts vergleichen. Energie ist immer Energie. So wie Wasser. Einzelne Wassertropfen sich wahrscheinlich auch nicht unterscheidbar, wenn sie vollkommen rein sind. Oder? Und die Menge macht es auch nicht aus, nicht für die Andere Seite, auch wenn dies für Diese Seite so scheint, da sie ja meint, eine Welle hätte mehr Kraft als ein Tropfen.

Ach, es ist nicht einfach für mich, mich auf Diese Seite einzulassen. Sie ist so kompliziert. Also, ich kann dir ehrlich nicht sagen, ob es sich dabei um ein und denselben Aspekt handelt. Aber ich weiß, dass wir beide einmal Mensch waren, dass du dich als Mensch geformt und allerlei Blödsinn gemacht hast, den ich dann gereinigt habe, damit wir wieder ganz zusammen sein können.“

„Moment, Moment, langsam!“

„Ach, Quatsch! Lass uns nicht darüber reden. Erlebe es! Erlebe es, Thygyrill!“
 
Wir interpretieren jede unbekannte Ausdrucksform des Naguals als etwas Bekanntes.“

Wieder Don Juan ganz klar und deutlich aus dem Buch „Der Ring der Kraft - Don Juan in den Städten“.



Thygyrill erinnert sich. Dunkel. Ganz dunkel. Kaum hatte er sich von den Vorderpfoten erhoben, kämpfte er um das Gleichgewicht. Er wollte nicht mehr als einziger auf allen Vieren laufen, auch wenn es ihm bequemer erschien. Sein Rücken war noch zu krumm und tat bei jedem Schritt, den er wackelig tat, etwas weh. Manchmal gaben die Knie nach und Thygyrill (damals wurde er sicher anders genannt) fiel wieder auf die Vorderpfoten, die man später Hände nannte.



Es wird wieder hell um Thygyrill. Er hockt auf den weißen Stufen vor dem weißen Portal seines weißen Palastes. Irgendetwas dunkel Leuchtendes ragt oben aus seinem Kopf bis in den Himmel hoch und vielleicht sogar darüber hinaus. Thygyrill fühlt es mehr in sich als außerhalb. Es ist seine Andere Seite, die sogar zu ihm spricht.

„Es ist anstrengend so weit zurückgehen“, meint er keuchend.

„Hast du irgend etwas gesehen? Die Umgebung? Wie war sie?“ scheint das hoch herausragende Licht zu fragen.

„Ich war zu beschäftigt mit dem Aufrechtgehen. Es war ungewohnt für mich und ich musste es erst lernen. War es wirklich so, dass Menschen einst auf allen Vieren gingen und sich nach und nach an den aufrechten Gang gewöhnten?“

Die Andere Seite Thygyrill scheint laut zu lachen.

„Den Menschen war damals sehr viel möglich“, flüsterte es in Thygyrills Kopf. „Die Andere Seite in ihnen hatte einiges zu sagen und Diese Seite arrangierte sich hervorragend mit ihr. Die beiden arbeiteten sozusagen perfekt zusammen. Später kannten die Menschen dieses Gefühl nur vor der Geburt und kurz nach der Geburt. Da harmonieren die beiden Seiten noch gut miteinander, bis sich Diese Seite mächtig aufspielt und die Andere Seite auf höchst aggressive Art verdrängt.“

„Warum lässt sich die Andere Seite verdrängen?“

„Wie gesagt, wir haben alle Zeit der Welt. Wir verlieren nichts, aber Diese Seite muss beim Übergang einiges zurück lassen. Sie hat etwas zu verlieren. Vor allem ihre Persönlichkeit. Wir nicht.“

„Wenn wir uns mehr der Anderen Seite widmen würden, wären wir dann unsterblich?“ fragt Thygyrill und abermals scheint seine Andere Seite herzhaft zu lachen.

„Kein Lebewesen ist unsterblich. Nicht mal jene, die Götter und Göttinnen genannt werden. Jene werden nur älter als andere, aber sterben, wie du das nennst, müssen alle. Jene, die Götter und Göttinnen genannt werden, gehen bewusst hinüber, während andere, die sich mehr Dieser Seite widmen, sich vor dem Tod wortwörtlich in die Hosen machen, weil sie nicht wissen, was mit ihnen geschieht. Der Tod ist nur ein Übergang. Für manche ist er bewusst, für andere ist er ein Schock, der sie alles vergessen lässt.

Und jetzt geh noch einmal zurück und beobachte. Beobachte die Umgebung und die Lebewesen, die du erkennen kannst. Geh! Mobilisiere deine Kräfte. Ich bin ja da und unterstütze dich.“



Thygyrill kann sich nicht erklären, was er sieht. Die Umgebung ist nicht viel anders als auf der alten Erde, die keine Zivilisation kennt, - sozusagen wilder Busch und Dschungel. So etwas wie Häuser gibt es nicht, aber riesige Nester in den Bäumen und Gitter aus Holz vor Höhlen. Thygyrill sieht das alles auf einmal, so als würde er das Leben der damaligen Menschen mit einem Blick einsaugen können. Er 'sieht' nicht nur zugleich die Umgebung und die Stätten, an denen die damaligen Menschen schlafen, sondern auch andere Lebewesen, die er mit Worten nicht beschreiben könnte. Der Anblick löst in ihm einen Schock aus und schon wird es wieder hell um ihn und er hockt abermals auf den weißen Stufen.



„Angsthase! Wärst du doch etwas länger geblieben, hättest du erkannt“, schimpft seine Andere Seite. „Noch immer ist Diese Seite in dir rechthaberisch und so was von hochmütig.“

„Was hätte ich erkennen können, wenn ich nicht einmal beschreiben kann, was ich gesehen habe?“

„Gut! Dann versuch es zu beschreiben! Beschreibe diese Wesen, die weder etwas menschliches, tierisches oder pflanzliches an sich hatten. Beschreibe diese Wesen, die weder Form noch Farbe hatten. Beschreibe, Thygyrill, beschreibe!“



Und hier kommt die Erklärung Don Juans ins Spiel. Damals waren die Menschen noch zu sehr Nagual, aber als sie mehr Tonal wurden, versuchten sie das Nagual zu beschreiben. Was dabei heraus kam, waren Märchen und alte Geschichten. Aus den unerkennbaren Lebewesen wurden Hexen, Feen, Einhörner, Drachen und alles mögliche, die es nie wirklich gegeben hat und doch gab es sie auf eine vollkommen unbeschreibliche Art.



Es könnte ja alles so gewesen sein. Es könnte alles so sein. Ach, ich liebe es noch immer, über etwas zu schreiben, worüber man nicht einmal sprechen kann. Ich lebe in diesem Schreiben. Ich bin dieses Schreiben! Thygyrill, beschreibe! Thygyrill schreibe!
 
Manche Comics sind faszinierend. Man unterscheidet sofort die Guten von den Bösen. Die Panzer-Knacker von Disney sind das beste Beispiel. Sie haben auf ihren Shirts sogar Nummern, wie sie mal in Gefängnissen üblich waren. Und sie tragen Augenmasken, um nicht erkannt zu werden, was irgendwie paradox erscheint.



Weiter oben habe ich einen Film erwähnt, der in einer Welt spielt, wo es keine Lügen gibt, was ein ähnliches Beispiel wäre, an dem man sofort erkennt, wer einem Gutes oder Böses will.

Vielleicht gab es mal so eine Welt. Vor langer, langer Zeit, als die junge Menschheit noch nichts über Lügen und ihren Vor- wie auch Nachteilen wusste und sie die Andere Seite mehr regierte als Diese Seite.

Die Andere Seite kennt keine Lügen. Sie durchschaut im sogenannten Nichts alles. Ihre Welt ist jene, in der es nichts menschliches, tierisches oder pflanzliches gibt und nichts Form oder Farbe hat. Es ist eine unerkennbare Welt und doch lässt sich in ihr alles durchschauen.



Wenn ich bedenke, was ich einst über die Andere Seite geschrieben habe und wie es überhaupt dazu gekommen ist, bin ich wieder froh, alle Bücher über Kim überschrieben zu haben. Die Andere Seite war damals das Böse, das Reich des Bösen, mit Luzifer und seinen grausamen Dämonen, die einem den letzten Tropfen Blut aus dem Leib saugen. Erst durch die Gespräche wurden andere Wesen (Feen, Hexen und andere derartige Fabelwesen) daraus, die gar nichts Böses, sondern einfach nur die Stagnation des Lebens anstreben.



Und jetzt? Jetzt ist es so, dass es sich um zwei entgegengesetzte und doch einander bedingende Energien, ähnlich dem Yin-Yang, handelt. Dies sind jedoch keine Energien, wie das, was wir darunter verstehen, auch wenn wir über Materie sagen, sie sei ebenso Energie.

Es ist eine Energie, die direkt von der Quelle der Kraft ausgeht und das darstellt, was wir auf unendlich viele Arten als Universum wahrnehmen, bedingt durch eine weitere Energie, die Kim mir als Bewusstseinsblasen vorstellte.



Es mag sein, dass eine der beiden Energien für Stagnation sorgt und die andere für Veränderungen. Aber ganz so einfach lässt sich das nicht sagen. Auf jeden Fall ist die Welt der Anderen Seite der Quelle der Kraft um einiges näher als die Welt Dieser Seite, da beide rein und unverwundbar sind.



Ich vergleiche die beiden Energien gerne mit dem Tonal und dem Nagual, wie es Don Juan in Freund Carlos' Büchern beschreibt, obwohl mir Freund Carlos da rigoros widersprechen würde, denn über das Nagual kann man nicht sprechen, man kann es nur erleben. Aber einiges vom Nagual ist dem der Anderen Seite doch sehr ähnlich.

Zumindest jetzt noch, - solange ich von Freund Carlos' Büchern gefangen bin. Aber auf keinen Fall darf ich die kontrollierte Torheit vergessen. Sicher bin ich auch mein Schreiben, wie ich letztens erwähnte. Auch! Und es mag viel Torheit in meinem Schreiben stecken. Aber ich hab es unter Kontrolle. Noch!



*



Wenn in den weißen Gassen der schwarze Wind weht (wie es Juan Ramon Jimenez so poetisch in seinem Buch „Platero und ich“ ausdrückt), wird es Zeit zu gehen oder das zu Ende (falls es ein Ende gibt) zu bringen, was man angefangen (falls es einen Anfang gibt) hat.



In diesem Moment breitet Ysil ihre weiten grünen oder von unbestimmter Farbe Schwingen aus und erhebt sich graziös über Thygyrills Stadt, um ins Schattenland zu fliegen. Mit Schrecken hat sie sich erinnert, dass sie sich, als sie als noch junges Mädchen (in meiner Geschichte „Sterne fallen nur nachts vom Himmel“) starb, bereits als Drache wahrgenommen hat. Und der andere Drache, den sie teilweise als Jungen erkannte, mit ihr in das Nichts flog. Es war nicht das Nichts, aber sie beide waren zu schwach, hatten noch zu wenig Energie der Anderen Seite, um in dem Nichts, das nichts anderes als strahlenden Energiefasern, etwas Bekanntes auszumachen.



Ysil gleitet über das Schattenland. Ihr tiefer Ruf gilt der Wölfin, von der sie sich verabschiedet. Als nächstes fliegt sie über das Feld, in dem noch immer Schädel und Hüftknochen zusammen geklebt werden.

„Hört auf damit“, ruft sie in der Drachensprache einer der Kalis zu, „wir brauchen keine Körper mehr. Unsere Energien haben endlich verstanden, was Arima und seine Armee wirklich getan hat.“



„Ach, wirklich?“ fragt Arima schmunzelnd, der alles hört und sieht und riecht und einfach alles wahrnimmt, was wahrgenommen werden kann.



*



Und Thygyrill? Er hockt auf einer weißen Bank, im weißen Gewand (!), in einem weißen Wald und spürt hinter sich über den sieben Himmeln das schwarze (!) Einhorn, das sich langsam, aber sicher nähert. Wird er erkennen, dass er selbst das schwarze Einhorn ist? Wird er erkennen, dass es tatsächlich Arima war, der ihn und Ysil in diese alles entscheidende Welt brachte?



Komm, Thygyrill! Erhebe dich und nimm endlich deine wahre Gestalt an, denn diese Welt hier ist eine tierische und der menschlichen Welt wahrhaftig weit voraus.

Jetzt ist es Fakt! Es war nie ein Drache, es war stets ein Einhorn und es war niemals Ysil, die versuchte, Einhörner zu züchten. Es war immer Thygyrill, der Einhörner züchtete; anfangs weiße Einhörner, bis ihm endlich ein schwarzes gelang, mit dem er sich ein für alle mal verbündete.



Aber wir mussten erst unsere Gehirne entwickeln, um das zu erkennen. Wie schmerzhaft war die Erkenntnis, als uns bewusst wurde, was wir unseren Brüdern und Schwestern, was wir UNS SELBST angetan haben in all den Jahren, in denen wir blind, trotz Augen, durch so viele Leben gegangen sind. Ach, wie schmerzhaft!



Und ja! Ja und noch mal ja! Da fliegen sie beide! Da! Sieht sie denn niemand? Das fliegende Einhorn, das sich vom edlen Pegasus die Flügeln borgte und die edle Drachengöttin! Doch, jemand sieht sie. Arima, vermischt mit dem schwarzen Wind, weht um die Ecke und heult den beiden zu, um sie für eine Weile zu begleiten.

Aufwind ist immer gut, denken beide und jubeln vergnügt. Immerhin war Kim einst auch der „Master of the wind“.


 
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Epilog



Was von Ysil und Thygyrill zurück bleibt, ist wie die sich bildende Haut auf einer eben erwärmten Milch. Arima hebt die beiden winzigen Häutchen auf und lässt sich sogleich wieder fallen. Nicht mal ein leises „ft“ ist zu hören.

Arima wird bleiben. Er wird auch wieder bei Ysil und Thygyrill sein, wo immer die beiden jetzt auch sein mögen. Er, die multidimensionale Wesenheit, der sich seiner Ganzheit des Selbst schon lange bewusst war und ebenso, was die Ganzheit seines Selbst ist. Nichts anderes als eine Emanation der Quelle der Kraft.



Was Arima in letzter Zeit (natürlich verfälscht, weil es für multidimensionale Wesenheiten so was wie Zeit und Raum nicht mehr so gibt, wie wir Menschen das zu kennen glauben) erkennt, ist eine sich ständig wiederholende Szene. Gibt es denn da etwas 'gut' zu machen, etwas 'anders' zu machen? Ist es vielleicht doch der so genannte Endkampf und hätte er anders ausgehen MÜSSEN? Arima lächelt nur über diese Gedanken, denn er weiß...



Die Quelle der Kraft spielt ein Spiel. Sie spielt es mit sich selbst. Ihre liebste und vor allem wichtigste Rolle ist die von Arima (Kim und Maria), denn sie lässt stets das Türchen offen, um das Spiel ein für alle mal zu beenden und in Einheit zu ruhen.

Lass die Andere Energie weg und alles löst sich urplötzlich auf. Stell Harmonie ein und alles geht weiter wie gewohnt. Wie gewohnt?

Das Spiel der Quelle der Kraft ist (dafür gibt es noch kein Wort, denn gefinkelt oder genial wäre untertrieben), denn man betrachtet nur mal den winzigen Planet Erde und was da alles entwickelt wurde. Vor allem spielt sie manche Rollen mit ihren Emanationen derart konzentriert, dass sie vergisst, dass es nur ein Spiel ist. Dennoch ist sich stets jedes Sperlings bewusst, der vom Dach fällt, aber gleichzeitig ist sie die Unpersönlichkeit selbst.



Wie sagt Arima (wie sagte Kim) immer: „Wir sind nicht wichtig. Wir sind zu klein, Herz...“

Kim wusste. Er musste nie glauben und hat sich nie über- oder unterschätzt. Es ist aber auch ein großer Unterschied zwischen den Worten „mein liebster Sohn“ oder „meine liebste Rolle im Spiel“. Und genau diesen Unterschied hat er immer erkannt.



Wenn also alles nur ein (unpersönliches?) Spiel ist, das von der ewigen und großartigen Quelle der Kraft ausgeht, so müsste sich doch unser aller Eigendünkel mit einem sehr plötzlich „Puff“ auflösen. Oder etwa nicht?



Zum Abschluss einen wunderschönen Text aus dem Buch „Traumwache“ von Florinda Donner-Grau, der mich schon sehr lange begleitet:



Der Preis der Freiheit ist sehr hoch. Freiheit kann nur durch das Träumen ohne Hoffnung erreicht werden, nur wenn du willens bist, alles zu verlieren, selbst den Traum. Für manche von uns ist das Träumen ohne Hoffnung, der Kampf ohne Ziel der einzige Weg, mit dem Vogel der Freiheit Schritt zu halten.“
 
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