Der Kampf um Leben und Tod
Auf dem Bahnsteig,
ich betrachte die Lichtreflexe auf den Gleisen
und blinzle in die Nachmittagssonne
der Zug fährt pünktlich ein
Vorfreude bereitet sich aus
ein Schatten huscht an mir vorbei
rasende Gedanken in mich hinein
in meinem Herzen fühl ich
ein Kampf um Leben und Tod
die Verzweiflung verliert
der Impuls gewinnt
die Entschlossenheit überwältigt mich
und ich setze schon zum Sprung mit an
In mir der Ruf: Das bist nicht Du!
sanfte Hand hält mich zurück
schon hör ich fremde Knochen bersten
das Blut gefriert in meinen Adern
ich gehe erschöpft zu Boden
die Leute steigen aus dem Zug
andere Leute steigen ein
eine Frau nähert sich langsam
fragend ob ich es auch gesehen hätte
in mir statt Worte alles leer
sie bringt mich weg von diesem Ort
und erzählt mir dann
was vor paar Tagen dort geschah
.
Wie hab ich mir den Kopf zerbrochen,
all die langen Jahre lang. Darüber gegrübelt,
wie man sich so etwas überhaupt erklären kann.
Wie konnte es passieren, dass ich damals,
auf dem Bahnsteig, für einige Sekunden, irgendwie nicht ich selber war, sondern irgendwie eine andere Person?
Eine Person, mit deren Leben und Sterben ich nichts zu tun hatte, und von der ich zuvor auch nichts wusste?
Wie kam es, dass ich (vermutlich) genau das Gleiche fühlte, dachte und fast vollbrachte, wie diese Fremde Person Tage zuvor?
Wie konnte es sein, dass ich Knochen bersten hörte, und schlimme Dinge sah, obwohl da überhaupt nichts wirklich geschah?
Und was hätte es mit mir gemacht, wenn mir die Zeugin nicht jene Dinge erzählt hätte, die sich Minuten zuvor - wie ein unfassbar realer Filmriss - in mir selbst gespiegelt hatten?
Wenn ich nie erfahren hätte, dass sich genau an jener Stelle des Bahnsteigs ein paar Tage zuvor ein junger Mann das Leben nahm?
Hätte ich dann überhaupt begriffen, dass für einen kurzen Moment zwei Bewusstseine miteinander verschmolzen sind?
Ich suchte so lange nach einer Erklärung für dieses Ereignis und bin dafür um die halbe Welt gereist.
Ein Tiger erklärte mir, die Empathie sei ein Hund. Auch der Flötenklang des Kondors versiegte allzu bald. Die Schneeeule flog lautlos stille Kreise, bevor sie für immer in der Nacht verschwand.
Aber allein fand ich mich trotzdem nie im Land der Drachen.
Allerdings: ziemlich ratlos.
Und nun las ich kürzlich von meinem „empathischen Halbsextil Radarschirm“ und der störenden Ich-Identifikation...
Werd ich diese Quadratur lösen können und meinen Drachen reiten lernen?
Man wird es sehen.
Falls Du manchmal in Steine beissen könntest, weil es dir ähnlich geht mit deiner Empathie, die dir wie ein Fluch vorkommt, dann verzage nicht und gib dich nicht auf. Du bist nicht allein und es gibt viele Vögel gleichen Gefieders.