"Die Freiwilligkeit ist ein Mythos"
Frauen, die wie Vieh aus Osteuropa nach Deutschland gekarrt werden, brachiale Gewalt im Rotlichtmilieu: Im Interview mit SPIEGEL ONLINE spricht Frauenrechtlerin Alice Schwarzer über die fatalen Folgen des rot-grünen Prostitutionsgesetzes, Sexfabriken - und bestechliche Beamte.
SPIEGEL ONLINE: Frau Schwarzer, mit dem Prostituiertengesetz von rot-grün wollte man die Prostitution aus der Schmuddelecke holen. Prostituierte können sich seitdem kranken und sozialversichern, sie können klagen, wenn Freier ihnen trotz Absprache kein Geld geben. Hat sich die Situation der Frauen seitdem verbessert?
Schwarzer: Leider nein. Die Freier erwarten selbstverständlich Anonymität und Verschwiegenheit; außerdem ist in der Prostitution Vorkasse üblich. Und in diesen ganzen sechs Jahren ist nicht ein einziger Fall bekannt geworden, in dem eine Prostituierte einen Freier verklagt oder sich als "Prostituierte" bei der Krankenkasse und Rentenversicherung angemeldet hätte. Was nicht überraschend ist. Denn die meisten Frauen in der Prostitution wollen nicht, dass bekannt wird, was sie tun. Sie prostituieren sich heimlich manchmal wissen noch nicht einmal die eigenen Kinder Bescheid.
ZUR PERSON
DDP.Alice Schwarzer wurde 1942 in Wuppertal geboren. Nach einem Volontariat bei den "Düsseldorfer Nachrichten" studierte sie in Paris Psychologie und Soziologie. Schwarzer engagierte sich in der Pariser Frauenbewegung und initiierte 1971 den berühmten "Stern"- Artikel "Ich habe abgetrieben", in dem 374 Frauen erklärten, abgetrieben zu haben. 1977 gründete Alice Schwarzer die Zeitschrift "Emma". Sie hat unter anderem die Bücher "Der kleine Unterschied" (1975), "Der große Unterschied" (2000) und "Die Antwort" (2007) geschrieben sowie Biographien über Simone de Beauvoir, Marion Dönhoff und Romy Schneider. Zuletzt ist von ihr die große Rückschau "Emma. Die ersten 30 Jahre" bei Collection Rolf Heyne erschienen. Alice Schwarzer gilt als die bekannteste Feministin Deutschlands. Homepage von Alice Schwarzer .SPIEGEL ONLINE: Prostitution ist legal hat das auch dazu beigetragen, dass Unterdrückung, Zwang und Gewalt nachgelassen haben?
Schwarzer: Im Gegenteil. Zwang und Gewalt sind mehr geworden. Denn die Polizei hat weniger Möglichkeiten als vorher, Bordelle und Model-Wohnungen zu kontrollieren wobei fast immer auch Illegale und Minderjährige entdeckt werden , weil die Prostitution ja jetzt legal ist. Dafür haben die Bordellbetreiber mehr Möglichkeiten, auch ganz legal Druck auf Prostituierte auszuüben.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie konkrete Beispiele?
Schwarzer: Ja, das neue Großbordell in Augsburg, das "Colosseum". Dort hatte die Polizei bei einem Großeinsatz 30 Frauen zu Einzelbefragungen mitgenommen und der Staatsanwalt anschließend Anklage erhoben. Denn die Frauen hatten zum Beispiel eine "Anwesenheitspflicht" von 13 Stunden, von 14 Uhr bis 3 Uhr nachts, mussten sich im Kontaktraum permanent splitternackt aufhalten, durften nicht telefonieren, mussten alle Wünsche der Freier erfüllen, sonst wurde ihnen das vom Lohn abgezogen etc. Doch der Bordellbetreiber gewann den Prozess, denn er hat dank des neuen Gesetzes ein "Weisungsrecht" und "Kontrollbefugnisse". Das Gericht argumentierte: Schließlich sei die Prostitution heute ein "ganz normales Gewerbe."