Ja, es ist ein Armutszeugnis für dich, wenn du es denn so ausdrücken möchtest.
Nein, es geht hier nicht um Holocaust, sondern deine Frage war, wie das Leid entsteht, bzw. "der Grund für das Leid".
Dazu kann ich dir einiges sagen.
Es gibt zwei Arten von Leid. Einmal das persönlich selbst erfahrene Leid. Meist kann man irgendwie damit umgehen. ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich währenddessen gar nicht so schlimm fühlt (relativ gesehen
), erst hinterher, wenn es nochmal im Geist Revue passiert, kommt einem Manches schlimm vor.
Ich habe oft überlegt, woher das kommt.
Dann gibt es das Leid das man bei anderen sieht, oder einem erzählt wird, Berichte darüber usw.
(erscheint meistens furchtbarer als wenn man selbst drin ist)
Während meiner Kindheit hatte meine Mutter immer mal wieder schwere Erstickungsanfälle, bei denen sie fast gestorben wäre.
Sie sagte selbst, sie würde das ihrem schlimmsten Feind nicht wünschen, lernte aber mit der Zeit, selbst damit umzugehen.
Obwohl ich es furchtbar fand, erzählte sie mir irgendwann mal, dass sie irgendwie gelernt habe, mit weniger Luft auszukommen.
Sie war immer irgendwie am schwer atmen, aber sie führte ihr Leben dabei, war sogar manchmal, eigentlich recht oft,
sehr fröhlich dabei. Und sie sagte, das Leben ist wunderbar, und sie würde alles immer wieder genauso machen, ich glaube zumindest,
dass sie das sagte, dass sie gern lebte und manchmal das Leben genoss, weiß ich.
Sie starb vor einigen Jahren in einem hohen Alter, trotz ihrer intensiven Krankheit überlebte sie die meisten Zeitgenossen, Geschwister usw.
Auch mein Vater starb früh, nun das ist eine andere Geschichte.
Später arbeitete ich mal eine zeitlang in einem Altenheim. Und ich traf dort eine alte Frau, ich sollte ihr den Blutdruck messen, er war sehr hoch,
und ich machte mir Gedanken um sie. Da öffnete sie ihr Herz und begann mir unter Tränen zu erzählen, dass sie im KZ gewesen war.
Sie erzählte eine bestimmte unschöne Situation , die morgens immer war, wenn die Frauen sich im Badezimmer wuschen.
Ich möchte das jetzt nicht näher erläutern, es war der einzige Mensch, den ich selbst kennengelernt habe, der so etwas erlebt hat
und es mir direkt erzählt hat.
Ich hörte ihr zu und blieb eine ganze Weile bei ihr.
Wir hatten dort damals eine sehr junge sehr ambitionierte Heimleiterin, der ich kurz erklärte, warum ich so lange bei dieser Frau geblieben war,
denn auf der Station gab es ziemlich viel zu tun. Aber als sie hörte, um was es gegangen war, sagte sie sofort, dass es in Ordnung war.
Ich konnte ihr nur zuhören, ihr Leid nicht lindern, aber ich denke doch, dass meine Anwesenheit ihr gut getan hatte.
Eigentlich wollte ich hier noch mehr sagen, mal gucken, ob ich´s einigermaßen kurz fassen kann.
Der Grund für das Leid ist, denke ich, "Schuld". Es ist der Grund, warum wir nur schwer damit fertig werden. Ich meine damit das Leid von "anderen",
das was wir in irgendeiner Form sehen / wahrnehmen.
Und es ist das Gefühl von Machtlosigkeit zum einen, und Angst vor der eigenen möglichen Macht zum anderen.
Die Angst vor sich selbst, die Angst, zerstörerisch sein zu können.
Übrigens hatte ich noch nicht erwähnt, dass auch meine Mutter mir viele Geschichten erzählte, von ihrer Kindheit, von der Vergewaltigung und weiteres
durch ihren Vater und noch so einige andere Sachen. Ihr Geburtsjahr war 1919 und sie war unehelich, alles war von Anfang an kompliziert und schwierig.
Ihre Mutter wollte sie nach ihrer Geburt angeblich nicht, sie kam zuerst mal zu ihren Großeltern usw., wurde hin und her gereicht,
bis sie dann bei ihren brutalen Eltern landete.
Ich hatte genug schlimme Geschichten um mich, Holocaust brauchte ich da fast nicht noch, obwohl auch darüber Geschichten zu mir kamen,
achja und dann auch die Sklaven in Amerika, die armen Hungernden in der ganzen Welt, unser sehr böser ehemaliger Volksanführer.
Ich hatte den Teufel ansich schon in meiner Familie, es war der Vater meiner Mutter, der seine Kinder auch sehr schlug, bis er begann,
meine Mutter (da war sie wohl 13) regelmäßig zu missbrauchen. Sie schliefen sowieso alle in einem Bett, da war das nicht schwierig.
Ich würde sagen, versuche nicht, andere zu beurteilen, die du nicht wirklich kennst.
Mit dem Gedanken oder Gefühl von eigener schädlicher "Macht" wurde ich schon früh konfrontiert,
denn sobald ich als Kind etwas frech wurde, konnte es schnell passieren, dass meine Mutter keine Luft mehr bekam.