Folgender Text stammt von Torsten Bewernitz und steht unter der GNU Lizens für freie Dokumentation
Quelle: http://www.grundrisse.net/grundrisse29/verstimmt_das_Bewusstsein.htm
Autor: bewernt@uni-muenster.de
Lizensbestimmung: http://www.grundrisse.net/Copryrights/gnu_free_documentation_license.htm
Torsten Bewernitz: Das Sein verstimmt das Bewusstsein
Soundtrack: Daddy Longleg: Crime
we never said we know a simple way
we never said that everything's okay
so fuckin governments shut up
so goddamn know-it-alls piss off
who the fuck knows what's going on
who brings the food, the streets, the goods
we are the workers, we know what's going on
we should know how to organize!
(von Barricadas, Falling Down Records 2007)
Um kaum einen Begriff ranken so viele linke Mythen wie um den des Bewusstseins. Ob Parteien, Gewerkschaften, NGOs (Nichtregierungsorganisationen) oder Autonome unisono heißt es, um die Welt zu verändern, sei ein Bewusstsein der Verhältnisse notwendig.
Insbesondere unter Studierenden und Intellektuellen dominiert daher ein Verständnis von Bewusstsein, nach dem dieses durch Lesen und Lernen zu erwerben sei. Die Folge sind Seminare, Bücher, Abendveranstaltungen oder Beiträge wie dieser (wobei dieser, um es vorweg zu sagen, nicht Bewusstsein schaffen will, sonder in der Tat belehren). DozentInnen, AutorInnen und ReferentInnen fühlen sich folglich als VermittlerInnen dieses Bewusstseins. Sie haben sich ausführlich mit einem Thema beschäftigt, gelten als ExpertInnen für einen bestimmten Bereich und vermitteln dieses weiter. Dieses Verständnis von Bewusstsein definiert den Begriff als politisch. Unter den Tisch fällt das ökonomische Bewusstsein über die eigene Klassenlage. Das politische Bewusstsein kann sich als durchaus fatal erweisen, es muss keineswegs in ein Engagement führen, sondern es kann auch ein Bewusstsein sein, dass Neoliberalismus fördert oder sich als nationales Bewusstsein artikuliert.
Für Intellektuelle und Studierende, die einmal Intellektuelle werden wollen (den Autoren eingeschlossen) und insbesondere für PolitikerInnen, die nicht nur in Parteien zu finden sind, ist es wichtig, sich als VermittlerInnen von Bewusstsein zu verstehen, schließlich bestimmt diese Aufgabe ihr eigenes Bewusstsein: Wir haben viel Zeit damit verbracht, uns selber weiterzubilden, Spezialisten zu werden und wollen unser erworbenes Wissen nicht für uns behalten oder sind überzeugt, dass unsere Politik für alle richtig ist. In diesem Punkt unterscheiden sich Autonome nur unwesentlich von Sozial- oder auch Christdemokraten.
Daran ist weniger falsch, als dieser Beitrag im Folgenden implizieren wird. Das erworbene und erarbeitete Wissen weiter zu geben ist moralische und oft auch ökonomische Rechtfertigung für die zeitliche Investition in die Bildung. Dieses nicht weiter zu vermitteln, würde die Idee der Bildung ad absurdum führen. Diese Aufgabe manifestiert das Bewusstsein der Intellektuellen.
Allein: Vorträge etwa über die Globalisierung, Bewegungen am anderen Ende der Welt oder Organisationsstrukturen neonazistischer Organisationen präsentieren nur angelesenes und angeeignetes Wissen. Sie sind sinnvoll, denn die Struktur der WTO oder der G8 zu begreifen, kann helfen, die eigenen Verhältnisse in einen größeren Zusammenhang zu stellen und etwa den eigenen Arbeitsvertrag anders zu sehen, die Struktur neonazistischer Organisationen erklärt evtl., warum eine Kameradschaft ein Dorffest ausrichtet, Nachhilfeunterricht organisiert o.ä. Um eine solche Veranstaltung zu besuchen oder einen Beitrag oder ein Buch zu solchen Themen zu lesen, muss ich aber bereits eine Form von Bewusstsein haben, das Verständnis, dass diese Themen etwas mit meinem Alltagsleben zu tun haben: Wenn ich eine Veranstaltung über Strukturen einer neonazistischen Organisation besuche, ist mir bereits bewusst, dass Neonazis ein Problem sind, wenn ich ein Buch über Globalisierung lese, weiß ich bereits, dass diese Auswirkungen auf mein Leben hat. Solche Beiträge prägen also gar nicht das Bewusstsein, denn es ist bereits vorhanden. Sie erweitern maximal mein Wissen und fördern das Bewusstsein des anwesenden Experten. Sind die ExpertInnen mal zur Abwechslung keine SozialwissenschaftlerInnen, sondern z.B. JuristInnen, ist das für meinen Alltag sogar sehr praktisch. Aber auch dann habe ich die Veranstaltung besucht oder das Buch gelesen, weil ich bereits von der Notwendigkeit dieser Informationen überzeugt war. Oder aber ich besuche die Veranstaltung aufgrund meines eigenen Bewusstseins als Intellektueller, ich fühle mich aufgrund meiner Identität verpflichtet, mich fortzubilden oder meinen Senf zum Thema abzugeben. Vielleicht möchte ich das sogar in kritischer Absicht, weil ich anderer Meinung als die ReferentIn bin und das kundtun möchte. Ich fürchte dann, dass die ReferentIn den anderen Anwesenden ein falsches Bewusstsein vermitteln könnte.
Das setzt voraus, dass wir unser Wissen für das bessere, kompetentere und letztendlich wahrere halten. Wenn die Gäste unserer Veranstaltung uns dann erzählen, dass der Nazi von nebenbei aber doch eigentlich ganz nett sei, weil er unsere Oma betreut oder unseren Sohn auf die Hüpfburg beim Stadtfest begleitet, wenn sie uns erklären, dass noch nie jemand von der WTO bei ihnen im Betrieb war, um eine neue Regelung einzuführen, dann halten wir das für (notwendig falsches) Bewusstsein. Unser Sein als Intellektuelle hat unser Bewusstsein als BesserwisserInnen und KlugscheißerInnen bestimmt.
Vielleicht aber haben unsere Gäste recht: Der Nazi von nebenan ist möglicherweise wirklich ganz nett, hat Spaß an der Betreuung meiner Oma, beginnt deswegen demnächst sein freiwilliges soziales Jahr und ist danach längste Zeit Nazi gewesen. Wir haben Wissen über die Strukturen der neonazistischen Organisationen, aber keine Erfahrung mit dem Nazi von nebenan. Und darauf kommt es an, wenn es darum geht, Bewusstsein zu entwickeln. Was wir als Bewusstsein verkaufen, ist blanke Ideologie.
Das zeigt den Fehler an der ganzen Sache: Der Referent und ich haben genau das selbe Bewusstsein eines Intellektuellen, der Wissen angesammelt hat. Keiner von uns beiden kann mehr Bewusstsein schaffen als der oder die andere, wir präsentieren lediglich unser Wissen und unsere Meinungen. Die Übernahme dieses Wissens und dieser Meinungen halten wir dann für eine Erweiterung des Bewusstseins der weiteren Anwesenden.
Das ist schlichtweg arrogant. Und diese Arroganz ist das Dilemma der modernen Linken. Anstatt davon auszugehen, dass die Zuhörenden oder Lesenden eine andere Form von Wissen haben (das ja unbestreitbar sprachlich verwandt ist mit dem Bewusstsein) und dieses mit dem unseren austauschen, glauben wir, durch unser ExpertInnen- Wissen Bewusstsein schaffen zu können oder sogar zu müssen. Wir verwechseln Bewusstsein und Bildung. Dadurch, dass jemand überwiegend mit Menschen verkehrt, die studieren und mit Theorie umgehen, entwickelt man das eigene Bewusstsein. Wer mit Menschen verkehrt, die das nicht tun, kennt vielleicht dennoch Menschen, die ein beeindruckendes Klassenbewusstsein an den Tag legen: Nicht- Studis oder Nicht-Intellektuelle, die noch nicht Marx oder Kropotkin gelesen haben.
Die linken Intellektuellen gehen davon aus, dass jedeR studiert, weil sie/er etwas wissen wollte, um Dinge umzusetzen. Da liegt der Hase im Pfeffer: Sie wollten vorher schon etwas umsetzen, hatten bereits eine Idee und die kam nicht aus dem Nichts. Sie kam aus der Schulzeit, aus der Familie, aus der Kultur, im besten Falle aus der Erkenntnis, dass das vorherige Arbeitsleben einen nicht erfüllte. Darüber hinaus vermuten linke Intellektuelle, alle würden deswegen studieren, sie schließen, völlig illegitim, von sich auf alle. Studieren nicht die Meisten eher, um entweder einen Arbeitsplatz zu bekommen oder aber einen besonders gut dotierten? Es geht, davon bin ich überzeugt, den wenigsten Studierenden um Wissen als solches, sondern, gerade in Zeiten des Bologna-Prozesses, bedeutet es einfach eine Ausbildung für etwas, was man später mal machen möchte Lehrer, Manager, Professor oder leitender Angestellter. Oder aber autonomer Kommunenbewohner, der sich durch (Schein-)Selbständigkeit oder Hartz IV finanziert. Woher kommt die Idee, dass letzterer Lebensentwurf besser wäre als der einer 16jährigen Hauptschülerin, deren Zukunftsvision Hartz IV kriegen oder Superstar werden ist?
Quelle: http://www.grundrisse.net/grundrisse29/verstimmt_das_Bewusstsein.htm
Autor: bewernt@uni-muenster.de
Lizensbestimmung: http://www.grundrisse.net/Copryrights/gnu_free_documentation_license.htm
Torsten Bewernitz: Das Sein verstimmt das Bewusstsein
Soundtrack: Daddy Longleg: Crime
we never said we know a simple way
we never said that everything's okay
so fuckin governments shut up
so goddamn know-it-alls piss off
who the fuck knows what's going on
who brings the food, the streets, the goods
we are the workers, we know what's going on
we should know how to organize!
(von Barricadas, Falling Down Records 2007)
Um kaum einen Begriff ranken so viele linke Mythen wie um den des Bewusstseins. Ob Parteien, Gewerkschaften, NGOs (Nichtregierungsorganisationen) oder Autonome unisono heißt es, um die Welt zu verändern, sei ein Bewusstsein der Verhältnisse notwendig.
Insbesondere unter Studierenden und Intellektuellen dominiert daher ein Verständnis von Bewusstsein, nach dem dieses durch Lesen und Lernen zu erwerben sei. Die Folge sind Seminare, Bücher, Abendveranstaltungen oder Beiträge wie dieser (wobei dieser, um es vorweg zu sagen, nicht Bewusstsein schaffen will, sonder in der Tat belehren). DozentInnen, AutorInnen und ReferentInnen fühlen sich folglich als VermittlerInnen dieses Bewusstseins. Sie haben sich ausführlich mit einem Thema beschäftigt, gelten als ExpertInnen für einen bestimmten Bereich und vermitteln dieses weiter. Dieses Verständnis von Bewusstsein definiert den Begriff als politisch. Unter den Tisch fällt das ökonomische Bewusstsein über die eigene Klassenlage. Das politische Bewusstsein kann sich als durchaus fatal erweisen, es muss keineswegs in ein Engagement führen, sondern es kann auch ein Bewusstsein sein, dass Neoliberalismus fördert oder sich als nationales Bewusstsein artikuliert.
Für Intellektuelle und Studierende, die einmal Intellektuelle werden wollen (den Autoren eingeschlossen) und insbesondere für PolitikerInnen, die nicht nur in Parteien zu finden sind, ist es wichtig, sich als VermittlerInnen von Bewusstsein zu verstehen, schließlich bestimmt diese Aufgabe ihr eigenes Bewusstsein: Wir haben viel Zeit damit verbracht, uns selber weiterzubilden, Spezialisten zu werden und wollen unser erworbenes Wissen nicht für uns behalten oder sind überzeugt, dass unsere Politik für alle richtig ist. In diesem Punkt unterscheiden sich Autonome nur unwesentlich von Sozial- oder auch Christdemokraten.
Daran ist weniger falsch, als dieser Beitrag im Folgenden implizieren wird. Das erworbene und erarbeitete Wissen weiter zu geben ist moralische und oft auch ökonomische Rechtfertigung für die zeitliche Investition in die Bildung. Dieses nicht weiter zu vermitteln, würde die Idee der Bildung ad absurdum führen. Diese Aufgabe manifestiert das Bewusstsein der Intellektuellen.
Allein: Vorträge etwa über die Globalisierung, Bewegungen am anderen Ende der Welt oder Organisationsstrukturen neonazistischer Organisationen präsentieren nur angelesenes und angeeignetes Wissen. Sie sind sinnvoll, denn die Struktur der WTO oder der G8 zu begreifen, kann helfen, die eigenen Verhältnisse in einen größeren Zusammenhang zu stellen und etwa den eigenen Arbeitsvertrag anders zu sehen, die Struktur neonazistischer Organisationen erklärt evtl., warum eine Kameradschaft ein Dorffest ausrichtet, Nachhilfeunterricht organisiert o.ä. Um eine solche Veranstaltung zu besuchen oder einen Beitrag oder ein Buch zu solchen Themen zu lesen, muss ich aber bereits eine Form von Bewusstsein haben, das Verständnis, dass diese Themen etwas mit meinem Alltagsleben zu tun haben: Wenn ich eine Veranstaltung über Strukturen einer neonazistischen Organisation besuche, ist mir bereits bewusst, dass Neonazis ein Problem sind, wenn ich ein Buch über Globalisierung lese, weiß ich bereits, dass diese Auswirkungen auf mein Leben hat. Solche Beiträge prägen also gar nicht das Bewusstsein, denn es ist bereits vorhanden. Sie erweitern maximal mein Wissen und fördern das Bewusstsein des anwesenden Experten. Sind die ExpertInnen mal zur Abwechslung keine SozialwissenschaftlerInnen, sondern z.B. JuristInnen, ist das für meinen Alltag sogar sehr praktisch. Aber auch dann habe ich die Veranstaltung besucht oder das Buch gelesen, weil ich bereits von der Notwendigkeit dieser Informationen überzeugt war. Oder aber ich besuche die Veranstaltung aufgrund meines eigenen Bewusstseins als Intellektueller, ich fühle mich aufgrund meiner Identität verpflichtet, mich fortzubilden oder meinen Senf zum Thema abzugeben. Vielleicht möchte ich das sogar in kritischer Absicht, weil ich anderer Meinung als die ReferentIn bin und das kundtun möchte. Ich fürchte dann, dass die ReferentIn den anderen Anwesenden ein falsches Bewusstsein vermitteln könnte.
Das setzt voraus, dass wir unser Wissen für das bessere, kompetentere und letztendlich wahrere halten. Wenn die Gäste unserer Veranstaltung uns dann erzählen, dass der Nazi von nebenbei aber doch eigentlich ganz nett sei, weil er unsere Oma betreut oder unseren Sohn auf die Hüpfburg beim Stadtfest begleitet, wenn sie uns erklären, dass noch nie jemand von der WTO bei ihnen im Betrieb war, um eine neue Regelung einzuführen, dann halten wir das für (notwendig falsches) Bewusstsein. Unser Sein als Intellektuelle hat unser Bewusstsein als BesserwisserInnen und KlugscheißerInnen bestimmt.
Vielleicht aber haben unsere Gäste recht: Der Nazi von nebenan ist möglicherweise wirklich ganz nett, hat Spaß an der Betreuung meiner Oma, beginnt deswegen demnächst sein freiwilliges soziales Jahr und ist danach längste Zeit Nazi gewesen. Wir haben Wissen über die Strukturen der neonazistischen Organisationen, aber keine Erfahrung mit dem Nazi von nebenan. Und darauf kommt es an, wenn es darum geht, Bewusstsein zu entwickeln. Was wir als Bewusstsein verkaufen, ist blanke Ideologie.
Das zeigt den Fehler an der ganzen Sache: Der Referent und ich haben genau das selbe Bewusstsein eines Intellektuellen, der Wissen angesammelt hat. Keiner von uns beiden kann mehr Bewusstsein schaffen als der oder die andere, wir präsentieren lediglich unser Wissen und unsere Meinungen. Die Übernahme dieses Wissens und dieser Meinungen halten wir dann für eine Erweiterung des Bewusstseins der weiteren Anwesenden.
Das ist schlichtweg arrogant. Und diese Arroganz ist das Dilemma der modernen Linken. Anstatt davon auszugehen, dass die Zuhörenden oder Lesenden eine andere Form von Wissen haben (das ja unbestreitbar sprachlich verwandt ist mit dem Bewusstsein) und dieses mit dem unseren austauschen, glauben wir, durch unser ExpertInnen- Wissen Bewusstsein schaffen zu können oder sogar zu müssen. Wir verwechseln Bewusstsein und Bildung. Dadurch, dass jemand überwiegend mit Menschen verkehrt, die studieren und mit Theorie umgehen, entwickelt man das eigene Bewusstsein. Wer mit Menschen verkehrt, die das nicht tun, kennt vielleicht dennoch Menschen, die ein beeindruckendes Klassenbewusstsein an den Tag legen: Nicht- Studis oder Nicht-Intellektuelle, die noch nicht Marx oder Kropotkin gelesen haben.
Die linken Intellektuellen gehen davon aus, dass jedeR studiert, weil sie/er etwas wissen wollte, um Dinge umzusetzen. Da liegt der Hase im Pfeffer: Sie wollten vorher schon etwas umsetzen, hatten bereits eine Idee und die kam nicht aus dem Nichts. Sie kam aus der Schulzeit, aus der Familie, aus der Kultur, im besten Falle aus der Erkenntnis, dass das vorherige Arbeitsleben einen nicht erfüllte. Darüber hinaus vermuten linke Intellektuelle, alle würden deswegen studieren, sie schließen, völlig illegitim, von sich auf alle. Studieren nicht die Meisten eher, um entweder einen Arbeitsplatz zu bekommen oder aber einen besonders gut dotierten? Es geht, davon bin ich überzeugt, den wenigsten Studierenden um Wissen als solches, sondern, gerade in Zeiten des Bologna-Prozesses, bedeutet es einfach eine Ausbildung für etwas, was man später mal machen möchte Lehrer, Manager, Professor oder leitender Angestellter. Oder aber autonomer Kommunenbewohner, der sich durch (Schein-)Selbständigkeit oder Hartz IV finanziert. Woher kommt die Idee, dass letzterer Lebensentwurf besser wäre als der einer 16jährigen Hauptschülerin, deren Zukunftsvision Hartz IV kriegen oder Superstar werden ist?