Geschichten aus Absurdistan

@Tommy,

Du hast wirklich schriftstellerisches Talent. Du kannst den Leser durch Deine detaillierte Beschreibung mit ins Bild holen, so dass man wie ein Teilnehmer mit im Geschehen ist - das kann nicht jeder.

Hast Du eigentlich auch ein erfundenes Kochbuch geschrieben? Ich bin interessiert an fantastischen Kochrezepten. Ich habe in "Unter uns" mitgelesen und habe den Eindruck gewonnen, Du hast ein tolles Ernährungsbewusstsein und kennst die besten Energierlieferanten-Drinks.

Lieferbar über das magische grosse A. Wenn dem so ist, wäre, sei, bleibe ich hier gerne neugierig in der Warteschleife.:LOL:
 
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@Tommy,

Du hast wirklich schriftstellerisches Talent. Du kannst den Leser durch Deine detaillierte Beschreibung mit ins Bild holen, so dass man wie ein Teilnehmer mit im Geschehen ist - das kann nicht jeder.

Hast Du eigentlich auch ein erfundenes Kochbuch geschrieben? Ich bin interessiert an fantastischen Kochrezepten. Ich habe in "Unter uns" mitgelesen und habe den Eindruck gewonnen, Du hast ein tolles Ernährungsbewusstsein und kennst die besten Energierlieferanten-Drinks.

Lieferbar über das magische grosse A. Wenn dem so ist, wäre, sei, bleibe ich hier gerne neugierig in der Warteschleife.:LOL:
Leider bin im Kochen nicht so gut. Spiralnuden mit Bolognese, ja das kann ich, lecker. Und Kartoffeln mit Zaziki, noch leckerer, lecker². Das war's dann aber auch. Ich fürchte also, dass da bei mir nicht viel zu holen ist, lese aber gern im Kochthread mit. :cool:
 
Spiralnuden mit Bolognese, ja das kann ich, lecker. Und Kartoffeln mit Zaziki,
Das sind schon mal zwei Sachen, die ich auch gerne esse.

Bei den Kartoffeln halte ich es mit kleinen Drillingen aus dem Bioladen und die Soße mache ich aus Joghurt, etwas Sahne, Petersilie und Knoblauch mit einer speziellen Würze und einer Prise Salz.

lese aber gern im Kochthread mit. :cool:
Hier habe ich auch schon einige Sachen ausprobiert und mein Magen hat es für gut befunden. Das freut mich dann umso mehr, denn alles geht nicht mehr...., leider, wo ich doch so gerne esse....:sneaky:
 
4. Das dunkle Zimmer


Das Telefon klingelte lange in dem dunklen Zimmer, bis sich Schritte vom Flur her näherten. Die Tür ging auf, und jemand machte Licht.

"Nein, davon weiß ich nichts", sagte Steiner verstimmt in den Hörer hinein. "Kampe hat dazu die Unterlagen, mit dem sollten Sie sich ... Ich komme auch gerade erst von der Sitzung...Dazu habe ich jetzt keine Zeit...Wie bitte? Von mir aus. Wiederhören."

Steiner legte den Hörer verärgert auf und ließ sich in den Sessel sinken.

Dieser Mensch, der Neue aus der Nachbarabteilung, war der normal? Warum gab er nicht Ruhe nach Dienstschluss, wie jeder andere auch? War dieser geradezu fanatische Eifer, dieser manische Zwang, alles perfekt und noch perfekter zu machen, akzeptabel? Oder war eine ganz bestimmte Absicht im Spiel? Wollte der Mann vielleicht seine Position ausbauen, durch Leistungen glänzen und am Ende ihn, Steiner, ausstechen und verdrängen? Wenn der Neue in diesem Stil weitermachte, musste Steiner beizeiten geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen, um den Mann zu stoppen oder gar ganz zu neutralisieren, soviel war klar.

Solchen Gedanken nachhängend, döste Steiner eine ganze Weile vor sich hin, bis er mit einem Mal erkannte, dass es um ihn herum dunkel geworden war. Er sah die eigene Hand vor Augen nicht, so groß war die Finsternis, die sich im Raum ausgebreitet hatte. Sicher ein Stromausfall, wie so oft in letzter Zeit. Das konnte schon einige Minuten dauern.

Steiner gefiel es nicht, so im Dunklen, es hatte ihm noch nie gefallen. Er fühlte sich unwohl. Er, allein, wie ein ausrangierter Waggon auf dem Abstellgleis. Nur er und das große, stille Haus.

Plötzlich kam ihm zu Bewusstsein, dass die Standuhr aufgehört hatte zu ticken. Daran war wohl Laura schuld, die ihren häuslichen Angelegenheiten nur mangelhaft nachkam und sich stattdessen auf der Bühne herumtrieb, um dort Rollen für irgendwelche Kriminalkomödien einzustudieren.

Die darauffolgenden Minuten blieb es still. Steiner merkte deutlich, wie das Unbehagen wuchs. Jetzt musste etwas geschehen.

Er wollte schon aufstehen und sich zur Tür vortasten, als er im Flur näher kommende Schritte zu hören glaubte. Wahrscheinlich Laura, die um diese Zeit immer von der Theaterprobe kam. Steiner lauschte angestrengt, aber jetzt war wieder alles still.

Er wusste nicht, wie lange er nur dagesessen und zur Tür gestarrt hatte, bis er schließlich ein leises Knarren hörte und einen frischen Luftzug auf der Haut spürte.

"Laura?" fragte er mit etwas zittriger Stimme ins Dunkle hinein.

Niemand antwortete. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte er eine Gestalt wahrzunehmen, die dann aber sofort wieder untergetaucht war.

Steiner schluckte. Da war jemand. Jemand, der jetzt vielleicht auf ihn zu schlich...

Auf den Teppich. Lass dich auf den Teppich gleiten. Und nun nimm Deckung. Nur kein Geräusch machen. Abwarten.

Steiners Puls schlug schneller, je länger er wartete. Seine Augen durchsuchten das dunkle Zimmer rastlos nach Anhaltspunkten, ohne jedoch mehr als nur vage Umrisse zu erkennen.

Ein leises Kratzgeräusch kam von irgendwoher. Er fühlte, wie eine jähe Hitzewelle in ihm aufstieg. Sein Herz raste wie wahnsinnig.

Von hinten. Wenn er von hinten herankommt. Vielleicht steht er schon da...

Steiner wandte sich mit einem Ruck um. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Finsternis. Nun knackte es hinter dem Sofa...

Den Atem anhalten. Sich klein machen.

Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.

Hier bist du nicht sicher. Du musst die Wand erreichen. Kriech zur Wand hin.

Steiner tastete auf allen Vieren den Teppich entlang, darauf gefasst, jeden Augenblick in einen grässlichen Entsetzensschrei auszubrechen.

Jetzt ja nirgendwo anstoßen.

Er schlängelte sich zwischen zwei Polstersesseln hindurch, umkrabbelte die große Stehlampe, hielt von Zeit zu Zeit in äußerster Spannung an und lauschte, ob sich in der Dunkelheit etwas tat.

Nach einer Ewigkeit stieß er auf etwas Kaltes, Glattes. Das war die Wand. Gott sei Dank! Steiner lehnte sich erschöpft zurück. Die Kleider klebten am ganzen Körper.

Da hörte er neben sich ein Schaben. So, als wenn jemand mit dem Messer an der Wand entlangging. Jetzt wiederholte sich das Schaben, allerdings wesentlich näher.

Steiner erstarrte. Gedankenfetzen schossen ihm durch den Kopf.

Mit einem Wahnsinnsschrei aufspringen und zur Tür durchbrechen. Oder auf den Angreifer zu. Oder auf die Knie fallen und um Gnade bitten.

Dazwischen immer wieder die Vision eines aufblitzenden Messers, das wie ein zuhackender Vogelschnabel auf ihn niederfuhr.

Steiner brauchte einige Zeit, bis er sich aus seiner Starre gelöst hatte. Ihm war fast schlecht vor Angst. Wie im Traum schlängelte er jetzt an der kalten, endlosen Wand entlang. Dicht hinter sich vernahm er ein scharfes, rhythmisches Atmen, und er spürte einen eisigen Windzug in seinem Nacken.

Das Tempo beschleunigen. Mach, dass du wegkommst.

Aber es ging nicht mehr weiter. Die Wand war hier zu Ende. Steiner begann zu zittern und sich wie ein Insekt zu krümmen. Immer tiefer drückte er sich in die Ecke, als könne die Wand ihn aufnehmen und verschwinden lassen.

Da blitzte es auf. Steiner schwanden die Sinne. Jetzt fuhr das Messer auf ihn herab...

"Was machst du denn da?" fragte Laura, die das Licht eingeschaltet hatte und das Treiben ihres Mannes aufmerksam verfolgte.

"Ach...ach nichts. Nichts weiter", sagte Steiner und begann, sich umständlich aus seiner Ecke zu erheben. "Nur ein kleiner Schwächeanfall. Alles in Ordnung."

Steiner strich seinen mit Teppichflusen angereicherten Anzug glatt, rückte die zerknitterte Krawatte zurecht und fuhr sich mit der Hand durch die zerstörte Frisur.

"Das war ein anstrengender Tag im Büro. Ich werde wohl besser gleich schlafen gehen."

"Ja, mach das", sagte Laura und sah an ihm vorbei. "Ich räume hier nur noch auf."

Sie schüttelte ein paar Sofakissen auf und rückte die beiden Polstersessel in ihre Ausgangsposition. Dann verließ auch sie das Zimmer. Das Licht ging aus und die Tür schloss sich.

Jetzt verfiel das dunkle Zimmer wieder in ein langes, gleichbleibendes Schweigen, das nur durch die Verkehrsgeräusche der angrenzenden Straße hin und wieder unterbrochen wurde.
 
5. Warum Urlaubsreisen nicht lohnen

I

Es sollte ein Urlaub ganz besonderer Art werden. Fernab vom Touristenrummel, im Freien, unter azurblauem Himmel, inmitten ungebändigter Natur. Nur er und seine Laura.

Die Zeltplane hatte er locker auf dem Dachgepäckträger unterbringen können - eine Aufgabe, mit der er keineswegs überfordert war, wie Laura lautstark prophezeit hatte. Und er würde den Nachweis führen, dass genau diese und keine andere Zeltplane da oben blieb, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.

Was jetzt eigentlich nur noch fehlte, war Laura selbst. Parker vermutete schon seit geraumer Zeit hinter der ein wenig rauen Fassade Lauras ein reichhaltiges, seelisches Innenleben; in das wollte er sich vertiefen und es ausgiebig studieren.

Wie immer kam sie nahezu eine halbe Stunde zu spät.

"Zückerschnäuzchen!", sagte er mit gespielter Überschwänglichkeit, weil er wusste, dass sie diesen Ausdruck hasste.

"Vollidiot", erwiderte Laura eisig. Das war die übliche Begrüßung. Was sich liebt, das neckt sich.

"Na, dann los", sagte er und stieg ins Auto. Laura nahm neben ihm Platz, und während er noch startete, hatte sie bereits einen Krimi hervorgezogen und mit dem Lesen begonnen.

Parker wusste, dass vor ihnen eine lange Autobahnfahrt lag; deshalb schaltete er das Radio ein, um für eine angemessene musikalische Untermalung zu sorgen. Es musste schon etwas Modernes, Treibendes sein, sonst kam keine Stimmung auf.

"Ebenso wie seine europäischen Artgenossen bricht auch der afrikanische Kranich nur zur Balzzeit sein Schweigen. Ihn sieht man dann beim berühmten Kranichtanz und hört weit schallend die eigentümlichen Balzschreie..."

Parker drückte den Sender weg. "War doch gut", sagte Laura geistesabwesend, sie war wohl zu sehr mit ihrer Lektüre beschäftigt.

Auch andere Sender hatten wenig Unterhaltsames zu bieten: jede Menge Morgengymnastik, klassische Musik und ein unverständlicher Vortrag über "kommunikatives Handeln". Da war selbst der Verkehr auf der Straße aufregender.

Er stellte ab und konzentrierte sich nur noch auf das Geschehen vor und hinter ihm. Sie hatten jetzt die Autobahn erreicht, und er musste höllisch aufpassen, dass er keinen Fehler machte und nirgendwo aneckte. Denn das würde Laura mit Sicherheit dazu nutzen, seine Qualitäten als Fahrer mit einer vernichtenden Kritik zu überziehen.

Diese Überlegungen, das wusste er, waren Überreste einer alten Angst vor der Meinung anderer. In letzter Zeit kümmerte er sich zwar wenig darum, wie und was man von ihm dachte. Früher war es aber anders gewesen. Das Gehirn spielte ihm nun eine sehr hässliche Szene vor, die er eigentlich vollständig hatte verdrängen wollen. Damals, als er auf die Betäubungsspritze verzichtete, um die Sprechstundenhilfe zu beeindrucken....

Der Zahnarzt setzte gerade eine neue Bohrnadel ein. "Tut aber weh", sagte er. "Macht nichts", sagte Parker. Erst als die Nadel tief im Inneren des Zahns zu arbeiten begonnen hatte und den Nerv massierte, erkannte er, dass dies keine gute Idee gewesen war. Er begann, wie ein Schlossgeist zu wimmern, zunächst sehr leise und verhalten, dann deutlich vernehmbar, schließlich mit einer raumfüllenden Lautstärke. Und die assistierende Sprechstundenhilfe amüsierte sich köstlich, wie er aus den Augenwinkeln heraus bemerkte....

Ein polterndes Geräusch unterbrach den Film. "Es ist unglaublich, was die Anwohner so alles auf die Fahrbahn werfen", sagte Parker nach einem kurzen Blick in den Rückspiegel. Er sagte das aber mehr für sich, denn auf eine sprachliche Reaktion Lauras war nicht zu hoffen, wenn sie sich auf etwas konzentrierte. So war Laura eben.

Die Sonne hatte inzwischen ihre Versuche, hinter den Wolken hervorzubrechen, eingestellt, die Landschaft verdunkelte sich zusehend. Dies war eigenartig; der Tag war noch nicht richtig auf Touren gekommen, und doch hatte er den Eindruck, dass es in rasantem Tempo auf den Abend zu ging.

Er schaltete das Licht ein. Links und rechts aus den Wäldern drangen in unregelmäßigen Abständen grünliche Lichtschimmer und Signale, so als gehe dort eine geheime Verständigung vonstatten. Auch Laura hatte sich auf merkwürdige Weise verändert. Sie saß mit maskenhaftem, unbewegtem Gesichtsausdruck im Sitz und starrte auf die Fahrbahn. Der Krimi war ihr aus den Fingern geglitten und unter den Sitz gerutscht.

"Magst du mir ein wenig vorlesen?" fragte Parker, um die Situation zu entschärfen.

Laura antwortete nicht. Sie hatte, wie ihm schien, erheblich an Größe und Umfang zugenommen, war massiver, eckiger geworden und hatte kaum noch Ähnlichkeit mit der Laura, die er von früher her kannte.

Gar nicht hinsehen, dachte er. Es war durchaus möglich, dass Laura sich von allein fing und ihre ursprüngliche Gestalt wieder annahm. Zugegeben, die Situation irritierte ihn. Zwar war ihm nach aller bisherigen Erfahrung klar geworden, dass eine konstante Wirklichkeit nicht existierte. Dass in jedem Moment alles oder nichts geschehen konnte. Aber die Konzentration, mit der die abweichenden Dinge nun auftraten, war doch schon sehr beunruhigend. Selbst der Verkehr gehorchte nicht mehr der üblichen Logik. Das Fahrzeug, dass sie soeben überholt hatten, war seltsamerweise ganz aus dem Rückspiegel verschwunden; es musste wohl irgendwo rechts in den Wäldern versunken sein.

"Anhalten!" sagte Laura plötzlich mit einer harten, keinen Widerspruch duldenden Stimme.

"Geht doch nicht auf der Autobahn."

"Ich sagte: Anhalten!"

Ein rascher Seitenblick machte deutlich, dass es vernünftiger war zu gehorchen, denn Laura war ihm mittlerweile körperlich um ein Vielfaches überlegen. Er fuhr rechts heran und schaltete die Warnblinkanlage ein.

Laura griff sich vom Rücksitz ihre Handtasche, die inzwischen zu einem stattlichen Reisebeutel angewachsen war und verließ ohne ein weiteres Wort den Wagen. Dann verschwand sie spurlos im Dickicht.

II

Die Autobahn war mit einem Male zuende. Parker hätte es nie für möglich gehalten, dass ein so breites, ausgebautes Gebilde dermaßen abrupt in eine schäbige, heruntergekommene Landstraße münden konnte. Wegen der vielen Schlaglöcher musste er das Tempo enorm drosseln und sich mit einer geradezu lächerlichen Geschwindigkeit begnügen.

Die Feld- und Wiesenlandschaft, die sich nun vor ihm auftat, bot einen jämmerlichen Anblick, der sehr an das deutsche Tiefland gemahnte, das er eigentlich hinter sich hatte lassen wollen. Unangenehm berührt fuhr er in die erste Ortschaft ein. Die Straßenzüge kamen ihm merkwürdig bekannt vor, und je weiter er vordrang, desto überraschender waren die Ähnlichkeiten. Dann endlich musste er das Auto zum Stillstand bringen und aussteigen. Es war nicht zu fassen, er traute seinen Augen nicht!

Die Nachbarschaft stand am Gartenzaun beisammen, als habe sie seine rasche Rückkehr erwartet. Der große, dickbäuchige Kuhlschmidt trat nun aus der Gruppe hervor und schnalzte überlegen mit den Hosenträgern.

"Na, schon wieder zurück, Parker? Hat´s in Italien nicht gefallen?"

Parker war zu abgespannt, um diese Frechheit angemessen beantworten zu können und kramte den Hausschlüssel hervor.

Kuhlschmidt legte in der Zwischenzeit nach.

"Ach übrigens, was ist denn mit dem Zelt passiert? Sieht so übersichtlich aus auf dem Dachgepäckträger..."

Parker schnitt ihm das Wort ab, indem er die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Eine Sitzgelegenheit fand sich hier nicht, denn es war alles anders geworden. Nur nackter Fußboden und kahle Wände, dafür aber ein hervorragender Raumhall, wie er nach einem monströsen Schrei feststellte.
 
6. Die andere Art der Bescherung
Part 1

"Eben noch mal im Internet posten", sagte Andrea und verschwand im Nebenzimmer.

Das kam Parker alles andere als ungelegen. Er hatte schon befürchtet, sie würde ihre Sucht unterdrücken, nur weil Heiligabend war.

Jetzt war er allein. Und jetzt galt es, schnell und präzise zu operieren, letzte Arrangements zu treffen und eine stimmungsvolle Atmosphäre zu zaubern für den großen Showdown.Eine nachhaltiges Fest - das sollte es diesmal werden. Ein noch viel besseres als im vergangenen Jahr. Entschieden besser.

Parker zerrte die vorbereitete Kiste mit dem bunten Lametta und den etwas anderen Christbaumkugeln hervor und begann damit, dem Baum ein neues, druckvolles Outfit zu verpassen. Es war ein weitverbreiteterIrrtum, dass Frauen den Weihnachtsbaum besser schmücken könnten als Männer. Dieser Andrea-Baum hier war in seiner Schlichtheit einfach nur langweilig und einfallslos. Kitsch des Funktionalen, nichts anderes. So konnte keine Weihnachtsstimmung aufkommen. Offenbar gingen manche Menschen immer noch von der absurden Idee aus, dass es ausreiche, wenn es in der Wohnung nach Glühwein und Zimtsternen roch, und dass eine Handvoll alberner Kerzen und verschämten Silbergehänges eine Tanne zum Weihnachtsbaum machte.

Dies ihr ins Gesicht zu sagen - dazu hätte es allerdings einer Märtyrereinstellung der gehobenen Klasse bedurft. Nein, es galt vielmehr, die Botschaft auf subtile Weise zu transportieren.

Nicht den moralinsauren Zeigefinger heben. Kein *Kann-doch-wohl-nicht-dein-Ernst-sein*. Sondern mit gutem Beispiel vorangehen und das Andere und Bessere vormachen.

Während Andrea im Nebenraum saß und im Internet verzweifelt einen Ausweg aus ihrer inneren Leere suchte, arbeitete er mit Hochdruck daran, einen Baum zu servieren, der an Weihnachtlichkeit jedem Vergleich spottete.

Sicher, es gab auch Momente, in denen er sich mitverantwortlich fühlte. Mitverantwortlich dafür, dass sie von morgens bis abends im Netz hing. Solche Momente gab es durchaus. Aber ein solcher Moment war jetzt nicht.

Der Engel. Der Engel mit den großen, schwarzen Augen. Es galt, ihn effektvoll zu platzieren. Andrea liebte diesen Engel, das war gewiss, und wie sie ihn liebte.

Parker lachte kurz auf, als er daran dachte, wie sehr sie diesen Engel liebte. Und auch dieses Jahr würde er ganz bestimmt einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Parker hatte ihn aus der Mülltonne gefischt und blank geputzt, kurz nach dem Weihnachtsfest des letzten Jahres. Wie er dort hingekommen war, blieb allerdings ein Rätsel.

Die Dekorationsarbeiten unter Zeitdruck zehrten an den Nerven. Dass er dabei unaufhörlich die Melodie von O du fröhliche vor sich hin pfiff, bemerkte er erst, als Mickey hinter den Schrank flüchtete. Hektik im Wohnzimmer konnte sie nicht ausstehen und pfeifende Geräusche schon gar nicht.

Geschafft! Jetzt stach dieser Baum jedem, der ins Zimmer kam, ins Auge und brachte die Tatsache, dass Weihnachten war, unausweichlich und kompromisslos zur Geltung. Zum Abschluss bewarf Parker die Tanne mit Wattebäuschen, denn was wäre Weihnachten ohne Schnee? Und sei es auch nur in symbolischer Form. Weihnachten war Schnee, und die Weihnachtsbotschaft lautete:

„Hallo Schatz, es schneit.“

Oder auch:

„Hallo Schatz, ich liebe dich, nimm das hier.“

Jetzt schnell noch den schweren Andrea-Geschenkkarton von der Veranda holen und zwar vorsichtig, ganz vorsichtig, wirklich sehr vorsichtig. Und auf den Gabentisch neben den Tannenbaum hieven.

Parker schwitzte ein wenig, denn eine falsche Bewegung konnte hier schon das Aus für die Weihnachtsüberraschung bedeuten.

Was fehlte noch? Richtig, eine stimmungsvolle Musik für das nötige Weihnachtsambiente. Heino lag im CD-Fach und wartete. Und zwar mit den schönsten Weihnachtsliedern. So hieß es zumindest auf dem Cover. Parker startete ihn. Dann löschte er das Deckenlicht, dimmte die indirekte Beleuchtung auf einen angemessenen Romantik-Mittelwert, zündete die Kerzen an und entspannte.

Es war alles getan, was zu tun war. Nun konnte er eigentlich das Glöckchen läuten.

Irgendwie hatte er den Eindruck, dass er mit dieser aus der Kindheit geretteten Tradition nicht ganz den Geschmack Andreas traf. Zumindest hatte es im vorigen Jahr einen hitzigen Wortwechsel gegeben, in dem Wörter wie "Kindskopf" und "Vollidiot" eine Rolle gespielt hatten. Kein Grund allerdings, auf dieses schöne und feierliche Ritual zu verzichten, im Gegenteil.

Parker griff zum Glöckchen, kam allerdings nicht mehr dazu, es erklingen zu lassen. Andrea kehrte mit düsterer Miene zurück. Offenbar hatte sie niemanden gefunden, der am Heiligabend Publikum für ihre Selbstinszenierung spielen wollte. Parker wusste nur zu gut, was das zu bedeuten hatte. Keine guten Startbedingungen für eine Weihnachtsidylle. Aber eine gesunde Ausgangsbasis für einige drastische Effekte.

"Schon wieder zurück? Naja, es ist kurz vor sechs. Wer hat da schon Lust auf small talk. Alle freuen sich auf die Geschenke."

"Spare dir deine depperten Kommentare."

Heino sang gerade Leise rieselt der Schnee. Andrea merkte es, ging zum Turm und schnitt ihm mitten in der Strophe das Wort ab.

"Ich kann den schwachsinnigen Singsang von Frieden und Harmonie nicht mehr ertragen. Mir dreht sich der Magen um, wenn ich diese verlogenen Lieder höre!"

"Aber Schatz. Die meisten Menschen wollen das so. Da kommen die schönen Gefühle hoch, Erinnerungen an die Kindheit, die Sehnsucht nach Geborgenheit und nach einer friedlichen Welt. Warum ist das falsch?”

"Kindische Freude", unterbrach Andrea. In einer schwachen Stunde hatte sie ihm unvorsichtigerweise ein frühkindliches Ablehnungserlebnis anvertraut, das wie ein ungelöstesTrauma über ihrem Leben hing und sie alles hassen ließ, was mit Kindheit, Freude und Gefühlen der Zuneigung zusammenhing.

Sie starrte den Baum an.

"Wie ich sehe, hast du dir alle Mühe gegeben, die Geschmacklosigkeiten des vorigen Jahres noch zu toppen."

"Gefällt er dir nicht?"

Parker setzte einen Ausdruck ehrlichen Erstaunens auf. Der Baum war um Längen besser als vorher, aber offenbar hatte sie nicht die innere Größe, das zuzugeben.

Andrea atmete tief ein und dann ganz langsam wieder aus.

"Es ist Weihnachten", sagte sie nur.

Dann entdeckte sie den Engel mit den traurigen Augen zwischen den Zweigen und sagte noch einmal:

"Weihnachten. Heute ist Weihnachten."

Klar war Weihnachten. Manches überraschte ihn an dieser Frau, selbst nach zwölf Jahren Ehe. Zum Beispiel, dass sie zuweilen Dinge sagte, die offenkundig waren, und die eigentlich nicht gesagt werden müssten.

"Magst du dein Geschenk auspacken?" strahlte Parker und zeigte auf das kleine Kistchen, das im flackernden Kerzenschein unruhige Schatten an die Wand warf.

"Du hast ein Geschenk für mich? Das wäre doch nicht nötig gewesen. Aber sieh mal, ich habe auch eins für dich."

Und damit drückte sie ihm ein knallbuntes Paket in die Hand. Es war mit einem giftgrünen Schleifchen versehen, das vermutlich sogar im Dunkeln leuchtete. Von außen sah das ganz vernünftig aus, aber Andreas Äußerung hatte einen seltsamen Unterton, der ihm überhaupt nicht gefiel und Unangenehmes befürchten ließ.

"Fein. Sehr schön", sagte er deshalb nur und wollte es schon beiseite schieben.

"Na, mach doch mal auf."

Ihre Stimme nahm einen fordernden Klang an. Parker hielt das Geschenk unschlüssig in der Hand. Er war wenig neugierig auf den Inhalt.

"Eine musikalische Untermalung könnte jetzt gar nicht schaden", sagte Andrea und drehte die Anlage wieder auf. Heino sang gerade Jingle Bells. "Gar allerliebst", kommentierte sie. Ein breites Lächeln huschte über ihr Gesicht. Und Parker dämmerte es, dass er mit der CD ein Eigentor geschossen hatte.
 
Part 2

Auf der anderen Seite - wie schlimm konnte es werden? Irgendein unbrauchbares Zeugs, das nichts zu tun hatte mit seinem Leben. Ein Briefmarkenalbum vielleicht oder ein Buch mit Häkelmustern...Na und? Er würde es mit Humor nehmen und sich bedanken. Ihr einen dicken Strich durch die Rechnung machen. Das wahre Highlight stand nämlich noch aus. Und erst dann war endgültig entschieden, ob es sich um einen gelungenen Abend handelte.

"Worauf wartest du?" fragte Andrea.

"Ich will nur die Vorfreude auskosten, Schatz."

Parker wickelte das Geschenk ganz langsam aus und suchte unterdessen in seinen Gedächtnisarchiven fieberhaft nach dem seligen Weihnachtslächeln aus seiner Kindheit.

Es war eine Krawatte. Eine gräuliche Krawatte. Das Preisschildchen klebte noch an der Plastikfolie, vielleicht aus Versehen, vielleicht auch nicht. Wie auch immer - es handelte sich um ein Super-Preissturz-Sonderangebot, so viel stand fest.

"Und ich habe noch ein anderes Geschenk für dich", sagte Andrea.

"Hier ist es. Pack es aus."

Parker nahm auch dieses Geschenk entgegen und wickelte es schweigend aus. Heino war inzwischen zu O Heiland, reiß die Himmel auf übergegangen.

"Etwas Ähnliches. Dann hast du immer was zum Wechseln."

Es war aber nicht eine ähnliche Krawatte. Es war haargenau die gleiche.

"Ich finde, das passt ganz ausgezeichnet. Grau steht dir. Meinst nicht?" strahlte Andrea.

"Es ist ein Traum", flötete Parker. "Danke, Schatz."

Und er drückte ihr einen dicken Schmatzer ins Gesicht. Am liebsten hätte sie sich die Lippen abgewischt, das spürte Parker deutlich, aber sie ließ sich nichts anmerken, sondern beäugte ihn nur misstrauisch, um an seinen Gesichtszügen eventuelle Regungen des Missfallens zu identifizieren. Diesen Gefallen tat er ihr aber nicht, sondern ging gleich zur Gegenoffensive über.

"Schau mal, da draußen, Liebling. Diese herrlich klare Winternacht! Und überall Schnee! Was hältst du von einem kleinen Weihnachtsspaziergang? Wir könnten uns an den Händen halten und in die Unendlichkeit des Sternenhimmels hinaufsehen."

Andrea schluckte. Parker wartete nicht erst ab, bis sie sich eine passende Antwort zurechtgelegt hatte.

"Vorher aber geht's weiter mit der Bescherung. Geschenke sind etwas Tolles. Jetzt du. Da, auf dem Tisch, das ist deines. Ich bin ja so aufgeregt! "

Und das war nicht einmal gelogen. Tatsächlich hatte ihn eine gewisse Erregung ergriffen bei dem Gedanken, dass der Abend möglicherweise auf seinen Höhepunkt zusteuerte.

Weit weniger Interesse zeigte Andrea. Sie hatte schon wieder Heinos Stimme ersterben lassen; offenbar ging sie davon aus, dass er seine Pflicht und Schuldigkeit getan hatte.

"Möchtest du vielleicht noch ein Gedicht aufsagen, bevor ich auspacke?" fragte sie spöttisch.

"Gern", erwiderte Parker trocken. "Ein Weihnachtsgedicht. Es stammt von Mahatma Gandhi." Und er begann mit säuselnder Stimme zu intonieren:

Alle unsere Streitigkeiten
entstehen daraus
dass einer dem anderen
seine Meinung aufzwingen will


Andrea sah ihn mit arztähnlichem Blick an.

"Das ist kein Gedicht, sondern eine Sentenz. Und außerdem ist es idiotischer Quatsch. Streitigkeiten entstehen, wenn andere es vorziehen, sich wider besseren Wissens im Irrtum zu suhlen."

"Ja, Schatz", sagte Parker.

"Also schön, bringen wir es hinter uns", sagte sie und begann damit, die goldene Schleife zu lösen.

Das Geschenkpapier war in schlichtem Blaumetallic gehalten, ohne Bilder zum Angucken, ganz so, wie sie es mochte. Das bereitete den schlagenden Inhalt nur um so effektvoller vor.

Parker trat ein paar Schritte zurück, um die Wirkung seines Mordsgeschenkes besser beobachten zu können.

"Übrigens, superelegant das Papier, hätte ich dir gar nicht zugetraut", sagte sie und unterbrach das Auspacken für einen Moment.

"Ja, Schatz", sagte Parker ungeduldig.

Andrea nestelte wieder an der Verpackung. Offenbar hatte sie jetzt doch die Neugier gepackt, denn auf einmal ging alles sehr zügig, der Karton war freigelegt und sie versuchte, ihn anzuheben.

"Bloß nicht schütteln!" rief Parker und trat noch einige Schritte weiter zurück.

"Boah, ist der schwer!" sagte Andrea mit echter Bewunderung in der Stimme. Dann hob sie den Deckel ab.

Da lag auf stilechtem Kunststroh gebettet ein zwölfteiliges Porzellanservice in romantischem Rosendekor, mit Goldrand, versteht sich. Andrea sah ihn an.

"Spülmaschinenfest und mikrowellengeeignet", kommentierte Parker. "Damit zauberst du im Winter den Frühling auf den Tisch."

Sie ließ ihren Blick zurückgleiten und starrte wieder in den Karton. Neben dem Service lag da noch Hedwig Courths-Mahlers *Wie ist mein Herz so schwer*, mit einer prächtigen Berglandschaft auf dem Einband und *Eine ungeliebte Frau*, limitierte Auflage, zahlreiche Illustrationen. Der massive Einsatz von Rauschgoldengeln, mit denen Parker die Leeräume liebevoll ausstaffiert hatte, rundete die Komposition ab.

Andrea sah die Geschenke an, als traute sie ihren Augen nicht. Es war jetzt unglaublich still im weihnachtlichen Zimmer. Nur Bing Crosbys White Christmas war zu erahnen, die Kuhlschmidts nebenan dudelten die CD seit gut einer Woche. Draußen fiel der Schnee in dicken Flocken. Mickey kam aus ihrem Lieblingsversteckhinter dem Wohnzimmerschrank hervor, gähnte und stellte neugierig die Ohren auf.

Parker begann es zu dämmern, dass er einen Volltreffer gelandet hatte. Um auf der sicheren Seite zu sein, legte er nach.

"Ach so, Schatz, dies hier hätte ich fast vergessen. Gehört mit zum Geschenk."

Und damit drückte er ihr eine Weihnachtskarte in die, wie ihm schien, willenlose Hand, auf der ein verschneites Weihnachtsdorf abgebildet war. Am Bildrand kauerten Rehe, Hunde und Hasen friedvoll beisammen, den Blick auf die erleuchteten Fenster der zugeschneiten Dorfhütten gerichtet. Die Karte fühlte sich auch ganz wunderbar an, denn über den anheimelnd rauchenden Schornsteinen war der Schriftzug "Frohes Fest" mit silbrig glitzernden Körnern eingraviert. Öffnete man sie, so erklang die Melodie von Stille Nacht, heilige Nacht in rührendem Spieluhrenklang. Leider kam es dazu nicht.

Andrea starrte auf die Karte, dann wieder in den Karton, dann wieder auf die Karte. Dann erfolgte der Ausbruch, ganz so wie bei ihrem letzten Geburtstag, als er ihr ein gerahmtes Bild mit röhrenden Hirschen geschenkt hatte. Die Hirsche gammelten nun in Form mehrerer Bruchteile auf irgendeiner Müllhalde vor sich hin. Schade ums Geld. Aber das war es ihm wert gewesen.

"Das darf doch nicht wahr sein! Dieser elende Kitsch, diese infantile Schulmädchenidylle... Das wagst du mir anzubieten?! Erst die Hirsche, und jetzt das hier?"

Sie setzte sich an den Esstisch und begann zu schluchzen. Das allerdings war neu.

"Das tut mir ehrlich leid, Schatz. Ich dachte, es gefällt dir. Du kannst es ja umtauschen."

Andrea gewann allmählich ihre Fassung wieder zurück. Sie hatte sich für einen Moment lang gehen lassen, was ihr offensichtlich peinlich war. Aber jetzt hatte sie sich wieder fest im Griff und ging zum Gegenangriff über.

"Umtauschen würde ich gern etwas ganz anderes", fauchte sie. "Aber trotzdem. Dankeschön für diesen Mist hier!"

Und damit sprang sie auf, verließ fluchtartig das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

"Bitte sehr, gern geschehen", sagte Parker halblaut. Draußen im Flur gab es ein ohrenbetäubendes Scheppern. Offenbar hatte sie den Spiegel eingetreten.

Ja, so waren sie, die Steinböcke. Dieser hier hatte in drei Tagen Geburtstag.

Geburtstag? Neuer Spiegel? Moment...! Eine Vision blitzte in ihm auf. Ein Flurgarderoben-Spiegel. Natürlich! Mit Blümchen-Rand. Oder besser noch...

Parker lachte in sich hinein. Das war ein wirklich guter Heiligabend heute. Er knackte eine Walnuss und schob sich ihren Inhalt genüsslich in den Mund. Klarer Sieg, Abpfiff.
 
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Diese sechs Geschichten sind nur ein kleiner Vorgeschmack. Alle 19 Geschichten aus Absurdistan könnt ihr über den Link in meiner Signatur als pdf-Datei downloaden,

Die Geschichten stehen in der Tradition des französischen Absurdismus und des deutschen Expressionismus. Wer das mag und die Prosa von Franz Kafka liebt, kommt hier voll auf seine Kosten.
 
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