Vertrauen zwischen Arzt, Patient und Angehörigen
Ich gab den Kampf um meinen Sohn auf, weil der Arzt sagte, Christian sei tot. Eine ungeheuerliche Situation: Ich wende mich von meinem Kind ab, das warm ist, lebendig aussieht und behandelt wird wie ein Lebender, weil der Arzt sagt, mein Kind ist tot. Ich musste gegen mein eigenes Empfinden glauben.
In dieser Situation übernehmen die Mediziner eine ungeheure Verantwortung für alle jene Menschen, die ganz unterschiedlich durch die Organspende betroffen und miteinander verbunden sind. Diese Verantwortung ist unteilbar und nicht abtretbar. Sie betrifft die Angehörigen der Spender und Empfänger, den Organempfänger und letztlich die gesamte Gesellschaft - uns alle, die mit diesen Möglichkeiten und ihren Folgen leben müssen. Die Transplantationsmediziner werden dieser Verantwortung nicht gerecht.
Wir leben heute in einer Zeit, in der die Menschen dem Mediziner im existentiellen Krisenfall, in der unmittelbaren Frage nach Tod und Leben glauben und vertrauen müssen. Die Aussagen des Arztes geben häufig - entgegen den persönlichen Erfahrungen - den Ausschlag. Obwohl wir Christian vor einer Minute noch als lebendig angesehen und sich an seiner Situation für unser Empfinden und Verstehen nichts geändert hatte, haben wir von den Ärzten keine Erklärung verlangt, sondern ihnen geglaubt und vertraut. Dieses Vertrauen wird in der langen Zeit danach auf eine harte Probe gestellt. Und dieses Vertrauen in die Aussagen der Mediziner in der Frage der Organspende besteht die Probe nicht.
Ich habe meinen Sohn vor seiner Beerdigung noch einmal gesehen. Er erinnerte mich an ein ausgeschlachtetes Auto, dessen unbrauchbare Teile lieblos auf den Müll geworfen wurden. Kanülen steckten noch in seinen Armen und Händen. Ein Schnitt zog sich von seiner Kinnspitze bis tief in den Ausschnitt seines Hemdes. Die Augen fehlten. Christians Schwester hatte ihrem Bruder im Krankenhaus zum Abschied noch ein Kettchen um den Hals gelegt, und ich hatte einen Ring dazu gehängt. Wir baten darum, ihm das zu lassen, als einen letzten Ausdruck unserer Verbundenheit zu ihm. Jetzt lag die Kette zerrissen neben ihm, der Ring fehlte. Auch dafür hatten sich Abnehmer gefunden. Zurück bekamen wir nur einen blauen Müllsack mit Christians Kleidung, die total zerschnitten war, einem Socken und einem Schuh. Jetzt war er "richtig" tot, er sah auch aus wie ein Toter: er war kalt, ohne Atem, leblos. Da wurde mir deutlich bewusst, in welchem Zustand ich Christian im Krankenhaus zurückgelassen und den Medizinern anvertraut hatte. Ich hatte den Ärzten einen Menschen anvertraut, der aussah wie lebend, der warm war und behandelt wurde wie ein Lebender. Ich musste für mich klären, wozu ich ja gesagt hatte.
Wozu hatten wir "Ja" gesagt ?
Ohne es zunächst begründen zu können, erfasste mich ein tiefes Mißtrauen gegen die Transplantationsmedizin. Organspende als Akt der christlichen Nächstenliebe war ein Trugbild, eine Einbahnstraße. Wir waren bereit gewesen, ein Organ zu spenden, jetzt erfuhr ich, dass die Mediziner meinem Sohn Herz, Leber, Nieren und Augen entnommen hatten, man hatte ihm sogar die Beckenkammknochen aus dem Körper gesägt. Zerlegt in Einzelteile war er dann über Europa verteilt worden. Er war zum Recyclinggut geworden.
Wie ein Schlag traf mich die Erkenntnis, dass ich trotz des Entsetzens, trotz des wachsenden Empfindens, dass man mich in eine Richtung manipuliert hatten, die ich gar nicht wollte, kein Argument gegen die Organspende setzen konnte. Meine gefühlsmäßige Abneigung und mein wachsendes Misstrauen, dass Organtransplantation etwas anderes beinhaltet, als man uns glauben machen wollte, würde mich nicht davor schützen, in einer zukünftigen Situation erneut "Ja" zu sagen, statt "Nein". Immer wieder prallten meine Erfahrungen und Gefühle, die ich als Mutter von Christian erlebt hatte, auf die Hoffnungen und Wünsche von Müttern kranker Kinder. Ich musste mehr über die Transplantationsmedizin erfahren, um entweder meine Entscheidung doch bejahen zu können oder Argumente für ein "Nein" zu finden.