Gnostizismus und Ethik
Eine gnostische Ethik wird man vergebens suchen: die gibt es nicht. Gnostiker, die durch Erkenntnis frei geworden sind, sind nämlich Antinomisten. Da sie diese Welt ablehnen, weil sie nicht von dieser Welt sind (Joh 17,15-16: „Ich [Jesus] bitte nicht, dass du sie [die Apostel] aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst. Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin.“), leugnen sie konsequenterweise sowohl die weltliche Ethik, die ihnen völlig fremd ist, als auch ihre Bindung an das alttestamentliche Gesetz, das vom blinden Gott Jahweh deswegen erlassen wurde, weil die Menschen schwach sind und einzelne Gesetze wie „Du sollst nicht töten“, „Du sollst nicht stehlen“, „Du sollst nicht falsch aussagen“ etc., brauchen, um nicht zu sündigen, denn sie sonst hätten keinen inneren Kompass, der sie auf natürliche Weise davon abhalten würde, das Böse zu wählen, was immer darunter zu verstehen ist.
Jesus kam, um die unvollkommenen mosaischen Gesetze durch höhere Gebote zu erfüllen.
Mt 5,17: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen.“
Joh 14,21: „Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer mich aber liebt, wird von meinem Vater geliebt werden und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren.“
Oberflächlich betrachtet, könnte man diese Haltung als anarchistisch oder gar freizügig, denn wenn keine moralische Schranken gelten – so behaupten Kritiker – , stünde einem potenziellen Missbrauch Tür und Tor offen.
Die Wahrheit ist: Gnostiker brauchen keine Gesetze, weil sie sich nach ihrer persönlichen inneren Motivation ausrichten. Diese ergibt sich aus ihre Orientierung auf die Gebote des Geistes, die ein wesentlich höheren Standard aufweisen als menschliche oder göttliche Gesetze. Stattdessen betonen sie die göttliche Gnade, die über jedem Gesetz erhaben ist. Wir werden nicht deswegen erlöst, weil wir Gesetze eingehalten haben, sondern, weil wir die Gnade des Vaters erhalten.
Der Vater muss sich an keinen Automatismus halten, der in Kraft treten würde, wenn wir uns an Gesetze halten. Das würde heißen, dass sich sogar der Vater an seine eigene Gesetze halten müsste. Der Vater ist aber über alles erhaben. Nur seine Gnade und seine Güte haben Daseinsberechtigung. Wenn wir im Sinne seiner Gebote der Liebe handeln, die von Jesus gelehrt wurden, haben wir guten Grund zu hoffen, dass er uns seine Gnade schenken wird, denn die Welt des Vaters existiert in erster Linie durch Schenken und Beschenktwerden, nicht durch Gesetze.