Selbst die besten Meditierenden haben alte Wunden zu heilen
(Jack Kornfield : Was heilt uns ? Zwischen Spiritualität und Therapie. Hrsg. Von Michael Steilinger)
ein gekürzter Ausschnitt:
Für die meisten Menschen genügt die Übung der Meditation allein nicht aus. Im besten Fall ist sie ein wichtiger Teil des komplexen Weges der Öffnung und des Erwachens.
Für das spirituelle Leben halte ich es für sehr wichtig, die Aufmerksamkeit den eigenen Schattenseiten zuzuwenden, also jenen Aspekten unseres Selbst und unserer Praxis, die uns noch nicht bewusst sind. Als Meditationslehrer bin ich fest vom Wert der Meditation überzeugt. Intensive Übungsperioden können uns helfen, die Illusion des Abgetrenntseins aufzulösen, sie können tiefgründige Einsichten und bestimmte Arten tiefer Heilung hervorbringen.
Dennoch hat intensive Meditation ihre Begrenzungen. Wenn ich nun über diese Begrenzungen spreche, will ich das nicht theoretisch tun, sondern unmittelbar aus meiner eigenen Erfahrung und aus meinem Herzen.
Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die zur Meditation gekommen sind, nachdem sie mit traditioneller Psychotherapie gearbeitet haben. Obwohl die Therapie für sie wertvolle Erfahrungen brachte, haben deren Begrenzungen sie dahin gebracht, nach einer spirituellen Praxis zu suchen. Für mich war es umgekehrt.
Währen dich außerordentlich profitiert habe von der Übungspraxis, wie sie in thailändischen und burmesischen Klöstern, in denen ich übte, angeboten wird, musste ich zwei beunruhigende Dinge feststellen.
Erstens, dass es Schwierigkeiten in wichtigen Bereichen meines Lebens gab, die selbst sehr tiefe Meditation nicht anrührte: Einsamkeit, intime Beziehungen, Beruf, Kindheitswunsch und Angstmuster.
Zweitens: unter den mehreren Dutzend westlichen Mönchen (und vielen asiatischen Meditierenden), die ich während meiner Zeit in Asien traf, war, mit einigen wenigen bemerkenswerten Ausnahmen, für die meisten die Meditation in wesentlichen Bereichen ihres Lebens keine Hilfe. Viele hatten tiefe innere Wunden, waren neurotisch, voller Ängste oder traurig, und sie gebrauchten die spirituelle Praxis häufig, um problematische Teile ihrer selbst vor sich zu verbergen oder ihnen auszuweichen.
Als ich in den Westen zurückkehrte, um klinische Psychologie zu studieren, und dann begann, Meditation zu lehren, bemerkte ich ein ähnliches Phänomen. Mindestens die Hälfte der Schüler, die zum Drei-Monate-Retreat kamen, konnten die einfachen Übungen der bloßen Aufmerksamkeit nicht machen, weil sie an einer großen Menge ungelöster Trauer, Angst, inneren Verwundungen und unerledigter Geschäfte aus der Vergangenheit festhielten. Ich hatte auch die Gelegenheit, weit fortgeschrittene Meditierende zu beobachten darunter erfahrene Zen-Übende und Übende des tibetischen Buddhismus die kraftvolle Samadhi sowie tiefe Einsicht in Nicht-Dauer und Selbstlosigkeit entwickelt hatten. Die meisten dieser Meditierenden hatten auch nach vielen intensiven Retreats immer noch große Schwierigkeiten, in wichtigen Bereichen ihres Lebens - etwa bezüglich Angst, Arbeitsproblemen, Beziehungswunden und Herzensverhärtungen - das Anhaften und die Unbewusstheit aufzulösen. Sie suchten aber weiter danach, wie man den Dharma leben könne, und kamen immer wieder zu Meditationsretreats, um nach Hilfe und Heilung zu suchen. Doch die Sitzpraxis selbst, mit ihrer Betonung auf Konzentration und Loslösung, lieferte oft nur den Weg, sich weiter zu verstecken und den Geist regelrecht von den schwierigen Bereichen des Herzens und Körpers abzutrennen.
Diese Probleme existieren für viele Meditationslehrer genauso. Viele von uns haben ein sehr unintegriertes Leben geführt, und nach tiefer Übung und anfänglicher Erläuchtungserfahrungen ließ unserer Sitzpraxis wichtige Bereiche unseres Sein unbewusst, angstbesetzt oder ausgegrenzt. [...]
Einige hilfreiche Schlussfolgerungen für unsere Praxis:
1. Für die meisten Menschen ist die Meditationspraxis nicht ausreichend. Im besten Fall ist sie ein wichtiger Teil des komplexen Weges der Öffnung und des Erwachens.
2. Die unterschiedlichen Teile unseres Geistes und unseres Körpers sind für Achtsamkeit lediglich teildurchlässig. Achtsamkeit ist nur dann wirksam, wenn wir gewillt sind, unsere Aufmerksamkeit auf jeden Bereich des Leidens in uns zu richten. Das heißt nicht, wie viele befürchteten, in unseren persönlichen Geschichten hängen bleiben. Vielmehr geht es darum, sich ihnen zuzuwenden, damit wir uns von den großen und schmerzvollen Blockaden unserer Vergangenheit tatsächlich befreien. Solch eine Heilarbeit lässt sich oft am besten in einer therapeutischen Beziehung mit einem anderen Menschen erreichen.
3. Im großen und ganzen sind westliche Therapien in vielen Bereichen des Wachstums (alte Trauer, Kommunikation und Beziehungsfähigkeit, Sexualität und Intimität, Karriere und Beruf, Ängste, frühe Wunden) viel rascher und erfolgreicher als Meditation.
4. Heißt das nun, wir sollten Meditation gegen Psychotherapie eintauschen? Ganz und gar nicht. Auch Therapie ist nicht die Lösung. Bewusstheit ist es! Und Bewusstsein wächst spiralenartig. Wenn Du Freiheit suchst, dann ist das Wichtigste, was ich dir sagen kann, dies, dass spirituelle Praxis immer in Spiralen entwickelt. Es gibt dabei innere Zeiten, in denen Stille nötig ist. Auf dies folgen äußere Zeiten, in denen die Erkenntnisse der Stille ins Leben umgesetzt und integriert werden müssen. Dann gibt es auch Zeiten, wo man Hilfe erfährt durch eine tiefe therapeutische Beziehung mit einem anderen Menschen. Die alles sind gleich wichtige Phasen der Praxis.
Jack Kornfield (geb. 1945) Dr. phil. Psychologe und Psychotherapeut, Meditationslehrer