Das Buch von the_pilgrim

Hivvy, die Elementepfütze


Über einem kleinen Loch im Boden der Wildsau fing die Luft unmerklich an zu flimmern. Das fast unsichtbare Flimmern breitete sich aus, bis es etwa zwei Meter Durchmesser hatte, dann zog es in der Form eines Schwarms winziger, fliegender Ameisen los, um die Aufgaben zu erledigen, für die es angefordert worden war.

Das war Hivvy – und Hivvy war eine Elementepfütze. Ihre Komponenten zerlegten sich nach getaner Arbeit zu einer silbrig glänzenden, zähflüssigen Masse, die für das normale Auge nicht sichtbar war. Ihr Bewusstsein, wenn man es so nennen wollte, war dann auf standby. Hivvy war das, was die scheinbaren Wunder der Wildsau bewirkte. Sie war instant–Materie, die sich – für alle anderen – mit der Geschwindigkeit eines Gedankens zu dem materialisierte, was gerade gewünscht wurde. Was manche mit Begriffen wie „Wunder”, „Magie” oder „Dimensionsloch” erklärten, war also nur eine ganz profane, semi–bewusste Masse aus Atomen, die spontan die gewünschte Realität formten.

In der Wildsau war Hivvy die Pfütze für alles. Dreck, Müll, überflüssig oder unbrauchbar gewordene Dinge, kurz alles, woran niemand mehr einen Gedanken verschwendete, sammelte Hivvy ein und assimilierte es, indem sie alles in die jeweiligen Atome zerlegte und sich einverleibte. Die so gesammelten Atome bildeten Hivvy, und somit die Basis für das, was bei Bedarf erschaffen wurde.

Wesen wie Menschen, Dschinn oder Dämonen konnten Hivvy nicht wahrnehmen, daher sah es für sie so aus, als würden sich Dinge auf ein Fingerschnippsen hin materialisieren. Zeit ist relativ und wird von verschiedenen Spezies ganz unterschiedlich wahrgenommen. Hivvy konnte Zeit endlos dehnen und in dieser gedehnten Zeit verwandelte sie sich, flog los, erledigte den Job, flog zurück, verwandelte sich wieder in eine Pfütze, und erst dann floss die Zeit im üblichen Tempo weiter. Die Wildsau war sich bewusst, dass Hivvy existierte, und wusste auch, was Hivvy tat, aber auch sie konnte die Elementepfütze nicht sehen. Sie konnte zwar durch die Zeit reisen, ja, aber Zeit manipulieren – so wie Hivvy – konnte sie nicht.

Wenn es in der Wildsau nichts zu tun gab, wenn alles sauber und aufgeräumt war und niemand etwas haben wollte, nutzte Hivvy manchmal die Gelegenheit um zu wachsen. Sie dehnte dann wie gewohnt die Zeit und bewegte sich nach draußen. 'Draußen' war in der Wildsau relativ, aber für Hivvy spielte der Ort keine Rolle.

Der Zufall wollte es, dass sie auf der Erde landete, zur Regenzeit irgendwo in einem Dschungel. Am Himmel braute sich ein Gewitter zusammen. Ein starker Wind wirbelte Hivvy durcheinander, aber nur ein bisschen und nur, weil sie gerade ihre Lieblingsform angenommen hatte und – wie meistens – als geflügelter Ameisenschwarm durch die Gegend flog. An einer passenden Stelle ließ sie sich in ihre Atome zerfallen und sammelte sich als Pfütze in einem und um einen kleinen Müllberg herum. Hivvy dehnte die Zeit, zerlegte den Müll und wuchs vor sich hin, als das Gewitter im Zeitlupentempo über sie hinweg donnerte. Ein gewaltiger Blitz zuckte aus den schwarzen Wolken durch die dicken Regentropfen direkt auf Hivvy zu, die dieser Tatsache keine Beachtung schenkte, und so konnte der Blitz ungehindert ausgerechnet mitten in die anderweitig beschäftigte Elementepfütze fahren.

Hivvy blinzelte. Nein, eigentlich nicht, denn Hivvy hatte gerade weder Augen noch überhaupt eine feste Form, aber sie fühlte eine Art Blinzeln in sich. Sie war verwirrt. Dann war sie verwirrt darüber, dass sie verwirrt war. Was war das? Was war passiert? Der Assimilierungsprozess stoppte. Ganz still lag die Pfütze da und rührte sich nicht. Zeit verging für sie plötzlich im normalen Tempo und Hivvy konnte nichts dagegen tun! Völlig verschreckt (verschreckt?!) wurde sie wieder zu einem Ameisenschwarm, zerstob in alle Richtungen, zog sich wieder zusammen, platschte hysterisch (hysterisch?!) zurück in die Pfützenform und nahm dann in rasendem Tempo nacheinander alle möglichen Formen an, die sie jemals gehabt hatte. Das waren viele.

Nach und nach wurde das Formflackern langsamer, bis Hivvy schließlich wieder als Pfütze in dem und um den halb zerfallenen Müllberg herum zur Ruhe kam. Auch Ruhe ist relativ. Hivvy war emotional –emotional?!– außer sich, aber gleichzeitig wie erstarrt, sie konnte sich nicht mehr bewegen, sie konnte nur noch eine Pfütze sein, mehr ging nicht. Mit der aktuellen Situation völlig überfordert, war Hivvy in eine katatonische Starre gefallen. Regen fiel in dicken Tropfen prasselnd in die schockierte Elementepfütze.


Amanda, Nesodora und Gandrocks


Josh drehte sich sorgenvoll zu Renko um, der seufzend ins Leere starrte und nach wie vor ganz und gar in seiner eigenen Welt versunken war. Es war immer noch gruselig, auch wenn Renko inzwischen wenigstens seufzte. Was ging bloß in seinem Kopf vor? Oder nein, Josh wollte es lieber doch nicht wissen. Es sah ungesund aus, dieses blicklose Gestarre und das Seufzen. Gruselig. Einfach nur gruselig.

Josh sah wieder nach vorne und ergab sich dem Schaukeln des Gandrocks, auf dem er saß. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig. Er war dem Vorschlag der Wildsau–KI gefolgt und nun befand er sich zusammen mit Renko auf dem langen, langen Weg zu einer Oase auf dem Planeten Nesodora. Wie viele Tage waren sie jetzt schon unterwegs? Er wusste es nicht, hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren. Schritt für Schritt schaukelten sie auf ihren Kamel–artigen, mechatronischen Gandrocks ihrem Ziel entgegen durch endlose Wüste. Abends wurde es dunkel, morgens wieder hell. Mehr passierte nicht. Fast beneidete Josh Renko um seinen Zustand.
 
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Tja. Was ging denn nun in Renkos Kopf vor? Schwer zu sagen. Es war wohl Liebe. Nein, nicht wirklich. Oder vielleicht doch? Was ist Liebe? Es kommt vermutlich auf die Definition an.

Oh, Amanda. Wunderschöne, bezaubernde Amanda. Wie Renko es liebte, wenn sie ...

„Lass mich in Ruhe!”, brüllte Amanda Renko an. Er legte den Kopf schief und antwortete nach einer Weile: „Nö.”

„Hau ab! Hau – verdammt nochmal – ab! Ich hasse dich!”, brüllte sie.

„Du bist hässlich”, konterte Renko trocken.

Amanda lachte hysterisch. Dann schrie sie, so laut sie konnte. Und dann lachte sie wieder.

„Was is eigentlich los?”, fragte er.

„Ich ... Weiß ... Es ... Nicht!” Mühsam beherrscht tigerte Amanda im Kreis. Seine Amanda. Wie niedlich sie war, wenn sie sich so aufre …

„Verzieh dich endlich. Ich könnte wen umbringen, und du machst dich gerade zum passenden Kandidaten!”, brüllte sie ihn an.

„Ah. Das.”

„Was 'das'?” Irritiert sah Amanda Renko an. Sie sah aus, als würde sie ihm gleich an die Gurgel springen. Hach, wie süß!

„Na, allgemeine Scheißdraufigkeit. Kenn' ich”, antwortete er.

„Ich bin nicht scheiße drauf!”, schrie sie ihn an. „Ich PLATZE gleich!”

„Ja, sag ich doch, kenne ich.”

„Du? DU?! Erzähl doch keinen Mist, du bist immer die verdammte scheiß Ruhe selbst. IMMER!”

„Doch. Kenne ich.” Erwiderte Renko gelassen. Ihm war bewusst, dass er Öl aufs Feuer goss, aber er konnte nicht anders. Er zuckte mit den Schultern. „Ich zeige es nur nicht.”

Da sprang Amanda ihn an, und bevor er wusste, wie ihm geschah, lag Renko auch schon bäuchlings am Boden. Amanda kniete auf ihm und hatte ihm schmerzhaft den Arm auf den Rücken gedreht. Dieses elektrisierende Bündel geballter Energie raubte ihm den Atem, so verzückt war er von ihr. Na gut, dass ihr Gewicht seinen Brustkorb eindrückte, war vielleicht auch ein Faktor.

„Schatz, du bist wirklich ein itzelchen unentspannt heute.”

Seufzend ließ sie ihn los, rutschte von ihm herunter, ließ sich neben ihm auf den Rücken rollen und starrte an die Decke.

„So schlimm?”, fragte er, als sie nichts sagte.

„Schlimmer.”

„Das Leben ist ein Arschloch?”

„Die Untertreibung des Jahrtausends”, sie seufzte.

„Du … ”

„Ja?”

„Ach, nix.”

„Raus damit, sonst falle ich dich gleich wieder an.”

„Au ja”, grinste Renko. Amanda boxte ihn schmerzhaft. „Aua!”

„Selbst schuld. Raus damit!”

„Ich habe nur idiotischerweise fragen wollen, ob du vielleicht, naja, ob du deine Tage kriegst, aber mir ist klar, dass das einem Selbstmord gleich käme, also vergiss es.”

Amanda sah ihn mit großen Kuhaugen an.

„Amanda?”

„Ich, äääh … ” Sie hustete.

„Nein!”

„Doch.”

„Du bist schwanger?!”

„Was? Nein! Um Himmels Willen, nein. Oh Gott. Nee.”

Renko grinste breit.

Sie seufzte und drehte den Kopf weg.

„Es ist echt peinlich, aber ich glaube, ich kriege wirklich meine Tage.”

Nach einer Weile fing Renko an zu glucksen. Er versuchte angestrengt, es sich zu verkneifen, aber es ging nicht. Amanda sah ihn zuerst stirnrunzelnd an, dann fing auch sie endlich an zu grinsen.

„Du Arsch”, sagte sie schließlich. „Du Vollarsch!”

Renko lachte. „Du brüllst hier rum und fällst mich an wie ein Tiger auf Adrenalin und ICH bin ein Arsch?!”

„Ja. Klar. Du bist der Mann. Männer sind schuld. Immer. Egal, worum es geht.”

Renko nickte. „Leuchtet ein.”

„Siehste.”

„Und Frauen haben immer recht.”

„Du bist ein schlaues Kerlchen, doch. Ich bereue manchmal gar nicht, dass ich dich geheiratet habe. Ehrlich.”

„Das macht mich zum glücklichsten Mann der Welt.”

„Du bist ein Dämon.”

„Auch Dämonen sind nur Männer.”

„Darf ich dich bei passender Gelegenheit zitieren?”

„Nö.”

„Dir is klar, dass ich das trotzdem tun werde, oder?”

„Natürlich.”

„Gut.”

„Gut.”

Schweigen.

„Geht's jetzt wieder?”, fragte er sie.

„Ja. Alles super.”

„Echt?”

„Ja. Ich bin geplatzt, das war's. Alles tutti.”

„Weiber.” Renko rollte mit den Augen.

„Das kannste laut sagen.”

Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Ein langes, einträchtiges Schweigen machte sich breit. Dann drehte sich Amanda zu Renko und sah ihn nachdenklich an.

„Warum sprichst du eigentlich mit mir und sonst mit niemandem?”

„Weil ich nicht will.”

„Schon klar, Euer Mysteriosität, warum willste nich?”

„Meine Mutter hat immer gesagt, ich soll nicht mit Fremden reden.”

„Du bist eine Ausgeburt der Hölle, du hast keine Mutter.”

„Aber ich hätte eine haben können.”

„Nö.”

„Dann habe ich eben eine imaginäre Mutter, und die hat gesagt, dass ich nicht mit Fremden reden soll.”

„Und du tust immer brav, was deine imaginäre Mutter dir sagt?”

„Na sicher, ich bin ein guter Sohn. Brav, anständig. Das volle Programm.”

Amanda lachte.

„Was?! Das bin ich. Mit Leib und Seele.”

„Du hast keine Seele.”

„Aber einen Leib und ich könnte eine Seele haben. Das kann mir keiner verbieten.”

„Eine imaginäre, nehme ich an?”

„Genau. Die imaginären sind sowieso die besten, die kann man ignorieren, wenn es einem in den Kram passt.”

„Und warum sprichst du nun tatsächlich nur mit mir?”

„Weil ich nur mit dir sprechen will.”

„Du wiederholst dich.”

„Du dich doch auch.”

„Witzbold. Du hast ja auch meine Frage nicht beantwortet.”

„Doch.”

„Aber nicht zufriedenstellend.”

„Tut mir Leid, wenn meine Antwort dich nicht befriedigt hat.”

Amanda sah Renko belustigt an. „Tut es nicht.”

„Stimmt.”

„Und, kriege ich noch eine Antwort, die ich gut finde?”

„Eher unwahrscheinlich.”

„Das habe ich befürchtet.”

„Warum fragst du dann überhaupt?”, fragte Renko, ehrlich neugierig.

„Die Hoffnung stirbt zuletzt?”

„Trag' sie zu Grabe, die überflüssige Hoffnung. Unnötiger Ballast.”

„Nö. Ich mag meine Hoffnung, sie ist lustig.”

„Findste? Ich finde sie nutzlos und nervig.”

„Das ist ja gerade das, was sie so lustig macht.”

„Ach so. Echt? Na dann … ”

Schweigen.

Renko räusperte sich. „Was gibt's heute zu Mittag?”

Amanda sah ihn stirnrunzelnd an. „Von allen Themenwechseln, die dir in diesem Universum zur Verfügung stehen, fragst du ausgerechnet mich nach Essen? Du musst wirklich verzweifelt sein.”

„Ja, verzweifelt hungrig. Mein Magen knurrt.”

„Das ist nicht dein Magen, das ist deine imaginäre Seele, die bockig vor sich hin grummelt, weil du dich weigerst mir ehrlich zu antworten.”

„Mit Essen kann ich sie besänftigen.”

„Ehrlich? Wie praktisch.”

„Finde ich auch.”

„Das war ironisch gemeint.”

„Ich weiß, aber ich finde es wirklich praktisch.”

„Von Selbstreflektion hältst du wohl nicht viel, was?”

Renko verdrehte die Augen und seufzte. Dieser Satz kam von der Frau, die ihn gerade angeschrien und angefallen hatte, weil sie nicht mitgekriegt hatte, dass sie ihre Tage bekam. Kein Kommentar.
 
Josh drehte sich wieder zu ihm um. „Renko, halte durch, es ist nicht mehr weit.” Das hoffte Josh jedenfalls.

Renko zuckte nicht einmal wie üblich die Schultern. Es war Josh unmöglich, sich daran zu gewöhnen, es zerrte an seinen Nerven. Auch, dass sie gezwungen waren, durch diese Wüste zu reiten, zerrte an seinen Nerven, aber es war nun einmal das einzige, was er überhaupt tun konnte. Also ertrug er die öde Landschaft eines insgesamt total öden Planeten in einem noch öderen Sonnensystem. Borowski hatten sie in der Wildsau bei Adasger gelassen, was eine sehr unschöne Notlösung war, aber Josh hatte nicht den Kopf, sich um beide zu kümmern. Renko bemuttern zu müssen war nervenaufreibend genug, ein winselnder kleiner Hund war zu viel für ihn. Renko seufzte schon wieder und Josh verdrehte die Augen.

Renko hatte den Faden verloren. Er befand sich in dem dicken, wabernden Nebel zwischen den Realitäten, aber das wusste er nicht. Er fand es nur unerträglich. Er wollte zurück zu Amanda, wo steckte sie plötzlich? Und wo kam überhaupt dieser seltsame Nebel her? Undeutlich dachte etwas ganz hinten in seinem Kopf: Josh, dieser Idiot, hätte er nicht einfach die Klappe halten können? Aber Renko registrierte diesen Gedanken genauso wenig wie seine Umgebung. Er starrte auf Joshs Rücken ohne ihn zu sehen, und er nahm auch die Landschaft um sie herum nicht wahr, bemerkte nicht, dass der Gandrock, auf dem er saß, eine absolut ungemütliche und idiotische Reitmaschine war. Hässlich obendrein. Er merkte erst recht nicht, dass das linke hintere Kniegelenk seines Gandrocks bei jedem Schritt quietschte, obwohl sich diese Maschinen selbstständig warten konnten und davon auszugehen war, dass das Quietschen Absicht war. Sein Gandrock war eine Nervensäge, aber diese Tatsache glitt an Renko genauso ab wie alles andere.

Die hiesige Sonne brannte vom Himmel und kam dem ewigen Höllenfeuer recht nahe. Die Flammen fehlten, aber die Hitze war ähnlich stark. Vage und nur im hintersten Winkel seines Kopfes merkte Renko wenigstens das. Er schloss die Augen und im tiefsten Inneren seines Wesens genoss er die glühenden Strahlen auf seiner Haut. Gerade, als er wieder auf bestem Wege zurück ins Amandaland war, fing Josh an zu singen – seine persönliche Notwehr gegen das Kniegequietsche und die Langeweile. Renkos Nebel verdichtete sich wieder und seine fast schon greifbare Amanda entglitt ihm. Renko seufzte und kämpfte sich weiter durch den Nebel so gut er konnte.


Die Dolbs


Aus einer alten Schatzkiste im Riff schwamm eine quietschrote, etwa 10 cm große, ziemlich runde Buddhagestalt mit kurzen Ärmchen und Beinchen und ganz winzigen Händchen und Füßchen. Es war ein Dolb, wie ihn die Nesodoraner nannten. Ihm folgte ein ganzer Schwarm völlig identisch aussehender Winzlinge. Als sie an die Wasseroberfläche kamen, erhoben sie sich aus dem Wasser und schwebten mühelos Richtung Strand. So, wie andere Wesen Gerüche verströmen, verströmten Dolbs in der Luft hauchzarte Klänge. Die harmonischen Töne, die von ihnen ausgingen, erinnerten ein wenig an Glöckchen. Der Dolbschwarm klingelte und bimmelte melodisch und dezent vor sich hin und es hörte sich ganz zauberhaft an, wie ein akustisches Glitzern.

Auf einer von Dschungel umgebenen Grasfläche jenseits des Strandes graste ein Pferd. Es hob den Kopf und lauschte. Dann graste es weiter. Bunte Vögel zwitscherten in den großen, alten Bäumen, in den Lianen und überhaupt in allerlei dschungligen Gewächsen. Ein schmaler Wasserfall plätscherte in eine Lagune, in der sich lachend ein paar halb durchsichtige, türkisblaue Wassernymphen vergnügten. Ein leichter Wind strich über das Land, über das Meer, über die Lagune und über das vielfältige Grün hinter der Lagune. Die Sonne glitzerte auf den sich brechenden Wellen des Meeres.

Nachdem Josh und Renko geschlagene vierzehn Tage lang durch monotone Einöde geritten waren, wirkte diese üppig bunte Idylle auf Josh wie ein Schock. Alles war schon fast grotesk perfekt, auf eine skurrile Art absurd in seiner Schönheit.

Renko bekam nichts davon mit, aber überraschenderweise reagierte er darauf, dass sie angehalten hatten: er ließ sich einfach von seinem Gandrock fallen und blieb im Gras liegen, nachdem er sich auf den Rücken gerollt und die Augen geschlossen hatte. Josh betrachtete seinen Freund halb genervt, halb sorgenvoll, stieg dann ebenfalls ab und bezahlte die beiden Gandrocks. Dazu musste er seinen Daumen jeweils unter der Anzeige des Preises, der auf dem Rumpf der Maschine angezeigt wurde, auf den dazugehörigen Abdruckscanner drücken. Die Beträge wurden von seinem Konto abgebucht, und die Gandrocks trotteten von dannen. Nach dem langen Ritt fühlte es sich seltsam an, wieder auf festem Boden zu stehen. Als würde etwas mit dem Boden nicht stimmen, weil er nicht schwankte.

Josh sah sich um, denn er hörte den Schwarm Dolbs auf sich zu bimmeln. Er winkte ihnen zu und freute sich. Dass ein Treffen so schnell und reibungslos klappen würde, hatte er nicht erwartet. Ihm war nicht einmal klar gewesen, dass sie von seinem und Renkos Kommen offenbar gewusst hatten. Wunderbare Erleichterung durchströmte ihn.

Die Dolbs verteilten sich schwebend um Josh und begrüßten ihn mit Worte formenden Bimmellauten. Als Dschinn war es für Josh selbstverständlich, automatisch alle Sprachen verstehen und sprechen zu können. Er imitierte die klingelnden Laute und unterhielt sich mit dem Schwarm. Nachdem das gegenseitige Begrüßungsgeklingel abgeebbt war, fragte der Dolbschwarm, wie sie ihm helfen konnten. Josh zeigte auf Renko, beschrieb in kurzen Worten was passiert war und fragte, ob sie herausfinden könnten, was diesen Zustand hervorgerufen hatte, was es damit auf sich hatte und ob sie vielleicht sogar eine Lösung für das Problem wüssten.

Der Schwarm bimmelte Hilfsbereitschaft, konnte aber nichts versprechen. Sie würden es versuchen, und allein das war schon ein großer Trost für Josh. Gemeinsam gingen bzw. schwebten sie zu Renko hinüber.
 
„Renko, die Dolbs hier wollen versuchen herauszufinden, was mit dir nicht stimmt. Darf ich sie auf dich loslassen?”

Wie zu erwarten gewesen war, reagierte Renko nicht. Nun, Josh hatte es versucht. Er gab den Dolbs das Zeichen, dass es losgehen konnte. Bimmelnd verteilten sie sich über Renkos Körper und ließen sich auf ihm nieder. Die kleinen roten Buddhas sahen auf Renkos ebenfalls roter Haut aus wie dicke Beulen. Josh sah ihnen zu und wartete, aber mehr passierte nicht. Also schlenderte er an den Strand und setzte sich in den Sand. Er starrte auf die glitzernden Wellen.

Nesodora war ein wirklich seltsamer Planet. Bis auf einen einzigen Kontinent gab es hier nur Meer. Er war fast vollständig von einem undurchdringlichen Anti–Teleportations–Schutzschild umgeben. Niemand kam auf diese Weise hinein oder hinaus, und auch innerhalb des Schilds war Teleportation unmöglich. Es gab nur eine trichterförmige Landezone, in der sich eine kleine, unbedeutende Stadt namens Dasogra befand. Dasogra lag am einen Ende des Kontinents, die mehrere tausend Hektar große Oase genau am anderen. Der Rest war jene platte, öde, unvorstellbar heiße Wüste, durch die sie geritten waren. Nur sehr wenige Fluggeräte landeten in Dasogras Raumhafen, denn kaum jemand im gesamten Universum machte sich die Mühe – aus gutem Grund.

Intergalaktischen Handel und Touristen gab es auf dem sehr abgelegenen Planeten Nesodora kaum, denn Dasogra war klein und ausgesprochen langweilig, die entsetzliche Wüste konnten nur wenige Wesen lebend durchqueren, und wer zur Oase wollte, musste einen Gandrock mieten. Um aber überhaupt einen Gandrock mieten zu können, musste man seine Reisewünsche persönlich vor Ort anmelden. Wenn die zuständige Verwaltung der Reise aus unerfindlichen Gründen nicht zustimmte, hatte man Pech und konnte entweder abreisen oder warten, aber der nächste Antrag durfte erst nach Ablauf von drei Monaten wieder gestellt werden. Es war reine Willkür, Regeln gab es nicht, Bestechung funktionierte nicht und Dringlichkeit war kein überzeugendes Argument. Kein Wunder also, dass sich niemand für Nesodora interessierte.

Wer es geschafft hatte die Erlaubnis zu bekommen, dem standen etwa drei Wochen schaukelnde Reiterei bevor, es gab keine andere Möglichkeit. Die Wüste wehrte sich angeblich auf nicht näher erklärte Weise gegen jeden Eindringling, der es ohne Gandrock versuchte. Josh hatte wegen der Umstände keine Lust gehabt, diese Behauptung zu überprüfen. Wenn es so war, dann war es eben so. Er war froh gewesen, überhaupt auf dem Gandrock zu sitzen zu können, also ertrug er einfach das Geschaukel und gut. Er hatte verdammtes Glück gehabt, alles andere war nicht wichtig. Da fielen ihm Borowski und Adasger wieder ein. Er konnte nur hoffen, dass mit ihnen alles ok war.

Nachdem Josh und Adasger beschlossen hatten, dass Josh versuchen sollte, die Dolbs zu finden, hatte sich die Wildsau in Dasogras Raumhafen materialisiert, obwohl ihre Hilfe nicht nötig gewesen wäre. Es war eine tröstliche Geste gewesen und Josh war dankbar dafür. Er hatte die Reise beantragt und tatsächlich ohne Probleme die Erlaubnis bekommen. Auch dafür, dass das einfach so geklappt hatte, war er dankbar. Adasger und die Wildsau würden auf die beiden warten, und so hatte sich Josh mit Renko im Schlepptau schließlich auf den Weg gemacht. Da weder Josh noch Renko Pausen brauchten und auch nicht unbedingt schlafen mussten – Renko als Dämon schon gar nicht – hatten sie die üblichen drei Wochen auf vierzehn Tage verkürzen können. Immerhin, aber es war trotzdem eine Tortur gewesen.

Mit diesen Erinnerungen im Kopf legte Josh sich in den Sand, und noch bevor sein Kopf ganz den Boden berührte, war er auch schon eingeschlafen. Manchmal war Schlaf etwas Großartiges. Eigentlich überflüssig, aber ein wunderbarer Luxus.
 
Die Wildsau–KI


Borowski von Renko zu trennen, war für den Hund nicht gut gewesen. Er fraß kaum und war ein einziges Häuflein Elend. Das arme Tier. Andererseits wäre Renkos Teilnahmslosigkeit für ihn auch nicht viel besser gewesen, in Kombination mit Joshs Sorge vermutlich eher schlimmer. Adasger trug den kleinen Hund fast die ganze Zeit auf dem Arm, kraulte ihn, redete mit ihm und reagierte auf jede seiner Regungen, auch wenn das alles insgesamt nur wenig zu helfen schien. Er konnte Renko nicht ersetzen, das war klar. Immerhin brachte Adasger Borowski mit viel Geduld dazu, ab und zu ein paar Happen zu fressen.

Die Wildsau–KI hatte noch nicht angefangen, von sich aus zu sprechen. Sie antwortete nur auf Anfragen, und somit war Adasger auf sich allein gestellt. Er nutzte die Zeit um sich zu überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten. Die Software der KI bestand im Prinzip aus Datenstrukturen und komplex ineinander greifenden Funktionen. Sie hatte außerdem Zugang zu aktuellen Informationen in ihrer Reichweite und war mit anderen KIs vernetzt, wodurch sie auch Informationen erhalten konnte, die ihr nicht direkt zur Verfügung standen. Soweit so gut.

Wissen ist nicht das, was Intelligenz ausmacht. Wissensverarbeitung und vor allem die Fähigkeit abstrahieren und Schlussfolgerungen ziehen zu können, sind ein wesentlicher Faktor, genauso wie Kreativität, Eigeninitiative und Neugier. Man musste das Wissen hinterfragen, interpretieren und eine eigene Meinung entwickeln können, sonst war es reine Nachplapperei. Die KI hatte die Voraussetzungen dafür, optische und akustische Reize zu verarbeiten, sie konnte also sehen, hören und sprechen. Sie war diesen Reizen genauso ausgesetzt wie andere Wesen auch und speicherte diese als Erinnerungen in Relation zu ihrer Wissensdatenbank passend ab. Vielleicht war es sinnvoll, sie einfach beobachten, zuhören und sortieren zu lassen? Kinder kamen irgendwann in das Alter, in dem sie anfingen Fragen zu stellen. Gut möglich, dass sich auch die KI so entwickelte.

Bis dahin konnte Adasger der KI Fragen stellen, auf die sie alleine noch nicht kam. Ja, das wäre vielleicht ein guter Anfang. Aber welche Art von Fragen stellte man einer KI, die zwar alles wusste, in gewisser Weise aber dumm war? Was würde sie dazu bringen, eigene Fragen zu stellen? Er hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht. Was fehlte, um mit all diesem Wissen etwas anzufangen, war die Motivation dazu, ein Antrieb, ein Grund. Vorlieben, Abneigungen und Humor – brauchte eine KI so etwas? Entwickelte sich das von alleine?

Adasger wusste es nicht und plauderte mit der KI wie mit Borowski. Er redete einfach vor sich hin, kommentierte Dinge, die er gerade tat, erklärte, warum er sie tat und wie er sich dabei fühlte. Wenn ihm eine Frage einfiel, dann stellte er sie. Meistens ging es aber nur um triviale Dinge, die die Wildsau–KI leicht abrufen und wortgetreu wiedergeben konnte. Eigene Formulierungen, das Hinterfragen von Zusammenhängen oder Interpretationen waren nicht erkennbar. Sobald Adasger eine warum–Frage stellte, bekam er eine sachliche Auflistung möglicher Antworten. Fragte er danach, ob der KI etwas gefiel, sagte sie ja. Fragte er, ob ihr etwas besser oder schlechter gefiel als etwas anderes, sagte sie nein. Er konnte nicht den leisesten Fortschritt erkennen, aber da er das gelassen hinnehmen konnte, war es für ihn nur eine Beobachtung, mehr nicht. Es war ihm bewusst, dass er selbst auch keine Fortschritte gemacht hatte: er wusste immer noch nicht, durch welche Art von Fragen er die KI motivieren konnte, selbstständig zu denken. Er würde weiter herumprobieren müssen.

In all der Zeit, die verging, war ihm nicht aufgefallen, dass Hivvy verschwunden war. Adasger konnte – wie Josh und Renko – selbst Dinge materialisieren und kam nicht auf die Idee, die KI direkt um etwas zu bitten. Darum lag Hivvy nach wie vor unbeachtet in ihrer katatonischen Starre mitten im Dschungel, aber eines Morgens, als Adasger Borowski füttern und sich selbst Frühstück machen wollte, statt es wie sonst einfach herbeizuschnippsen, fiel ihm endlich auf, wie dreckig es auf und hinter der Theke war. Er sah sich im Raum um und fragte sich, wie es ihm gelungen war, den Dreck und die Unordnung so lange zu übersehen.

„KI, wo ist Hivvy?”

„Die Elementepfütze befindet sich auf dem Planeten Erde”. Es folgte ein Kauderwelsch, das Adasger nicht verstand, präzise Positionsangaben in Relation zu was auch immer, intergalaktischer Standard, kurz: die Wildsau–KI wusste, wo Hivvy war, das war gut.

„Warum ist sie nicht hier?”

„Diese Information steht mir nicht zur Verfügung.”

„Kannst du sie bitte kontaktieren und fragen?”

Nachdem er etwa zehn Minuten vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, fragte Adasger nach. Er bekam die Antwort, dass die Elementepfütze kontaktiert worden sei, auf die Frage aber nicht reagiert habe.

„Warum hast du mir das nicht eher gesagt?”

„Weil du nicht um diese Information gebeten hast.”
 
„Ach so. Gut. KI, wenn ich dich um etwas bitte, möchte ich immer eine Rückmeldung über das Ergebnis haben ohne noch einmal nachfragen zu müssen.” Diese Aussage sollte sich im Laufe der Zeit noch als unpräzise herausstellen, aber vorläufig war sie passend genug. Adasger überlegte. Die Wildsau musste in Dasogra bleiben, denn er wollte, dass Josh nicht alleine war, wenn er von der Oase zurück kehrte, egal was dabei herauskam. Deswegen wollte er die Wildsau nicht verlassen, aber wenn etwas mit Hivvy nicht in Ordnung war, konnte er das nicht einfach ignorieren. Er rechnete nach. Josh und Renko waren jetzt gut zwei Wochen weg, es würde also noch dauern, bis sie wieder da waren. Somit konnte er die Wildsau problemlos kurz verlassen. Im unwahrscheinlichen Fall, dass Josh und Renko eher zurück kamen als erwartet, wäre er im Handumdrehen wieder da. Mit einem Portal müsste das gehen.

„KI, öffne mir bitte ein Portal zu Hivvy und halte es offen, bis ich wieder da bin. Wenn Josh und Renko wieder auftauchen, lass es mich bitte sofort wissen.”

Ein Torbogen erschien in der Wand der Wildsau. Adasger trat in den Dschungel und sah Hivvy sofort. Überflüssigerweise sagte die KI: „Ich habe ein Portal geöffnet. Hivvy befindet sich in fünf Metern Entfernung in nordöstlicher Richtung.” Adasger hörte gar nicht zu, er war mit seinen Gedanken längst bei der Elementepfütze. Er stand – mit Borowski auf dem Arm – vor einem halb zerfallenen Müllberg, der aus einer silbrig glänzenden Flüssigkeit ragte.

„Hivvy?”

Keine Reaktion, wie die KI gesagt hatte. Seltsam. Es regnete, und dicke Tropfen fielen in die Pfütze. Adasger kniete sich nieder und wollte sie berühren, da fing Borowski an zu zappeln. Er winselte und versuchte zu flüchten. Adasger sprach beruhigend auf den Hund ein und hielt ihn fest. Er streckte wieder den Arm aus und in dem Moment, in dem sein Finger die Pfütze berührte, zerstob sie in tausende winzige Dinger, die wild in der Luft herumwirbelten. Adasger erschrak und zuckte zurück. Dann fing Hivvy das Formflackern wieder an. Erstaunt sah Adasger dem chaotischen Wechsel zu, bis es langsamer wurde und Hivvy schließlich wieder zu einer Pfütze wurde. Ihm dämmerte, was passiert sein musste.

„Hivvy, du wurdest von einem Blitz getroffen. Das ist zwar selten, aber es kommt vor und ist ganz wunderbar, auch wenn es sich für dich gerade nicht so anfühlt.”

Die Pfütze reagierte nicht.

„Es bedeutet, dass du sozusagen Mutter werden kannst, wenn du willst”, fuhr Adasger fort. „Durch den Blitz ist eine Seele in dich gefahren. Die Seele, in Kombination mit deinen Fähigkeiten, kann einen Dschinn erzeugen, wenn du das möchtest.”

Die Pfütze reagierte auch darauf nicht.

„Die Gefühle in dir sind noch nicht deine, können es aber werden. Sie gehören zu der Seele, die im Moment ein Teil von Dir ist. Du hast die Wahl: wenn du zulässt, dass sich ein Dschinn formt, kann sich dieser Teil zusammen mit der Seele von dir abspalten. Sobald du ihn loslässt, wird er ein eigenständiges Leben führen und du bist wieder ganz du selbst, so wie vorher. Du kannst dich aber auch komplett in einen Dschinn verwandeln ohne etwas von dir zurück zu lassen. In dem Fall wirst du als Dschinn weiterleben. Das würde bedeuten, dass du deine Fähigkeiten behältst, außer der Zeitmanipulation. Zeit würde für dich – so wie jetzt – normal verlaufen. Dafür wirst du lernen können, wie man teleportiert. Du hättest außerdem eine festgelegte Form, bei der du nur noch die Größe und die Proportionen verändern kannst. Du hast die Wahl, ob du wieder eine Elementepfütze oder lieber ein Dschinn werden willst.”

Er überlegte.

„Oder du bleibst, wie du jetzt bist, ein Formwandler. So kannst du keine Gegenstände mehr erschaffen, aber du kannst zu jedem beliebigen Gegenstand oder Wesen werden. In jeder deiner Formen hättest du Gefühle und wärst dir deiner Existenz bewusst. Ich weiß nicht, ob das sinnvoll wäre und auch nicht, wie sich das für dich anfühlen würde. Leider kann ich dir bei der Entscheidung nicht helfen, denn ich selbst war nie in der Situation und kann es daher nicht nachvollziehen. Tut mir leid, dass du damit auf dich allein gestellt bist. Nun, falls das ein Trost ist: egal wie du dich entscheidest, du bist jederzeit in der Wildsau willkommen, wenn du zurückkommen möchtest.”

Die Pfütze reagierte noch immer nicht.

„Weißt du was? Ich gehe jetzt ein bisschen mit Borowski spazieren und komme irgendwann wieder. Lass dir Zeit, es ist eine große Entscheidung, die du da treffen musst. Es ist nicht eilig, ich komme wieder. Wenn du möchtest, suche ich eine Elementepfütze, die mit dieser Situation Erfahrung hat. Vielleicht könnte dir das weiterhelfen. Überleg' es dir in Ruhe, ich bin bald wieder da.”

Er setzte Borowski auf den Boden, der wie von der Tarantel gestochen losrannte. Adasger stand auf und ging dem Hund hinterher. Wenigstens rannte Borowski zur Abwechslung mal wieder, das würde ihm gut tun. Der Dschungel war recht undurchdringlich, also schuf Adasger eine unsichtbare Blase um sich herum, die dünne Zweige, Dornen und biegsames Gestrüpp von ihm fernhielt. So konnte er sich halbwegs ungehindert bewegen und brauchte sich keinen Weg freizukämpfen.

Während er langsam in die ungefähre Richtung ging, in die Borowski verschwunden war, hing er seinen Gedanken nach. Es war ein seltsamer Zufall, dass Hivvy ausgerechnet jetzt vom Blitz getroffen worden war. Manche würden das Schicksal nennen, aber gab es das? Er wusste es nicht und eigentlich war es nicht wichtig, es machte keinen Unterschied. Trotzdem, es war schon ein uriges Phänomen, wie Ereignisse manchmal ineinander griffen und sich gegenseitig beeinflussten.
 
Josh hatte sich um die Wildsau-KI kümmern wollen, Renko nicht, im Gegenteil. Renko hatte vermutlich nur Josh zuliebe zugestimmt. Jetzt war er ein wandelndes Gemüse und konnte sich nicht kümmern – wenn man wollte, konnte man da einen Zusammenhang hinein interpretieren. Ob Renko auch von einem Blitz getroffen worden war? Was geschah mit Dämonen, wenn ihnen so etwas passierte? Adasger hatte noch nie von einem solchen Fall gehört, aber möglich wäre es. Hmmm ...

Und was bedeutete es für die Wildsau-KI, dass Hivvy nicht mehr da war und Dinge erschuf? Das war zwar unpraktisch, aber vielleicht gar nicht schlecht. Nicht auszudenken, was sie hätte anrichten können, das hatten sie gar nicht bedacht – und nochmal Glück gehabt. Er würde das bei passender Gelegenheit mit den anderen besprechen. Erst einmal abwarten, was nun aus Hivvy werden würde. Gut möglich, dass bald alles wieder so war wie vorher. Da fiel ihm der Zustand der Wildsau wieder ein. Er würde aufräumen und putzen, wenn er wieder da war. Ja, er hatte richtig Lust dazu. Statt es sich sauber zu schnippsen, würde er das selbst erledigen. Himmel, aufräumen und putzen – das hatte er ja seit Jahrhunderten nicht mehr getan.


Amanda


Der Auftrag, den Amanda erhalten hatte, war bescheuert. Total dämlich und völlig idiotisch. Sie arbeitete für eine Security–Firma, sie war Leibwächterin, um Himmels Willen, und nun sollte sie Dolbs entführen? Das war nicht nur illegal, das war bescheuert und lästig und kompliziert und von vorne bis hinten falsch. Falsch, falsch, fucking falsch! Sie würde sich weigern. Sie würde kündigen. Sie würde das schlicht und ergreifend einfach nicht tun. Punkt.

Blöderweise konnte sie weder kündigen noch sich weigern. Sie hatte keine Wahl. Sie hatte doch eine Wahl. Nein, sie hatte keine Wahl. Ach verdammt!

Amanda war ein Cyborg. Ein Teil von ihr war noch humanoid–android mit ungewissem Ursprung – zumindest konnte sie sich an ihr Leben vor dem 'Unfall' nicht erinnern – aber der Großteil ihres Körpers war Robotertechnik vom Feinsten. Die linke hintere Hälfte ihres Körpers war fast vollständig zerstört gewesen und durch eine Art Rüstung aus einer Titanlegierung ersetzt worden. Da sie außerdem viele komplizierte Knochenbrüche gehabt hatte, waren fast alle ihre Knochen nun ebenfalls aus diesem Material plus passender Gelenke. Manche wegen der Brüche, andere wegen der ausgleichenden Symmetrie, damit sie die neue Technik ideal ausnutzen konnte. Einige Organe waren durch synthetische ersetzt worden, die besser funktionierten und robuster waren als die Originale.

In ihrem Kopf befand sich eine KI–Steuereinheit und ein Generator, der das alles in Gang hielt. Irgendwas mit Fusion, wie das genau funktionierte interessierte sie nicht. Etwa einmal im Jahr musste er neu aufgeladen werden, alles andere war ihr egal. Abgesehen von dem Teil ihres Körpers, der wie eine glatte Rüstung aussah, war optisch alles ganz unauffällig. Die synthetischen Hautpartien waren nicht einmal von Nahem von ihrer eigentlichen Haut zu unterscheiden. Keine Narben, völlig natürliches Aussehen. Erstaunlich. Nur, wenn sie mit den Fingern darüber strich, konnte sie merken, dass die taktilen Reize anders an ihr Gehirn weitergeleitet wurden.

Knapp sieben Jahre zuvor war sie in einem Labor aufgewacht, in einer schleimigen Brühe schwimmend und mit Schläuchen und Kabeln an alle möglichen Geräte angeschlossen. Um sie herum blinkten und piepten Monitore. Gestalten in grünen Kitteln hatten sich zu ihr herunter gebeugt und sie vermutlich Dinge gefragt, aber sie hatte kein Wort verstanden. Später, nachdem sie ihre Sprache in Amandas Datenbank implementiert hatten, war sie auch nicht schlauer gewesen als zuvor: sie habe wohl einen Unfall gehabt, hieß es. Sie sei so gut wie tot gewesen, als man sie gefunden habe, mehr sei nicht bekannt. Aha. Man hatte sich um sie gekümmert, bis sie wieder soweit hergestellt war, dass sie eigenständig herumlaufen konnte.

Eigenständig. Pah! Sie war zwar nicht direkt ferngesteuert, aber frei war sie nicht. Kein Stück. Die ganze schöne Technik, die sie am Leben hielt, gab dem Konglomerat volle Kontrolle, egal was sie behaupteten. Sie könnten sie tatsächlich fernsteuern, wann immer sie wollten, da machte sie sich nichts vor. Fernsteuern wie eine verdammte Marionette. So einfach war das. Die ganzen Schnittstellen öffneten jedem Tür und Tor, der in der Lage war durch die Firewalls zu spazieren. Bisher war es eben nur noch nicht nötig gewesen, denn sie hatte immer brav getan, was von ihr verlangt worden war, aber Dolbs entführen? Das ging zu weit. Das ging, verdammt nochmal, zu weit! Das konnten sie nicht von ihr verlangen. Und doch: sie taten es. Verdammt!

Nachdem man sie damals als genesen – pah, 'fertig zusammengebastelt' traf es eher – entlassen hatte, war ihr ein Platz in einer Wohneinheit zugewiesen worden, die sie mit drei anderen Cyborgs teilte. Sie waren gemeinsam trainiert worden. Jeder von ihnen hatte eine KI–Schnittstelle, durch die sie auf relevantes Wissen zugreifen und massenhaft Wissen abspeichern konnten. Außerhalb des Trainings durften sie die Schnittstelle ausschalten oder konnten sie zu ihrem Vergnügen nutzen: Medien aller Art standen massenhaft zur Verfügung, für jeden Geschmack war etwas dabei. Toll. Und nach der Ausbildung hatte jeder von ihnen einen Job 'angeboten' bekommen.

War sie dankbar? Nö. War sie glücklich? Ha! Nö. Wollte sie leben? Keine Ahnung. Eigentlich nicht, aber ausgerechnet jetzt, da sie diese Entscheidung treffen musste, sah es ganz so aus, als würde sie tatsächlich doch leben wollen. Verdammt. Trotz allem konnte sie sich nicht überwinden, dieses Ding, in dem ihr 'ich' nun steckte, diesen ... Körper, in dem sie sich bewegte, zu zerstören. Sie sollte es tun. Es wäre das Richtige. Eigentlich war es die einzige Lösung. Das war schließlich kein Leben, sondern nur ein schlechter Witz. Und trotzdem ... verdammt.
 
Alles in ihr schrie danach, sich zu weigern und ihrem Dasein ein Ende zu setzen. Schluss, aus, Ruhe im Karton. Alles, bis auf diese eine nagende Stimme, die ihr in Erinnerung rief, dass man nie wissen könne, was geschehen würde. Wunder gab es immer wieder. Ja klar. Wunder. Was für Wunder denn bitte? Hallo? Bescheuert. Bescheuert und dämlich und definitiv falsch! Und diese Gandrocks waren echt eine Zumutung. Wer auch immer dafür verantwortlich war, dass es ausgerechnet Gandrocks für diese Wüstendurchquerung sein mussten, war nicht ganz dicht. Und ein Sadist.

Überhaupt: Nesodoraner. Was für ein schräges Volk. Mutierte Humanoide mit vier Armen, fünf Augen und ohne drehbaren Hals. Die gleichmäßig rund um den Kopf verteilten Augen hatten das überflüssig gemacht, und so wuchs der Kopf mehr oder weniger direkt auf den Schultern. Statt der Haare hatten sie nur einen ungefähr kreisförmigen strubbeligen, recht kurzen Pelz oben auf dem Kopf, das sah ziemlich beknackt aus. Die oberen Arme waren relativ normal, sie ließen sich allerdings ohne Einschränkung sowohl nach vorne als auch nach hinten bewegen, was recht praktisch zu sein schien. Die gleich langen unteren Arme waren spindeldürr, hatten je einen zusätzlichen Ellenbogen und befanden sich am vorderen Teil des Körpers. Das einzig Schöne an ihnen waren die Hände, sie waren langgliedrig und zart. Zwei der fünf Augen zeigten ebenfalls nach vorne, so wie die riesigen Füße.

Ob sie gute Kämpfer waren? Amanda hatte noch nie gegen einen Nesodoraner gekämpft, sie vermutete aber, dass die zusätzlichen Arme und Augen einen nicht zu verachtenden Vorteil brachten. Nicht genug, um gegen ihre hi–tech Robotics und ihr Training eine Chance zu haben, aber bestimmt waren sie lästig genug. Wie viele wären wohl nötig, um Amanda überwältigen zu können? Hier in der Wüste hatte sie natürlich keinen Empfang, um sich entsprechende Kampfvideos ansehen zu können. Sie war gezwungen, auf ihre Datenbanken zurück zu greifen. Blöderweise war sie nicht auf die Idee gekommen, sich vorher ein paar Vids oder wenigstens neue Musik runterzuladen. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich aufzuregen, und hatte keinen klaren Gedanken fassen können, also musste sie sich mit dem begnügen, was sie hatte. Um sich von dem Geschaukel und von der gnadenlosen Hitze abzulenken, sah sie sich einen ihrer Lieblingsfilme an, aber irgendetwas stimmte mit ihrem Kopf nicht.

Immer wieder kamen ihr penetrant die idiotischsten Sätze in den Sinn und lenkten sie ab: oh, Amanda, wundervolle Amanda, wie süß, wie niedlich, itzelchen unentspannt, blablabla. Wenn sie es nicht besser wüsste – ihre Sensoren zeigten, dass sich nichts Fremdes in ihrem System befand – hätte sie schwören können, dass man ihr Drogen verabreicht hatte. Und die wunderbare, itzelchen unentspannte Amanda sollte nun also Dolbs entführen, ja? Verdammt. Kein Wunder, dass sie unentspannt war, mehr noch, sie war mittelschwer hysterisch – und aggressiv.

Und was war das überhaupt für ein schräger roter Typ, den sie immer mal wieder vor ihrem inneren Auge sah? Gehörte er zu den Dolbs oder wollten die ihn fressen? Nein, soweit sie wusste, ernährten sich Dolbs von Plankton, er war also nicht ihr Opfer. Keins der Fotos hatte diesen Typen gezeigt, trotzdem hatte sie ihn glasklar vor Augen, und die Dolbs saßen auf ihm drauf. Bescheuert. Was war bloß mit ihrem Kopf los? Fing sie an zu halluzinieren? Wenn sie wieder zurück war, würde sie zu einem Psychodoc gehen und sich durchchecken lassen.


Die Wahrheit über Blitze II


Fakt ist: nicht alle Blitze sind für das menschliche Auge sichtbar.


Dämonenverkorksung


Josh wurde von einem zarten Klingeln geweckt. Er lag mit dem Gesicht im Sand, die Sonnenbrille noch auf der Nase. Langsam setzte er sich auf, wischte sich den Sand von der Haut und musste sich erst einmal orientieren. Er war am Meer und diese schwebenden Gestalten waren Dolbs. Ach ja. Renko. Renko! Sofort war er hellwach.

„Wie geht's Renko? Habt ihr was rausgefunden?”

Die Dolbs schienen sich nicht einig zu sein, denn er konnte nur bruchstückhaft Worte aus dem Geklingel heraushören.

„Moment, Moment, man, langsam, ich verstehe kein Wort. Ebenen? Parallele Realität? Frequenzen?”

Sie bimmelten wieder chaotisch durcheinander, aber nach und nach sortierten sich die Gedanken der Dolbs und Josh konnte die einzelnen Aussagen verstehen: Dolbs waren Wesen mit medialen Fähigkeiten. Es gab verschiedene Ebenen des Seins. Das Bewusstsein war für das aktive Denken zuständig und befand sich auf der physischen Ebene. Das Unterbewusstsein war für das passive Denken zuständig, hatte Zugang zu den anderen Ebenen und verband diese mit dem Bewusstsein. Ok, soviel wusste er schon, aber gut, darum ging es also. Weiter. Jede Ebene schwang mit einer bestimmten Frequenz. Durch ihr Gebimmel konnten die Dolbs gezielt in der gewünschten Frequenz schwingen, wodurch sie in die dazu passende Ebene wechseln konnten – das sei so ähnlich wie einen Radiosender einzustellen.
 
Sie hatten sich durch die Ebenen gebimmelt und schließlich Renkos Bewusstsein auf einer Ebene gefunden, wo es gar nicht hätte sein dürfen. Eigentlich. Es war nicht dafür ausgelegt, auf diese Art von Reise zu gehen, und ohne Unterbewusstsein hätte es Renko schlicht unmöglich sein sollen, dort hin zu gelangen.

Nun war er aber da und konnte nicht zurück. Etwas war passiert, das diesen Wechsel erzwungen hatte, die Dolbs wussten nicht, was. Renko befand sich in einer Art parallelen Realität, die zwar einen Bezug zum Hier und Jetzt hatte, aber Renko konnte diesen Bezug nicht wahrnehmen, und weil er geistig nicht mehr auf der physischen Ebene anwesend war, konnte er seinen Körper nicht mehr steuern. Ansonsten sei er in Ordnung, glücklich und entspannt.

„Aber er hat sich doch vom Gandrock fallen lassen. Und er seufzt auch.”

Dafür hatten die Dolbs keine Erklärung, das sei ohne die Verbindung durch das flexible Unterbewusstsein unmöglich. Sie bimmelten wieder wild durcheinander und schienen zu diskutieren. Als sie damit fertig und sich halbwegs einig waren, bimmelten sie sinngemäß: nur mal angenommen, Renko sei etwas passiert, wodurch er ein Unterbewusstsein bekommen habe. Dann wäre davon auszugehen, dass er damit nichts anfangen könne. Er lebte schon mehrere Jahrhunderte ohne, würde gar nicht verstehen, was das war, und es somit wahrscheinlich einfach größtenteils ignorieren. Ab und zu könne es theoretisch passieren, dass es trotzdem kurz mit dem Hier und Jetzt in Verbindung stand und kurze spontane Reaktionen hervorrief.

Josh sah sie zweifelnd an. „Bisschen weit hergeholt. Niemand kann ein Unterbewusstsein kriegen, wenn sein Gehirn nicht dafür ausgelegt ist.”

Die Dolbs stimmten zu, es sei reine Spekulation, aber die einzige, die ihnen einfiel. Aber selbst wenn es so war, dann konnten die Dolbs jedenfalls an der Situation nichts ändern, weil sie mit Renko nicht kommunizieren konnten. Er hörte nur Gebimmel, verstand die Worte darin nicht und auf die Bilder und Gedanken, die sie ihm sendeten, hatte er nicht reagiert – was logisch war: ohne funktionierendes Unterbewusstsein kein Empfang auf diesem Kanal.

Josh seufzte. Das alles war ihm zu hoch und zu kompliziert und er wollte das eigentlich überhaupt nicht so genau wissen, nicht darüber nachdenken müssen. Er wollte er nur, dass alles wieder so war wie vorher, man. Was sollte dieser Mist? Warum passierte das? Das war doch alles ... Käse.

Resigniert bedankte er sich. Die Dolbs hatten etwas herausgefunden, immerhin. Es war ja nicht ihre Schuld, dass Josh nichts damit anfangen konnte. Aber was jetzt? Was, um alles in der Welt, sollte er jetzt tun? Er musste das erst einmal verdauen und bat die Dolbs, ihn alleine zu lassen. Mitfühlend bimmelten sie ein paar Abschiedsworte und schwebten davon.

Da saß er nun. Alleine. Hoffnungslos. Und zu allem Überfluss konnte er noch nicht einmal einfach zurück in die Wildsau zu Adasger wechseln, nein, er musste sich mit Zombie–Renko wieder durch diese elende Wüste quälen. Halleluja, echt. Am liebsten hätte Josh geweint, aber es ging nicht. Er saß nur da wie betäubt und wollte raus aus der Nummer. Weg. Einfach nur weg. Nicht teleportieren zu können fühlte sich an, als hätte man ihm etwas amputiert.


Im Amandaland


Renko saß im Schneidersitz am Meer und hörte ein leises, bimmeliges Klingeln. Um ihn herum schwebten niedliche rote Gestalten, die aussahen wie kleine Buddhas. Amüsiert sah er Amanda an, aber die schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein, sah wieder stinksauer aus und schaukelte. Sie wackelte irgendwie, und es war nicht das erste Mal, dass er das beobachtete. Skurril. Renko hatte gerade keine Lust auf einen Streit, also ließ er sie vor sich hin wackeln und sah lieber den kleinen Kerlen zu. Drollig. Sie schienen etwas zu wollen, aber er verstand nicht was. Nach einer Weile verblassten sie und verschwanden. Schade.


Im Dschungel


Hivvy war jetzt erst recht überfordert. Sie hatte noch nie eine Entscheidung treffen müssen, wusste bis vor Kurzem gar nicht, was das war – erstaunlich, dass das überhaupt möglich war. Ein alter Mann war aufgetaucht und hatte ihr Dinge erklärt. Ohne Ohren hatte sie ihn nicht hören können, aber seine Gedanken waren bei ihr angekommen. Klar und deutlich – aber das war keine Hilfe gewesen. Nicht wirklich.
 
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Eine andere Elementepfütze ... es war ihr noch nie in den Sinn gekommen, dass es andere Elementepfützen geben könnte. Sie hatte es nie vermisst, denn sie hatte ja nichts vermissen können ohne Gefühle und ohne Seele. Es war nicht relevant gewesen. Diese Seele machte alles entsetzlich kompliziert. Hivvy wollte das nicht fühlen, wollte nichts entscheiden, es war ungewohnt und eklig, aber diese Seele wollte es, sie war neugierig und freute sich auf ... auf ... alles? Das war so ein starker Sog, dass Hivvy das Gefühl hatte sich dem nicht entziehen zu können. Schrecklich.

Dieser Widerspruch war anstrengend. Wenigstens wusste sie jetzt, dass sie sich von den Gefühlen distanzieren konnte. Die Gefühle waren nicht ihre eigenen. Sie musste da nicht mitmachen, sich nicht davon beeinflussen lassen, sie konnte den Dschinn entstehen lassen und alles wäre wieder gut. Aber auch langweilig, wenn man der Seele glauben wollte. Hivvy kannte Langeweile nicht. War es langweilig eine Elementepfütze zu sein? Nein. Nicht, wenn man eine Elementepfütze war. Erst, wenn man keine mehr war, sah es nach einer langweiligen Existenz aus, soviel musste sie zugeben.

Hivvy brütete vor sich hin, die Gedanken kreisten, verschiedenste Gefühle drohten sie zu überwältigen, und es war ein einziges Chaos. Sie kam zu keinem Ergebnis. Zu allem Überfluss stellte sich ihr nun auch noch die Frage nach dem Sinn. Was war der Sinn von allem? Gab es einen? Wollte sie versuchen es herauszufinden? Es war zum Verrückt werden.

Der alte Mann kam zurück. Er hatte den Hund auf dem Arm, der immer noch Angst vor ihr hatte, das spürte sie, aber er hatte sich halbwegs beruhigt. Der Mann kniete sich vor sie hin. Das alles konnte sie ohne Augen natürlich nicht sehen, aber sie nahm es trotzdem wahr, so wie seine Gedanken und die Angst des Hundes. Wie war das möglich? Noch mehr Fragen. Sie hatte langsam die Nase voll von all diesen Fragen. Das Einfachste wäre wirklich die Sache mit dem Dschinn. Weg mit der Seele und gut, dann hätte sie wieder ihre Ruhe. Wollte sie ihre Ruhe? Ja. Nein. Vielleicht.

„Wie sieht es aus, weißt du schon, ob du mit einer anderen Elementepfütze Gedanken austauschen möchtest? Ich könnte auch einen Dschinn und einen Formwandler holen, die auf diese Art entstanden sind. Dann könntest du drei Erfahrungen miteinander vergleichen.”

Hivvy überlegte. Der Elementepfütze wäre es gleichgültig, denn sie konnte ihre Entscheidung nachträglich nicht in Frage stellen. Für sie wäre es automatisch normal sich so entschieden zu haben. Der Dschinn und der Formwandler könnten von ihren Erfahrungen berichten, ja, aber würde das einen Unterschied machen? Echte Erfahrungen konnte man nur selbst machen, in der Theorie taugten sie nichts. Woher sie das wusste? Noch so eine Frage ohne Antwort. Und stimmte das überhaupt? Egal, sie wollte sich nicht beeinflussen lassen. Sie würde das alleine entscheiden.

„Gut. Dann lasse ich dich mit deinen Gedanken jetzt wieder alleine und gehe zurück in die Wildsau. Morgen früh komme ich wieder.”

Der Mann hatte verstanden und es akzeptiert, einfach so. Das war seltsam tröstlich. Ihre erste Entscheidung – das fühlte sich gut an! Aber ob es die richtige Entscheidung gewesen war? Der Zweifel fühlte sich schrecklich an. Noch eine Frage, noch ein Widerspruch. Hörte das nie auf? Ging das so weiter, wenn sie die Seele bei sich behielt? Das war ja unerträglich! Aber auch spannend. Puuuh, wie anstrengend.

Adasger ging zurück in die Wildsau und bat die KI, das Portal wieder zu schließen. Wieder kommentierte sie das Offensichtliche, aber Adasger war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als dass es ihm aufgefallen wäre. Er setzte Borowski auf den Boden, der zwar noch nicht ganz wieder der Alte war, jetzt aber wenigstens wieder zaghaft schnüffelnd von einer Ecke in die andere lief und sich schließlich vor dem brennenden Kaminfeuer zusammenrollte. Der kleine Hund hatte vor ein paar Tagen ein T–Shirt von Renko gefunden und es sich dort hingezerrt. Er sah jetzt halbwegs ok aus. Gut. Sehr gut. Eine Sorge weniger. Adasger sah sich um. Womit sollte er anfangen? Erst einmal aufräumen. Genau. Den Müll einsammeln, das Geschirr stapeln und später abwaschen, die anderen Dinge in Schränke legen oder verschwinden lassen, je nachdem. Er fing an zu pfeifen und legte gut gelaunt los. Wie auch immer sich alles andere entwickeln würde, es würde auch ohne sein Zutun geschehen. Das tat es ja immer. Und wenn es an der Zeit war, einzugreifen und mitzumischen, dann würde er das deutlich spüren. Es war wie ein Schalter, der in ihm umgelegt wurde.


Amanda und Josh


Amanda ließ sich von ihrem Gandrock fallen, rollte sich auf den Rücken, schloss die Augen und blieb erst einmal liegen. Endlich! Der Boden schien zu schwanken, sie fühlte sich wie betrunken. Statt direkt zur Oase zu reiten, hatte sie einen Umweg gemacht und war in einiger Entfernung am Strand angekommen. Sie konnte die Oase bunt und üppig schillern sehen. Es sah einladend aus, aber weil sie nicht wusste, was sie dort erwartete, wollte sie erst einmal ausruhen und nachdenken – obwohl sie in den letzten zwei Wochen kaum etwas anderes getan hatte. Tag und Nacht war sie geritten ohne Pause zu machen, aber sie war immer noch zu keinem Ergebnis gekommen. Ihr graute vor dem, was sie zu tun gezwungen war, doch egal wie sehr sie sich den Kopf zerbrach, ihr fiel keine Lösung ein.
 
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