Die Überzeugung, man sei seelenverwandt, könne nicht ohneeinander leben und wisse immer genau, was der jeweils andere fühle, kann allerdings auch einseitig sein. Ich hatte so einen Fall: Eine Frau mit enormem Temperament, die sich finanziell und familiär in schwierigen Lebensumständen befand, hatte sich mir regelrecht an den Hals geworfen und mich vom Fleck weg verzaubert. Unsere Gedanken und Gefühle schienen eins zu sein, wir beide füreinander bestimmt. Es war, als hätten wir uns schon immer gekannt. Der Gedanke, einander zu verlieren, war schrecklich. Bis ich feststellte, dass diese vermeintliche Seelenpartnerschaft eine parasitäre Verbindung war:
Sie gab mir nichts, ich brauchte sie nicht, sie stahl mir meine Zeit und glaubte, mich als Mülleimer für die immerselben Problemchen (und als Gratis-Taxi) benutzen zu können. Zu einer fruchtbaren Verbindung zweier selbstständiger Charaktere war sie überhaupt nicht fähig, sondern sie sah in mir eine Art großen Bruder, der immer für sie da war, und ihre Liebesbekundungen waren die eines Hundes, der gefüttert werden will.
Ständig erzählte sie, sie brauche mich unbedingt, wäre ohne mich todunglücklich und könnte allgemein für nichts mehr garantieren. Zwischendrin gab sie ihrer Sorge Ausdruck, dass einige meiner Kolleginnen womöglich versuchten, mich ihr wegzunehmen. Es wurde, kurz gesagt, immer lächerlicher. Ich brach den Kontakt ohne Warnung ab, denn ich wollte die Verbindung nicht retten, sondern lösen. Wenn sie sich doch noch meldete, gab ich mich freundlich, aber gleichgültig. Verabredungen ließ ich platzen. Schließlich gab sie endlich Ruhe.
Soweit ich weiß, lebt sie noch und führt ihr parasitäres Dasein anderweitig fort. Bis zum Schluss hat sie vor lauter Seelenverwandtschaft nicht gemerkt, dass meine Liebe zu ihr erloschen war, und wahrscheinlich wundert sie sich heute noch, warum auch ich mich nicht mehr melde, wie schon so viele Seelenverwandte vor mir.