Liebe Tanita,
es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Benennen ( des eigenen Befindens, der eigenen Defizite und Wunden) und "an den Pranger stellen".
Musst du deine Eltern davor bewahren, zu erfahren, wie es dir als Kind mit ihnen ging, wie es dir heute damit geht?
Als Inspiration dazu hier ein Ausschnitt aus einem
Kurzinterview mit Katharina Ohana, Autorin von "Ich, Rabentochter":
Glauben Sie, dass Ihre Lebensgeschichte etwas Repräsentatives für Ihre Generation hat?
Ohana: "Ich gehöre zur Generation der "Kriegsenkel". Bei uns treten viele unverarbeitete psychische Altlasten hervor, die von unseren Eltern, den Kriegskindern, nicht verarbeitet worden sind. Meine Eltern haben furchtbare Dinge im Krieg erlebt - Bombennächte, Leichen, Hunger, Flucht. Doch damals glaubte man wohl, die Kinder würden das nicht so schwer nehmen. Niemand hat ihnen bei der Verarbeitung geholfen. Dann kam das Wirtschaftswunder, und die Erinnerungen wurden mit dem Streben nach Sicherheit und Wohlstand betäubt. Ihre Ängste haben die Kriegskinder dann später ihren Kindern in Form von ungelebter Nähe, krankhafter Sparsamkeit, zu hohen Erwartungen oder Zwangsvorstellungen weiter gegeben."
Und welche Folgen hat das?
Ohana: "Bei uns Kindern der Kriegskinder kommen nun, bei den derzeit wirtschaftlichen Unsicherheiten, die vererbten psychischen Probleme an die Oberfläche. Wir wechseln ständig Beziehungen. Viele von uns glauben, mehr leisten zu müssen, besser aussehen zu müssen, um wirklich glücklich zu werden. Wir fühlen uns oft missverstanden und nicht genug geschätzt - alles Dinge, die aus der Behandlung in unseren Kindertagen kommen. Wir sind in gewisser Weise noch kriegsgeschädigt und gerade dabei, diese Neurosen an unsere Kinder weiter zu geben, wenn wir nicht aufpassen."
Es geht nicht darum, Eltern für das, was sie getan oder unterlassen haben - aus welchen, m.E. durchaus nachvollziehbaren Gründen auch immer - zu schmähen, anzuklagen oder für die Folgen verantwortlich zu machen. Uns verbinden das Schicksal mit unseren Eltern, wir bilden ein System. Dieses System ist traumatisiert und das hat Auswirkungen. Der Heilungsprozess zieht sich über mehrere Generationen. Wir Kriegsenkel lösen uns gerade erst aus der Betäubung, der Derealisation dessen, was passiert ist, und fangen an, uns wahr und unsere Gefühle ernst zu nehmen. Bestehen unsere Eltern darauf, sich weiterhin selbst fremd zu bleiben, steht eine schwere Entscheidung an:
Wir können uns verleugnen und so wenigstens die Schein-Nähe zu den Eltern erhalten, oder zu uns und unseren Wahrnehmungen stehen und damit in Konflikt zu weiterhin leugnenden und abwehrenden Eltern kommen.
Das eine ist die (parentifizierte) Liebe eines Kindes zu den Eltern, das andere führt über einen schmerzhaften Prozess zur reifen, erwachsenen, die Selbstliebe einschließenden Liebe den Eltern gegenüber, wie sie nun einmal waren und wie sie heute sind. Letztere stellt sich von selbst ein und ist durch keine Übung oder das vielfach missverstandene und missbrauchte "Verzeihen" zu erzielen.
Eingedenk des kindlichen Gehorsams, der erworbenen emotionalen Blindheitden Eltern gegenüber, tut tatsächlich der mitfühlende Zeuge, die Ermutigung durch "Sehende" beim Ausstieg aus einer verbindenden Familientrance ausgesprochen gut.
Verlangst du in Bezug auf deinen Heilungsweg stets gerechtes und korrektes Denken und Verhalten deinen Eltern gegenüber?
Beste Grüße,
Eva