hallo rlfe (?)!
da macht die engagierte diskussion spaß... und ich gehe davon aus, dass in einem diskussionsforum die diskussion auch das ist, worum es geht - therapeutische oder sonst irgendwie bewegende praxis muss ja auf anderen spielplätzen geschehen.
rlfe schrieb:
Ich war mir eigentlich nicht bewusst, in diesem Bereich einen Krieg der Worte zu unterstützen, oder polemisch zu argumentieren - es würde mich (Vorschlag: via PM?) sehr interessieren, wo Du dies herausliest, sodass ich mir das mal 'vornehmen' kann: offensichtlich habe ich da eine Anfälligkeit.
Ich bezog mich da weniger auf Deinen hier geposteten Thread, sondern eher auf den von Dir gelinkten Beitrag auf Deiner Website, und mein persönlicher Eindruck, meine Interpretation, mein Konstrukt ist es, dass rund um diese "Potsdamer Erklärung", die ich eher für das Ergebnis verselbständigter Gruppendynamik halte als für ein wirklich reflektiertes Papier - aber als solche auch mit Gewinn gelesen und daraus einige Impulse gewonnen habe -, dass also diese Erklärung schon auch irgendwie ins Horn der schon viel älteren Goldner-Agitation stößt, der ja mal formulierte: "Hellinger verfolgt ein politisches Konzept und ist mit allen Mitteln (
sic!) zu bekämpfen." Das IST krieg mit Worten, oder? Ich zähle die Potsdamer Erklärung nicht unmittelbar zu dieser Form der Agitation, habe jedoch gemeint, in Deinem Text ein kaum relativiertes Einstimmen in die Attitüde "Der aufgeklärte, politisch korrekte Therapeut hat gegen Hellinger zu sein" zu erkennen - Clash of Psychocultures
. Wobei ja eh nichts dagegen zu sagen ist, wenn Du Hellinger nicht schätzt. Mich stört nur, dass gerade aus konstruktivistischer Richtung subjektive Wahrnehmungen in die Kommunikation eingebracht werden, als wären sie objektive Fakten. Und da das (eh irgendwie verständlich) auf beiden Seiten geschieht, eskaliert das immer wieder mal - tut mir leid, wenn ich dazu beigetragen haben sollte.
rlfe schrieb:
Denn ich muss auch zugeben, dass mich das Thema nicht kalt lässt: wenn Du schon mehrmals Menschen vor dir gehabt hättest, die gewissermassen bis ins Mark erschüttert sind, weil über sie von einer Gurufigur (sei es nun Hellinger persönlich oder einer seiner tausenden Schüler) eine Art Urteil gesprochen wurde, welches sie auch Monate nach einem derartigen Seminar noch nicht verkraften, dann weisst Du, was ich meine.
Das illustriert auch, was ich meine. Wenn in einem Nebensatz einer zum Guru ernannt (und hier wohl in eindeutig abfälliger Weise degradiert) wird und seine "tausende Schüler" in den gleichen Rang erhoben werden, dann erblicke ich darin untergriffige Rhetorik. Ich weiß schon, dass es ganz üble Auswüchse in der Stellerei gibt, habe einiges davon auch selbst erlebt, und ich weiß vor allem, dass die allerwenigsten, die sich auf Hellinger berufen, bei ihm oder von ihm gelernt haben ... da stimme ich zu: Der Umstand allein, dass jemand behauptet, sie/er würde "nach Hellinger" arbeiten, ist in keinerlei Hinsicht eine Aussage über die zu erwartende Qualität der Arbeit. Da feiert der Etikettenschwindel fröhliche Urständ, und freilich kommt es dann zwangsweise dazu, dass im Umfeld solcher schwer zu verantwortenden Umtriebe (Chuzpe? Selbstüberschätzung? Die so gern geübte esoterische Selbstvergottung?) labile Menschen Schäden beliebiger Tiefe bis hin zum Suizid davontragen. Und last not least: Obs nun schamanische Exzesse sein mögen oder dilettantischer Umgang mit der Brisanz des systemischen Stellens (als weiter Sammelbegriff, der das Familienstellen einschließt) oder aber - ja, auch das! - Folgen von danebengegangener Psychotherapie und/oder Psychiatrie beliebigen Zuschnitts (da könnt ich ein Beispiel aus nächster Nähe bringen...): Es geht nicht immer gut. Menschen lassen sich nicht gesundmanipulieren, so sehr sich das gerade auch KlientInnen immer wieder mal wünschen mögen. Und dann solche Fälle herauszugreifen, verbal malerisch zu illustrieren und als Beleg gegen eine ganze "Schule" ins Feld zu führen, das verstehe ich unter verbaler Kriegsführung - zumindest Guerillakrieg via Untergriff. Damit kann ich alles und jedes diskreditieren. Wobei ich auch weiß, dass es auf der anderen Seite eine der beliebtesten Ausreden für Kunstfehler bestgeschulter Ärzte ist: "Das ist nur ein bedauerlicher Einzelfall!" Wirklichkeit ist halt werder schwarz noch weiß...
rlfe schrieb:
Es sind dies Menschen, in deren Innerem innerhalb von wenigen Minuten etwas zerbrochen wurde, was häufig auch im Zuge einer "brief therapy" nur schwer wieder zu heilen ist. Da müssen dann erstmal andere Konzepte entwickelt werden als "Du bist ausgestossen!" oder "DAS ist deine Position!" (knieend vor dem Vater, in Demutshaltung, nachdem sie früher von ihm missbraucht wurde - aber wie konnte der Aufsteller denn das wissen, er kannte sie ja gerade mal 2 Minuten..? Schlimm dann nur, dass er sein Konzept einer "Lösung" nicht mal veränderte, als sie es ihm sagte...).
Genau so: Ich kenne dieses Beispiel aus der Presse, wo es offensichtlich einer vom anderen abgeschrieben hat - das stand in der "Zeit" und im "Spiegel" und es wurde im bayrischen Rundfunk kolportiert und in "Psychologie heute" ... allein die mangelnde Differenzierung und Vielfalt in der Kasuistik lässt bei mir tausend Fragezeichen aufblinken, welches Geschäft hier betrieben wird.
Ich kenne keine einzige Aufstellung - auch keine von Hellinger -, in der "Du bist ausgestoßen!" als Konzept entwickelt würde. Und die sattsam reproduzierte Missbrauchsgeschichte ist ein Extrembeispiel des auch sonst genug schweren "Nehmens der Eltern", das allerdings tatsächlich in Widerspruch zu Schulen steht, die die kämpferische Ausseinandersetzung mit den Eltern in der Vordergrund stellen. Wie überhaupt das "Nehmen, wie es ist" bei Hellinger sich grundlegend von der Veränderungsdynamik unterscheidet, die lösungsorientierte konstruktivistische Arbeit treibt. Wobei ich interessanter Weise auch bei M.v.Kibed/Insa Sparrer wenige Aufstellungen - SySt - erlebt habe, in denen nicht zumindest auch Teilelemente des Familiensystems zur Bewegung und Lösung dazukamen. In vielen Aufstellungen bei einigen aus dem Kreis der "tausende Hellinger-SchülerInnen", und/oder in zahlreichen Videos habe ich gesehen und erfahren (und einige Male auch am eigenen Leib), wie herausfordernd dieses "Nehmen der Eltern" ist ... und welche Wende es bringen kann, wenn es gelingt. Ebenso habe ich gesehen, dass es völlig sinnlos und prozeßkillend ist, dieses Nehmen erzwingen zu wollen. Wobei es oft für den nicht nur räumlich außen Stehenden ein anderes Bild ergibt als für die/den in der Aufstellung selbst.
rlfe schrieb:
Ich arbeite im Grunde sehr kurzzeit/lösungsorientiert, entlastend, in die Zukunft blickend und verstehe mich nicht als Aufstellungstherapeut (dies bitte nicht misszuverstehen, nur weil ich in Bezug auf "Aufstellungen" eine bestimmte Meinung vertrete). "Aufstellungen" sind lediglich eine von vielen therapeutischen Methoden, Lösungen zu finden, und für die meisten Probleme sind m.E. andere Methoden weit sinnvoller und vor allem nachhaltiger wirkend als so eine Aufstellung.
Die allermeisten, die ich kenne, und praktisch alle, denen ich vertraue, sind auch keine "reinen Aufsteller", sondern in vielen Methoden und Verfahren geschulte Therapeuten. Mit manchen Klienten gibt es "nur" eine Aufstellung (ich selber bin immer mit solchem Minimalismus zurechtgekommen und habe dabei entscheidende Impulse meiner Individuation erhalten), mit anderen gar keine, mit wiederum anderen eine Aufstellung im Zuge einer therapeutischen Begleitung... ich denke, es tut der Praxis nicht gut, wenn sie einer "reinen Lehre" untergeordnet wird, und es tut der Entwicklung einer ausdifferenzierten Methode nicht gut, wenn sie in einer Art von "vorauseilendem Pragmatismus" bis zur Unkenntlichkeit verwässert wird. Darum steh ich auf Schärfe im theoretischen Diskurs, die ich eher so sehe wie ein gutes Gewürz in einer Speise... quasi mein Gegenkonzept zum "Krieg der Worte".
rlfe schrieb:
Wesentlich allerdings ist meiner Ansicht nach (mag sein, dass ich hier damit allein bin), dass diese Aufstellungen, wenn sie dann zur Anwendung kommen, mit einem Mindestmass von professionellem Knowhow und womöglich auch von Menschen begleitet werden, deren einziges "Rezept" nicht nur das Aufstellen sein kann - weil sie halt nur wenig anderes gelernt haben.
D'accord ... und es darf gern ein bisserl mehr sein als ein Mindestmaß an professionellem Know-how. Für mich ein ganz wesentliches weiteres Kriterium, ob ich einem Therapeuten traue oder nicht, ist sein Umgang mit dem Instrument der Supervision. Wenn mir da eineR nicht klare Antworten geben kann, lass ich die Finger davon.
rlfe schrieb:
Will ich allerdings sichergehen, "dass nix passiert", wende ich mich wohl doch lieber an einen ausgebildeten.
Sichergehen? Nun ja... sicher in der Hinsicht, dass ich selbst die "erforderliche Sorgfalt" bei der Ausübung meiner Eigenverantwortung geübt habe. Generell sichergehen, dass die therapeutische Begleitung etwas bringt, kann ich wohl kaum. Und dann gibt es ja auch noch solche, die einen "unausgesprochenen Behandlungsvertrag" mitbringen, wie ihn Eric Berne mal etwas sarkastisch formulierte: "Beschäftige mich, tu viel mit mir und lass es schmerzlich werden und teuer, lass es dauern, mach was du willst, nur: ich möchte mich nicht ändern." Ein Profi mit gut ausgebildeter Ethik wird auf dieses Spiel nicht einsteigen. Ausübende des Helfersyndroms (mit oder ohne Ausbildung) werden über solche KlientInnen begeistert sein.
rlfe schrieb:
Was mich wundert, sind Deine Rückschlüsse vor dem Hintergrund Deiner Belesenheit. Dein Eindruck, ich werfe SyST und SFT in einen Topf
Das bezog sich auf explizite Formulierungen auf Deiner Homepage, die ich nun nicht mehr wiederfinde ... womöglich hab ich ja halluziniert. Mir schien überhaupt der allgemeine Teil zur Aufstellungsarbeit länger gewesen zu sein. Vielleicht ist es ja einfach zu heiß draußen...
rlfe schrieb:
Varga von Kibed, der ebenfalls Systemischer Psychotherapeut ist und sich im Gegensatz zu Deiner Interpretation sehr klar von der Arbeit Hellingers, so wie er sie seit gut 1 Jahrzehnt betreibt, abgrenzt.
das tut er ... und zugleich würdigt er auch einiges. so zitiert er fairer weise auf seiner homepage die
Göppner-studie über die Wirkungen des Familienstellens oder betont an anderen Stellen (und auch heuer im Frühling bei einem Seminar in Graz) mehrfach die Bedeutung, die in der "Ritualisierung" der Ausgleichsfähigkeit von Schuld liegt, die Hellinger (aus chassidischen Wurzeln) ins Stellen übernommen hat - ausgleichsfähige Schuld im Kontrast zu moralischer Schuldzuweisung, das ist ja nicht ohne.
rlfe schrieb:
Dass Hellinger auch seine historischen Verdienste hat, daran besteht kein Zweifel - dies kann allerdings halt auch nicht seinen heutigen (vorsichtig formuliert: ) "lockeren" Umgang mit Verantwortung hilfesuchenden Menschen gegenüber entschuldigen, und die Art und Weise, wie er seine Ausbildungen und Shows betreibt. Um es mit Arist v.Schlippe, zu sagen (jetzt werfe ich auch mal mit Namen um mich
): "Was er an Gutem aufgebaut hat, entwertet er derzeit selbst, [..] er hätte die Psychotherapie als Ganzes ein Stück weiterbringen können, doch seine Entwicklung ist anders weiter gegangen."
Das find ich nun nett. Bezogen auf ein Denkmal oder auf einen, den man gern als Guru gehabt hätte und der einen enttäuscht hat, besitzt das Lamento eine innere Logik. Wenn ich das Gute einfach als "das Gute" nehmen kann, wird es doch nicht entwertet durch weniger Gutes, das ich der gleichen Person zuschreibe. So lese ich gern, dass auch Arist von Schlippe das Gute an Hellinger wahrnimmt und so sehr schätzt, dass er sogar die vermeintliche spätere Beschmutzung durch den Nestbauer bedauert. Ansonsten, die übliche Polemik wegen der Massenauftritte (was mich immer wieder wundert, weil das so oft als Argument von der Linken kommt, die auf einmal eine Vorliebe für elitäre Elfenbeinturm-Seminare zu entwickeln scheint... da wär's gut, auch mal bei Alfred Adler oder Manès Sperber nachzulesen und ihren ideologisch sympathischen, aber praktisch wenig erfolgreichen Ansätzen, die Psychotherapie in der Arbeiterbewegung zu verankern). Vor allem: Zwischen Hellinger aus der früheren Zeit des Familienstellens und dem Hellinger heute liegt eine ziemliche Spannweite mit (meine Einschätzung) ziemlichen Highlights und Abstürzen ... ebenso schwer wie unnötig, ihm da bei allem zu folgen. Sympathisch erscheint mir, dass er inzwischen ja selbst - vor allem seine spätere Arbeit, die er als "Bewegungen des Geistes" bezeichnet - sein Tun eher als Philosophie denn als Psychotherapie begreift.
Wie auch immer ... es ist amüsant, dass ich irgendwie immer zwischen den Stühlen lande. Ich bin durchaus kritisch gegenüber Hellinger, schätze aber Vieles von ihm sehr, auch viele schöne Texte ... und ich neige persönlich vor allem sehr zum konstruktivistischen Ansatz und habe viel von den hier nun eh schon reichlich oft Genannten gelernt ... und ich leiste mir den Luxus, nicht Partei zu ergreifen. Was mir auch deshalb leichter fällt, weil ich ja selber kein "Professioneller" bin, sondern nur interessierter Laie ... gebt also meinen Worten das angemessene Gewicht
Und: schon lange nicht mehr habe ich in diesem Forum so gern so viel Zeit für so viel Text aufgewendet
Alles Liebe,
Jake