Es am Tisch

Bibo

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Am Tisch

Da sitzt und zittert es vor Angst, weil es weiß, daß es gleich sterben wird. Wie tagelang ohne Essen und Trinken, so ausgemergelt fühlt es sich, so leer von Kraftstoff. Den Humor hat es auch verloren, wenn es da so sitzt mit Ameisengesicht über nichts zu essen, nichts zu trinken, nur noch mit einer Portion Luft im Kehlsack, die grade für ein letztes trockenes Stöhnen reichen wird. Sein Blick schwebt die Tischfläche entlang, da ist die altbekannte Ödnis: eine Ansichtskarte, ein Aschenbecher, ein Tabakbeutel, das Buch und der Stift, den es manchmal neben das Buch legt.

Es fängt an, laut zu regnen und damit beschäftigt es sich eine Weile. Die Töne, die auf das Dach fallen sind verschieden laut. Einmal knallt es, einmal platscht es, dann ein Knirschen wie von einem zerbrechenden Ast. Es schaut hoch zum Fenster, seinem Abendauge, in dem gerade ein Film herangeschwommen kommt. Das Licht aus einem anderen Zimmer fällt herüber durch den Filmstreifen hindurch, durchflimmert die Luft, fällt auf den Tisch, der das Licht wieder zurückwirft auf den Film, wo es sich in tausend Flimmerteilchen bricht und als Geisterchen in die anderen Zimmer leuchtet.

Es ist schnell Nacht geworden seit halb 9, aber doch nicht so schnell, als wenn jemand einfach das Licht ausknipst.

Es sitzt mit überkreuzten Schenkeln am Esstisch und denkt sich so einiges. Dass es in einen Sportverein eintreten könnte, zum Beispiel. Oder dass es Musikunterricht nehmen könnte. Oder woher all die Gefühle kommen, die so interessant sind, daß sie gerne aufgeschrieben sein wollen. Es ist aber nur ein kleines Denken. Es reicht nicht aus für großes Kino. Es ist, als ob es immer wieder einen mundvoll Luft aufsaugte ohne sie wieder ausblasen zu können, mit Luft verstopft. Das Ergebnis ist Schluckauf während einer Karussellfahrt unter Wasser. Die Lungen sind voller Wasser und Rauch.

Neben dem Humor hat es auch den Ernst verloren. Es liest den ersten Absatz eines Zeitungsberichtes aus der Tageszeitung, die es sonst nicht liest. Da steht etwas über den Präsidenten, der während einer Gedenkfeier zur Landung der Alliierten in der Normandie vor 50 Jahren, als Vater und Mutter einander noch nicht kannten... und schon erträgt es die Buchstaben da auch nicht mehr, denn es ist mit seinen eigenen Jahren bis zum Platzen angefüllt ist, darin kommt kein Präsident nicht vor.

Mit einem Wimpernschlag tut es alles ab, was nicht hier bei Tisch ist. Schon einen halben Meter von der Tischkante entfernt fällt es übern Rand, da fängt das Unbekannte, das Unheimliche an. So spart es sich seine Aufmerksamkeit lieber für private Gemütlichkeiten auf.

Da ist dieser Kassettenrekorder, der es an eine Gitarre, die es an eines anderen Gitarre, an diesen anderen und an andere andere erinnert. Da ist die beinahe leere Zigarettenschachtel, die es an ein Gespräch mit einer anderen erinnert, die etwa 15 Meter von ihm entfernt sich mit etwas anderem beschäftigt. Gestern Abend mit einer Flasche Wein, heute mit einer anderen Flasche Wein. Und da ist die leere Weinflasche, die es an andere Weinflaschen erinnert. Und da ist eine Zeit, in der diese ganzen Weinflaschen zu hauf auf dem Fußboden standen und daneben Bierdosen, die mit Urin und Zigarettenkippen gefüllt waren. Und da ist dieser grünliche Raum, in dem diese Zeit einmal gewohnt hat. Doch all das ist weit weg von diesem Tisch und erinnert es an eine traurige Entfernung, die diesen Tisch von einem anderen, nicht fertiggekannten Leben trennt. Und da ist eine Menge seltsamen Verhaltens, das dieses andere Leben noch weiter in die Ferne drückt über einen tödlichen Rand hinaus in eine alles an sich bindende Dunkelheit.

Das alles aber tut es ab und es zittert dabei und der Fuß schläft ihm ein. Damit beschäftigt es sich eine Weile.

Der Fuß wird kalt, die Knie beben. Von hinten ein Reißen im Nacken, als es die Sprudelflasche ans Mundloch heben will.

Und da ist auch schon das Krankenhaus, die Arbeit, die sich an den Leute dort verrichtet. Ein, zwei Leute, an denen die Gedanken hängen bleiben, die nicht enthalten sind in den letzten 50 Jahren. Doch auch das alles ist viel zu fern von diesem Tisch da.

Als ein Vogel auf die Scheibe scheißt, merkt es auf.

,Ich will deine, ich will deine, ich will deine....´ – da hängste also fest, will der Vogel sagen.

Ach da also! Mit beiden Krallenfüßen im Beton und flattern um zu entkommen, aber es geht nicht. "Ich will, ich will, ich will –" aber es geht nicht.
Flattern. Autos. Hupen. Fahrräder. Würstchenbude und der ganze Spuk da draußen.

,Ich will deine, ich will deine, ich will deine...´ – irgendwas. Es hat das aus einem Lied eines anderen.

Ein Haus in Streifen, ein Baum aus schimmliger Schlagsahne. So träumt es den Film, der auf Knopfdruck durch sein Hirnscheibe huscht, in das matte Fenster hinein.

Doch das alles ist viel zu weit weg von diesem Tisch hier.

Jetzt hat sich das Fenster geöffnet, der Film verschwindet nach oben und die Augen folgen ihm unwillkürlich und so streifen sie zufällig den Stern, der genau durch zwei Tropfen hindurchblinzelt.

Als nächstes betätigt es den Radiergummi. Dann tritt der letzte Tod ein.

Der Kühlschrank wird geöffnet und während die Tür langsam aufschwingt, schnappt eine freie Hand die Weinflasche. Es klirrt, weil die Weinflasche gegen die daneben stehende Milchflasche schlägt. Dann zieht sich die Hand zurück, die Tür kehrt heim und schnippt und der Kühlschrank ist wieder zu. Daumen und Zeigefinger umschließen den Flaschenhals. Ein träger Gang schwankt hin zum sicheren Tisch zurück, die Flasche wird abgestellt auf den Tisch. Der Hintern setzt sich auf den Hocker vor dem Tisch. Das Bein legt sich auf den Schenkel des anderen Beines, der Daumennagel kratzt über die Kruste auf der Stirn. Da bleibt etwas unter ihm hängen.

Es bildet sich eine Bewegung zur Schublade der Anrichte aus. Etwas im Rachen neigt sich zum Boden. Da ist eine Kraft, die in Erinnerung gerufen werden will. Der Rücken kracht während es im Rachen zuckt.

Da ist eine Streichholzschachtel. Die Streichhölzer sind zerbrochen. Der Rücken ächzt jetzt.

Die Streichhölzer fallen zu Boden. Der Rücken macht einen Bogen, die Hand schnellt hinab zu den Streichhölzern, das Bein gleitet vom Schenkel und sucht sich unter ihm Halt. Da ist die Schublade schon offen. Silber glänzt es heraus und ein paar grüne Flaschenöffner leuchten im Dunkeln.

Wie sich herausstellt, kann der Radiergummi bei Kuli nichts ausrichten. Also wird ein Loch ins Papier gemacht. Aber das Loch ist zu klein, als daß es hindurchsteigen könnte.

Das Weinglas wird gefüllt für die Zwecke der Kehle. Sie ist befreundet mit dem Rücken und noch mit ihrem letzten Atemzug spendet sie ihm Trost.
 
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