Lieber Gawyrd!
Das habe ich anders erlebt : eben dass man bei der Aufstellung plötzlich in einer anderen Zeit war - nicht durch sprachliche Übersetzung, sondern deutlich wahrnehmbar : dass Ort und ungefähre Zeit der "Handlung" sich zum Greifen verdichtet haben (dass eine Wüste oder ein Dschungel einfach da war - bis hin dem Stil der Gewänder etc.).
Ich möcht jetzt nicht in beckmesserische Dispute über Wahrnehmung einsteigen - freilich kenn ich solches Erleben auch. Und ich bin davon fasziniert und ich sehe auch die Wirkung, die es haben kann. Ich hab's mir aber auch angewöhnt, mir gelegentlich jenseits der Faszination auch Gedanken darüber zu machen, was sich da tun mag. Ich halte das für legitim und keineswegs für eine Störung oder Wirkungsbeschränkung dessen, was da ist (wie schwach wäre das, wenn es sich durch ein paar Überlegungen von mir stören ließe...), es ist für mich auch eine Frage des Vertrauens, ob ich für Prozesse ein Verständnismodell habe (ich sage extra nicht "Erklärungsmodell", das führte in den trügerischen Bereich von Kausalitäten). Ich weiß auch, dass das vorläufige Modelle sind... Konstrukte eben. Kein Problem. Meine einzige Sicherheit ist eh, dass es keine gibt.
Und da - endlich die Schlussfolgerung - sehe ich auch "Erleben" bereits als Deutung einer Wahrnehmung. Die unmittelbare Körperwahrnehmung, das ganzheitliche Aufnehmen dessen, was sich da im Feld tut, setze ich nicht gleich mit dem, was sich zunächst mir als Erleben vermittelt, bevor ich es anderen als solches vermitteln kann.
Und freilich verdichten sich im Aufstellungsfeld ganz unglaubliche Szenen - ich sehe (wiederum für mich) überhaupt keine Notwendigkeit, die nun als Reproduktion einer früheren Wirklichkeit zu sehen. Für mich ist das ganz klares Hier & Jetzt, das sich aus der Zeitlosigkeit des fokussierten systemischen Zusammenhangs heraus manifestiert. Kein Dokufilm von anno dazumalen, sondern wie eine "künstlerische Interpretation" von Wirklichkeit, die ja oft Tieferes offenbart als der Blick auf das Reale selbst. Repräsentation einer inneren Bewegung, nicht Darstellung äußerer Sachverhalte.
Das mit dem Konstruieren ist so eine Sache - letztlich eine Ausflucht, die kaschiert, dass man sich nicht entscheidet. Schließlich weiß es die Seele ja, ob sie einmal oder bereits mehrmals hier war. Da braucht man nichts zu "konstruieren" - die Frage ist einfach, ob man es für möglich hält, dass das "Gedächntnis" der Seele zugänglich ist (bzw. sich vermitteln kann), oder nicht.
Gegen die Unterstellung der "Ausflucht" verwehre ich mich ganz entschieden. Was das "Wissen der Seele" anlangt, hatten wir ja gerade erst ein paar Überlegungen dazu, was man über Seele sagen könnte. Ich komme sehr gut ohne ein Bild von Seele aus, das ihr menschliche Funktionen wie "Wissen" oder "Gedächtnis" zuschreibt. Genau das wäre für mich eine Konstruktion... und für mich wird die Seele klein, wenn ich sie quasi wie meine körperlose bessere Hälfte konstruiere, die's besser weiß. Für mich ist es die achtsamere Haltung, mir kein Bild von ihr zu machen, ihr keine Gestalt zu geben, sondern sie (wie im anderen Thread ausgeführt) als das zu nehmen, was mich mit [...] verbindet. Ähnlich auch mit "einmal oder mehrmals hier gewesen" ... das ist spiritueller Kontext, der geteilt werden kann, aber nicht muss, und es zeigt sich, dass das für das Gelingen von Aufstellungen unerheblich ist. Es muss keine wie immer geartete Gläubigkeit vorausgesetzt werden, um aufstellen zu können.
Insofern könnte ich nun hergehen und die These aufstellen, dass gerade Bilder/Konstrukte wie die "wissende" Seele oder das Vermischen von Reinkarnationsvorstellungen mit systemischen Verbindungen eine Ausflucht aus dem Zustand darstellen, dass wir letztlich noch sehr wenig über unsere Einbettung in Systeme - familiäre, in solche von Zeit und Raum, in die unterschiedlichsten - wissen. Um mit diesem (ich vermute sogar: grundsätzlichen) Nichtwissen umgehen zu können, konstruieren wir Modelle ... manche diese, manche jene. Und für mich bedeutet es einen erleichternden Freiheitsgrad mehr, nicht glauben zu müssen, sondern meine Modelle von vornherein als solche betrachten zu dürfen. Das heißt ja keineswegs das Leugnen von Wirkungen, ganz im Gegenteil. Und es heißt vor allem: Respekt gegenüber anderen Modellen und die Möglichkeit, sich über Modelle auszutauschen ... was in der Regel friedlicher und ertragreicher abläuft, als wenn sich dogmatische Fundamentalisten, die vor allem gern glauben möchten, die Schädel einschlagen (hoffentlich nur symbolisch). Ausflucht, dass man sich nicht entscheidet? Wofür oder wogegen?
Nachdem es in Aufstellungen geschieht, dass unbekannte Familiengeheimnisse aus dem Familiengedächntnis plötzlich sichtbar werden (und dies durch anschließende familienbiographische Nachforschungen bestätigt wird) - warum sollte nicht das persönliche Seelengedächtnis in der Aufstellung sichtbar werden.
Ich kenne auch (leider gar nicht so wenige) Beispiele, dass sich in Aufstellungen etwas scheinbar im System Geschehenes gezeigt hat, was einer Überprüfung dann nicht standhielt (wenn jemand das Vordergründige so wichtig nahm, um daran die Qualität der Aufstellung zu messen... statt den Vordergrund als Symbol einer tieferen Wirkung zu akzeptieren). Oft dann, wenn sich Aufsteller auf das waghalsige Abenteuer einlassen, Aufstellung als Faktenrecherche zu betreiben. Das wundert mich nicht und das beunruhigt mich nicht, weil ich da eh von vornherein zwischen Aufstellung und spiritistischer Seance unterscheide. Und wieder im Rahmen der unterschiedlichen Modelle: Wenn es zwischen Aufsteller und Aufstellendem als Verständigungsebene hilfreich ist, ein "persönliches Seelengedächtnis" einzuführen - why not? Ich halte es nur für unzulässig, aus daraus entstehenden Evidenzerfahrungen abzuleiten, dass dieses Modell mehr stimmen würde als ein anderes.
Alles Liebe,
Jake