Der Sinn des Lebens oder Sarahs Weg

Rose2

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Sarah hatte als junges Mädchen jede Menge Probleme. Sie fühlte sich nicht hübsch genug. Sie fühlte sich zu dick. Sie wollte unbedingt einen Freund und die Jungen in ihrer Klasse waren unbrauchbar. Nun, mit vierunddreißig Jahren hatte sie das erste Mal das Gefühl, wirklich Herrin über ihr Leben zu sein.
Der Job bei einem Telekommunikationsanbieter war gut bezahlt und machte Spaß. Ihre kleine Wohnung war nett eingerichtet. Sie hatte eine übersehbare Anzahl von Freunden, die für Freizeitaktivitäten zur Verfügung standen. Und nach der Trennung von Alfred war sie ganz zufrieden damit, Single zu sein. Für eine Weile konnte es so weiter gehen.
Irgendwann stand die große Frage an, ob sie wieder eine ernste Beziehung führen und Kinder bekommen wollte. Aber bis dahin blieb ihr noch eine Schonfrist. Nach fast acht Jahren der Zweisamkeit fand Sarah durchaus Geschmack daran, allein zu sein. Sie konnte das schmutzige Geschirr stehen lassen und abends ihr Fernsehprogramm selbst wählen. Niemand beklagte sich, wenn sie mal keine Lust zum Ausgehen hatte. Und niemand beklagte sich, wenn sie unbedingt ausgehen wollte. Es war alles viel einfacher.

Vielleicht lag es daran, dass sie Single war, dass auch die Gespräche mit ihren Freundinnen anders verliefen. Wenn sie gemütlich bei einer Tasse Kaffee zusammen saßen, unterhielten sie sich über gemeinsame Bekannte, Mode oder Musik. Manchmal wurden die Gespräche auch tiefer. Dann kamen Probleme zur Sprache, Sehnsüchte und Gefühle. Sarahs Freundin Monika saß an einem verregneten Sonntag mit ihr am Sofa und klammerte sich an einen Becher Kaffee. Ihr Haar war zerzaust und sie sah traurig aus.
"Was ist eigentlich der Sinn von allem?" fragte sie.

Später konnte sich Sarah nicht mehr daran erinnern, was sie geantwortet hatte, aber sehr wohl noch an die Ausgangsfrage. Einige Tage vergingen, und noch immer spukte ihr die Frage im Kopf herum. Was ist der Sinn von allem?
Monika machte gerade eine schwierige Phase durch. Sie hatte einen Rechtsstreit mit ihrem Ex-Mann und versuchte vergeblich, ihr Übergewicht zu reduzieren.
"Na, was ist schon der Sinn", sagte Sarah zu sich selbst, während sie ihre Wäsche für die nächste Woche bügelte. "Der Sinn ist eben der Sinn. Wir leben, das genügt doch."
Aber eines Tages würden sie nicht mehr leben, jeder von ihnen.
"Bildschirm aus", hatte Alfred gesagt, wenn sie über den Tod sprachen. "So ist das dann. Einfach, als würde jemand den Bildschirm ausschalten."
Sarah hatte ihm zugestimmt, obwohl sie insgeheim darauf hoffte, es würde vielleicht doch noch etwas kommen. Ein Tunnel. Ein Licht. Ein Gott. Aber dass es Gott nicht gab, das hatte sie schon mit acht Jahren festgestellt. All die Jahre Lebenserfahrung hatten sie in dieser Ansicht noch bestärkt.

Die Wäsche war gebügelt und gefaltet und Sarah kaute an ihren Nägeln herum. Man muss sich über schwierige Themen wie den Tod und den Sinn des Lebens keine Gedanken machen. Man kann sie beiseite schieben. Aber man kann sich auch darauf einlassen.
Manchmal ist die Zeit gekommen, einem schwierigen Thema nicht auszuweichen. Sarah wollte zumindest probieren, ihre Fragen auszusprechen.
Sie traf einen Entschluss und verschonte ihre armen Fingernägel. Statt dessen griff sie nach ihrem alten Telefonverzeichnis und blätterte darin herum. Nach einer Weile fand sie einen Eintrag, nahm ihr Handy und wählte.
Die Nummer stimmte noch. Tante Elisabeth hatte eine Stimme, die vom Rauchen krächzig geworden war. Sie freute sich über den Anruf.
Tante Elisabeth war der gläubigste Mensch, den Sarah kannte.
"Stell dir mal vor du bist ein Außerirdischer. Schau dir die Welt an als würdest du sie nicht kennen. Probier das."
"Was soll das bringen, Tante?" fragte Sarah.
"Ich weiß nicht was es dir bringt. Mir hat es eigentlich viel gebracht. Ich konnte alles wie ein Wunder betrachten. Sogar ein olles Auto. Ich dachte mir: wenn unsere Welt so voller Wunder ist, muss es einen Gott geben. Wir sehen nur nicht so genau hin, weil wir immer alles für selbstverständlich nehmen. Aber wie wäre es, wenn die Dinge nicht selbstverständlich sind?"

Der Verkehr wälzte sich über die dreispurige Straße neben Sarahs Wohnhaus. Ein Baum wiegte sich im Wind. Sarah lehnte am Fensterbrett und seufzte.

"Nein, es ist nicht nur die Natur. Auch die Stadt, ein Haus, der Gehsteig, die Autos, es ist alles ein Wunder", sagte die Tante am nächsten Tag. "Nur weil Menschen das gebaut haben, kommt es nicht weniger von Gott als die Natur. Gott ist überall. Allmächtig, mein Kind, das bedeutet nicht einmal ein winziges Elektron tanzt aus der Reihe. Gott ist allmächtig."
"Dann gibt es keinen Zufall?" murmelte Sarah zweifelnd ins Telefon.
"Nein, natürlich nicht." Die Tante krächzte freundlich. "Nein, nein, es gibt keinen Zufall, niemals."

Eine kleine Außerirdische ging durch die Straßen. Sah sich die Häuser an. Die Bäume. Die Autos. Die Menschen.
"Denk dir, die Leute wären scheue Tiere die du zum ersten Mal zu Gesicht bekommst. Du würdest sie wundervoll finden", hatte die Tante gesagt.
Der Asphalt war schmutzig.
"Sogar der Boden ist etwas Besonderes. Ich kann Gott darin entdecken."
In den Geschäften wurden Konsumartikel ausgestellt.
"Der unglaubliche Reichtum unserer Gesellschaft! Was du für wenig Geld alles kaufen kannst! Hast du dir schon mal eine Dose Bohnen angeschaut? Das Metall! Ein wertvoller Rohstoff! Oder Plastik, so wunderbar leicht und stabil. Das alles ist doch wirklich nur zum Staunen!"

Auch das Fernsehen wurde so zu einer Abenteuerreise. Was würde ein Außerirdischer wohl von CSI New York halten?

Sarah entdeckte die Schönheit einer Straßenbahn. Sie entwickelte eine Vorliebe für Lastwagen. Tonnen von Motoren und Metall. Und das alles war Gott?

Der Blick von Außen bedurfte einer Anstrengung. Schließlich flaute er wieder ab und der Alltag nahm seine Stelle ein. Alles floss dahin, alles war gewohnt. Sarah ging zur Arbeit, lebte ihr Leben.
Aber etwas hatte sich verändert. Sie war nicht mehr die selbe wie früher. Was immer selbstverständlich für sie gewesen war, bekam nun eine andere Bedeutung. Angefangen bei ihrem eigenen Körper war die Welt tatsächlich voller Wunder. Nur weil wir sie nicht bemerken, sind sie nicht weniger vorhanden, dachte Sarah. Sie fand, die Naturwissenschaften konnte bestehende Gesetze sehr gut definieren. Aber sie konnte nicht erklären, warum überhaupt etwas existierte. Atome. Materie. Leben. Wer hatte das so vollkommen geplant? War alles durch Zufall entstanden? Oder gab es keinen Zufall, wie die Tante behauptete.
Sie fand, es war Zeit Tante Elisabeth am Wochenende zum Mittagessen einzuladen.

"Warum sollte es Materie geben?" forschte die Tante. "Warum sollte es verglichen mit dem absolutem Nichts überhaupt irgendetwas geben?"
"Ja, warum?" sagte Sarah.
"Eben." Tante Elisabeth saß dick und rund auf dem Sofa und rauchte.
"Aber wenn es einen Gott gibt, warum greift er dann nie ein, antwortet nicht und verhindert nicht das Leid der Welt?"
"Nun, ich denke wir sollen uns entwickeln. Wir sollen lernen. Das geht nicht, wenn ständig jemand die Parameter korrigiert, denke ich."
"Gäbe es keine sanftere Methode uns etwas beizubringen?"
"Ich glaube an die Seele. Sie hat sich hier auf der Erde inkarniert, damit wir lernen. Und wir lernen. Mit jedem Augenblick. Was hast du gelernt? Dass die Welt ein einziges Wunder ist? Und vielleicht ist das eine grosse, wichtige Lektion."
"Oh mein Gott!" Sarah griff sich in die Haare. "Ich kann nicht glauben, dass der einzige Weg, um mir etwas beizubringen, der ist, dass mich Gott dem Leid hier auf der Erde aussetzt, den Schmerzen und dem Kummer!"
"Aber Kind, es geht um Energie. So wie innen, so außen, das ist kein leerer Satz. Wo sich deine Gedanken bewegen, so bewegt sich auch das Äußere. Vielleicht musst du viele Male in verschiedenen Zusammenhängen geboren werden, bevor deine Seele lernen konnte."
"Was soll ich denn so Wichtiges lernen?"
"Liebe", sagte die Tante. "Aber Liebe ohne Besitzansprüche, letztlich Liebe ohne Sentimentalität. Liebe, die groß genug ist, die Gesetzmäßigkeiten einer Existenz zu begreifen, in der auch Leid, Schmerz und Grausamkeit eine Rolle spielen."
"Nun, so weit bin ich nicht", erwiderte Sarah resolut. "Ich kann nicht begreifen, wie ein verhungerndes Kind in Afrika Liebe lernen soll."
"Wer weiß ob dieses verhungernde Kind im vorhergegangenen Leben nicht ein reicher Europäer war?" sagte die Tante. "Ein Europäer der auch nicht glücklich war, weil er nie begreifen konnte, was im Leben tatsächlich eine Rolle spielt. Dann suchte er die Erfahrung eines hungernden Kindes, um zu lernen, dass nicht Reichtum und nicht Armut die Schlüssel zum Glück sind. Aber ich denke schon, jeder Mensch sucht sich die Erfahrungen seines Lebens vorher aus. Was natürlich nicht heissen soll, dass wir uns nicht helfen und beistehen sollen, wenn wir können."
"Dann gibt es so etwas wie ein Endziel? Ein Paradies?"
"Gute Frage", antwortete die Tante fröhlich. "Ich muss dir ehrlich sein: seit ich gelernt habe das Wunder in allem zu sehen, kann ich mir kein Paradies vorstellen, das schöner ist als dieses Leben."
 
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