Abrahams Irrtum

nanabosho

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Eine unglaubwürdige Geschichte

I
Abraham hatte sich geirrt. So furchtbar, so folgenschwer, dass er selbst im hohen Alter noch daran zu kauen hatte. Und niemand, weder Gott noch Mensch noch Engel noch Teufel konnte die Sache bereinigen, niemand. Niemand außer ihm selbst.
So etwas durfte einfach nicht passieren. Er hatte auch nie von einem ähnlichen Fall gehört, nicht einmal während der komplizierten Planungsphase um den Untergang von Lemuria und was danach kommen sollte. Weder die Osterinsel noch Hawaii waren ein Fehler gewesen, weder Mikronesien noch die Galápagos, von deren Überdauern beispielsweise Luzifer nur schwer überzeugt werden konnte.
Einfach so mir nichts dir nichts in die falsche Zeit einzutauchen und an den falschen Ort zu gelangen, dass hatte wahrlich noch keiner fertiggebracht. Nur er, Abraham; und es grauste ihn davor, ins Lichtreich zurückzukehren, wenn er sich vorstellte, wie sie alle über ihn lachen würden. Göttlich lachen oder zumindest homerisch, wie man das auf diesem Planeten gelegentlich nannte.
Ihm war nichts anderes übriggeblieben, als das Beste aus der ganzen Geschichte zu machen. Nun, da die wildesten und verwirrendsten Tage vorüber waren, saß er vor seinem Haus in der Sonne und fragte sich, ob er seine Aufgabe nicht vielleicht doch erfüllt hatte.
Seine Reise durch Zeit und Raum, sein Weg auf diesem verrückten Planeten hatte an einem Punkt begonnen, den man hier das Jahr Neunzehnhundertneunundzwanzig nannte. Am ersten Tag des Monats April. Das einzige Plus, das er für sich verbuchen konnte, war der Umstand, dass er nur wenige Tropfen von dem Vergessenselixier zu sich genommen hatte. Das im Lichtreich festgelegte Maß lag bei einer vollen Halbliterflasche, jedenfalls wenn man eine sogenannte Lebenszeit auf diesem blauen, beinahe kugelförmigen Chaosspielplatz verbringen wollte, wenn man in das Minuten-, Stunden-, Tage-, Wochen- und Jahreabenteuer eintauchte. Sie hielten es für das Beste, um den Leidensdruck für die Betroffenen gering zu halten, denn die Erde galt drüben als außerordentlich rückständig.
Wenigstens an dieser Stelle hatte er, Abraham, nicht mitgespielt. Allzu neugierig war er, und das Spiel hier zu erleben, ohne sich an seinen Hintergrund zu erinnern, ohne überhaupt den Plan zu verstehen, davor hatte er sich schlicht und einfach gefürchtet.
Als es zu spät gewesen war, den Irrtum zurückzunehmen, lag er als schreiender Säugling in einem alten Haus am Rande des schlesischen Städtchens Lauban. Vier Schwestern versammelten sich um sein Bett, hinter denen sich ein Vater mit strengen, verbissenen Zügen aufbaute. Die Mutter, an deren Brust er nach Nahrung suchte, war furchtbar erschöpft und glich eher einem bloßen Schatten als einem körperhaften Wesen. Und der Name, auf den er fortan hören sollte, lautete: Hans. Das klang dumpf und bedeutungslos und war der reinste Alptraum.
Noch während der Kleinkindjahre begriff er, dass er sich mit dem Nicht-vergessen-Trick keinen Dienst erwiesen hatte. Einerseits war das Lichtreich in ihm, die grenzenlose Liebe und die unvorstellbare Freiheit und Leichtigkeit des NICHTS, in das ALLES wiederum eingebettet war; andererseits aber saß er nun in einem düsteren, alptraumschweren Gefängnis, umgeben von Trübsinn, Enge und der dumpfen Vorstellung, es gebe nur armselige, blutig-grausige Vergangenheit und eine vielleicht ein wenig hellere Zukunft. Von Gegenwart wollte niemand etwas wissen, und selbst die kleinen Kinder, die noch einen Funken davon in sich trugen, wurden frühzeitig gezwungen, ihn zu leugnen, damit sie desto schneller abstumpften. Mit unverhohlenem Neid betrachtete er sie, denn sein Gedächtnis erinnerte sich. Und nicht nur das: Er wusste, was all denen bevorstand, die ihn hier umgaben, er kannte die Idee, den Prozess, den Fluss, das, was sie Schicksal nannten oder Verhängnis. Einzig die eigenen Abenteuer, die zu erleben er angetreten war, die blieben ihm verborgen. Ausgenommen von diesem Gesetz war niemand, so dass sogar, wenn einer seine Berufung einigermaßen kannte, sich nicht voraussehen ließ, ob es ihm gelang, ihr zu folgen.
Es war mehr, als Hans’ Kinderschultern tragen konnten. Nur ein Weg blieb ihm, um sein Inneres vor dem Außen zu schützen, dafür zu sorgen, dass niemand merkte, wer er war: Er durfte nicht erwachsen werden!
Die Eltern schöpften lange keinen Verdacht, obwohl er es der Mutter nicht leicht machte. Bereits im Alter von vier Jahren fügte er sich ständig Verletzungen zu, entwendete Messer aus der Schublade des klobigen Küchenschrankes und schnitt sich in Finger und Wade, oder er glitt auf einer der Treppenstufen aus und rollte schreiend nach unten. Zumeist benutzte Alma, seine Mutter, eine Art Allzweckmittel, um Schnitt- und Schürfwunden heilen zu lassen: eine tiefschwarze, ekelhaft riechende Salbe, die sie zwei- bis dreimal auf die betreffenden Stellen strich, und die die wundersame Eigenschaft besaß, alles Giftige und Schadenbringende an sich zu binden und den Patienten gewissermaßen zu reinigen. Von der Schwärze und dem Gestank der wundertätigen Paste war Hans reinweg fasziniert. Er merkte sich die Stelle, wo sie aufbewahrt wurde, und als eines Tages die Mutter das Haus verließ, nachdem sie ihm wieder eine Schnittwunde verarztet hatte, machte er sich ans Werk: Mit Hilfe eines Stuhls angelte er sich das kleine Glas von dem Wandbord, öffnete es, schnüffelte genüsslich am Inhalt und begann, die in blassem hellrot gestrichene Tür des elterlichen Schlafzimmers damit einzufärben.
I see a red door and I want it painted black, sang es in seinem In- neren, und ein eigentümlicher Rhythmus beflügelte sein Tun. No colors anymore I want them to turn black...1* Wohl hatte niemals jemand zu ihm in dieser Sprache gesprochen, doch er kannte sie trotzdem, denn sie passte zu den Reisenden, denen, die sich unterwegs fühlten so wie er selbst. Auch das Lied war schon immer da, aber hier auf dem Planeten Erde zählte man Zeit, und das hieß, sie würden noch etwa vierzig Jahre warten, bis sie es sangen, und viele mochten es auch dann nicht einmal singen wollen.
Obwohl Hans das wusste, focht es ihn nicht an. Stattdessen bestrich er alles, was in seine Reichweite gelangte, mit der schwarzen Reinigungssalbe: Teile des mütterlichen Nachtschränkchens, des Lakens, der Kissen, auch den Stuhl, den er selbst benutzt hatte und zu guter Letzt die Türschwelle.
Als das Glas leer und der kleine Künstler ausgesprochen zufrieden war, kam die Mutter zurück, erschrak heftig, schimpfte entsetzlich und begann mit verweintem Gesicht und einem Eimer Seifenwasser, die stinkende Farbe zu beseitigen.
Seltsamerweise schlug sie ihn nicht, und Hans fragte sich dumpf, ob sie ebenfalls heimlich wusste, was er so frech zur Ansicht gebracht hatte: dass die Welt, in der sie alle so um ihr Dasein kämpften, in Wahrheit schwarz war, finster, grauenerregend. Und stinkend. Jedenfalls im Vergleich zu einer anderen.
Vorsichtig beschloss er, sich noch ein paar Schritte in die Düsternis hineinzubegeben. Wenige. Vielleicht drei Schuljahre weit. Dann musste er aufpassen, dann durfte er nicht weitermachen. Nichts mehr lernen, nichts mehr verstehen. Damit sie nicht merkten, dass er zuviel wusste. Aber noch bevor man ihm den ersten Buchstaben des lateinischen Alphabets beibrachte, staunte er darüber, dass die Farbe, die aus der Mischung von Rot und Schwarz entstand, Braun genannt wurde.
Mit dem Schuleintritt empfand Hans die Schlinge deutlicher, die sich um seinen Hals zusammenzuziehen drohte. Er beschloss, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, endlich auf seinem Weg in die Welt der Gegensätze und der Feindschaft innezuhalten. So stand er zwei Schuljahre durch, blieb schließlich sitzen und verweigerte sich jedwedem Förderversuch seiner Mutter. Zu Beginn des Folgeschuljahres riet ihr der Schuldirektor unter vier Augen und im Flüsterton zu einem Ausbildungsverzicht.
Der Vater verhielt sich gleichgültig und verbot seinem Sohn nur gelegentlich den Ausgang, weil er fürchtete, wegen eines derart ungeratenen, behinderten Nachkommen ins Gerede zu geraten. Zudem standen die Zeiten auf Sturm. Ein Einwohner Großdeutschlands sollte nach Möglichkeit hochgewachsen, blond und blauäugig sein, und wenn es sich um einen männlichen handelte, standen diesem überdies beachtliche Muskeln gut an, unterstützt von brutalen Gesichtszügen. Mit einem wie Hans ließ sich wahrlich kein Staat machen.
Ängstlich und eifrig war die Familie bemüht, nirgends aufzufallen. Nicht einmal in die Kirche durfte der Junge neuerdings mit. Dafür war dieser ziemlich dankbar, tat so, als interessiere ihn das altbackene Christentum trotzdem und blätterte oft in der schweren Familienbibel, besonders wenn die Mutter oder mindestens eine der Schwestern zugegen waren. Die Zuschauer lächelten dann milde und geringschätzig, ließen ihn gewähren und meinten verständnisvoll: „Das verstehst du sowieso nicht, du unser kleiner dummer Hans.“
Ihn freute es indes, wenn sie „kleiner, dummer Hans“ zu ihm sagten, denn daran konnte er ablesen, was sie von ihm glaubten und sich sicher fühlen. In Wahrheit verstand er ungleich viel mehr als sie, und das, was ihm zu schaffen machte, las er heimlich: die Abra- hamsgeschichten im Ersten Buch Moses, Genesis genannt. Wie kam es, dass dieses Buch das vollständige Geschehen dessen beschrieb, das er selbst verfehlt hatte zu leben? Begebnisse, die über das planerische Konzept nicht hinausgekommen waren? Hier wurde so getan, als sei er, Abraham, völlig selbstverständlich dagewesen, habe auf diesem Planeten, der Erde, geweilt und den Ursprung mehrerer Völker gebildet. Als habe er ein Ritual wie die Beschneidung einge- führt, die nicht nur zum Erkennungsmerkmal der Juden, sondern auch der Anbeter Allahs geworden war. So als sei ein Irrtum ausgeschlossen, als gebe es nie einen Irrtum und werde auch in Zukunft nie einen geben. Aber tatsächlich wusste er ohne den Schatten eines Zweifels, dass er sich geirrt hatte.
Wieviel bequemer wären die Kinder- und Jugendtage inmitten einer reichen Hirtenfamilie gewesen, in jenem Ur Chaldäas? Reichtum, Kultur, Weisheit, Verbundensein mit fruchtbarer, Leben atmender Flusslandschaft, Umhegt- und Geliebtsein von mehreren Frauen. Dann die Stimme Gottes, die einfach so zu einem sprach, unvermittelt und klar. Wenn es da hieß Geh in ein Land, das ich dir zeigen werde! 2, da ging man eben, mit Kind und Kegel und einem Riesentross. Mitten durch die Wüste. Zweifel? Angst? Einem Abraham, dem Vater vieler Völker 3 fremd und verächtlich. Wie einfach wäre alles gewesen, wie leicht, wie überzeugend! Trotz der folgenden Irritationen, dem Zwischenspiel in Ägypten, der peinlichen Riva- lität, die die kinderlose Sarah gegenüber der Nachkommenschaft verheißenden Sklavin Hagar empfand, trotz des Untergangs von Sodom und Gomorrah.
Stattdessen nun daran zu denken, was in den nächsten Jahren bevorstand: Die wilde Judenhatz der Braunen, der selbstzerstörerische Krieg, der ungekannte Ausmaße erreichen sollte, dazu dann die Flucht oder der Wegtrieb Tausender aus ihren heimatlichen
Regionen. Das war nichts für einen verirrten Abraham, der noch nicht einmal den Kinderschuhen entwachsen war, der das vorerst auch gar nicht beabsichtigte!
Dieses idiotische Gehirn, dass er für sein Abenteuer mit auf den Weg bekommen hatte, reichte nicht aus, um die Erinnerung an die eine mit den Erfahrungen der anderen Welt zu verbinden. Es war zum Verrücktwerden! Wollte man versuchen zu ergründen, weshalb vor mehreren tausend Jahren ein Abraham hier war, der sich in Wahrheit verfehlt hatte und dummerweise erst viel später kam, setzte der Denkapparat aus. Der Menschenverstand konnte ZEIT nicht mit JETZT UND HIER verbinden, dafür war er überhaupt nicht ausgelegt. Vor allem, wenn man ihn um Antworten anging, wie Hans sie suchte.
Da beschied er sich und hörte auf, an der Sache herumzurätseln. Aber er lächelte herablassend, als sie ihn zu den Konfirmationsgottesdiensten der Schwestern mitnahmen, so dass er die Reden des Schwarzgewandeten auf der Kanzel hören konnte. Ein völlig Umnachteter, der von Farbe sprach, von ihr Behauptungen aufstellte, die keiner der vor ihm sitzenden Blinden zu widerlegen gewagt hätte. Schwarz lag am äußersten Rande des Lichtreiches, von dort aus war es unmöglich, bis zur Mitte zu sehen. Dieser Mensch, der so tat, als wisse er, hatte den Trunk des Vergessens bis zum letzten Tropfen geschlürft, und man sah ihm die Todesangst an, den Glauben an ein Phantom, das es nicht gab.
Die Dunkelheit nahm zu. Die braungekleideten Gewaltwesen, die Hans, der seine Abenteuer auf Mittelerde ebenfalls nicht vergessen hatte, manchmal an Orks erinnerten, donnerten mit ihren Stiefelabsätzen über die Straßenpflaster der Städte und huldigten unsinnigerweise Fahnen, auf denen Swastika prangte, das uralte indische Glückszeichen. Ihre Wut und ihr Hass war zunächst auf Juden gerichtet, doch wenn sie nicht genügend davon ausfindig machen konnten, wurde es auch für andere gefährlich.
Alma, Gotthard und ihre Kinder wohnten weitab von diesem Geschehen und vernahmen davon herzlich wenig. Trotzdem munkelten die Nachbarn dies und jenes, und deshalb wurde die Familie von einer unbewussten Furcht zernagt, setzte verstärkt auf Unscheinbarsein und tarnte sich unter dem Alltagsgrau. Die Töchter behielten markige Sprüche ihrer Schullehrer im Gedächtnis und
flüsterten mit ihren Eltern. Der missratene Sohn aber, der Dumme, durfte daraufhin nur noch selten ans Tageslicht, denn seine Erscheinung glich nie und nimmer dem germanischen Ideal.
Er verstand und widersetzte sich nicht.
.....


(Aus: Andreas H. Buchwald, SOMMERTRAUMS LIEBESLEBEN UND ANDERE ERZÄHLUNGEN - Leseprobe)
 
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Nochmals danke, magdalena,

ich wollte es nicht gleich schreiben (weiß nicht mal, ob ich es darf), aber vielleicht ist es doch gut: Das Ganze ist eine Art Familiensaga auf nur 100 Seiten mit dem "mythologisch-phantastischen" Effekt des Abraham. (Die Erklärbegriffe gelten nur für die Skeptiker.) Das heißt, der Zeitraum der Gesamterzählung geht bis kurz nach 1989. Sie soll eine neue Sicht auf Flucht und Vertreibung (möglicher Sinn) transportieren und ebenfalls eine neue auf die spätere Generationsspaltung (ab Ende der 60er Jahre)...
Das Buch, in dem die Erzählung eingeordnet ist, erschien 2007 in dem kleinen Engelsdorfer Verlag und wird z. Zt. eigentlich nicht mehr vertrieben (gibt nur noch Restexemplare, vielleicht übers Internet oder einige Buchhandlungen oder den Autor selbst).

Herzliche Grüße,
nanabosho
 
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