Weiterreise
Alturin hatte unnruhig geschlafen. Er fragte sich, ob dies an der ungewohnten Schlafstelle gelege hatte oder es einen anderen Grund gab. Alturin sass mit seinem Gastgeber beim Frühstück und sprach über den nächsten Teil seiner Reise. Als er seinen Tee ausgetrunken hatte, verabschiedete er sich und wollte gerade zur Tür hinaus, als die Frau des Dorfältesten ihn aufhielt. In einem kleinen Beutel hatte sie etwas Proviant für ihn eingepackt. "Dies ist für Deine Reise," sagte sie. Mit der anderen Hand hielt sie ihm einen kleinen Stein hin. "Und dies ist für eine sichere und erfolgreiche Reise, Alturin. Nimm ihn, er wird Dir Glück bringen. Vielleicht kannst Du es ja brauchen. Es ist ein Julgarit. Er ist von mir gesegnet." "Oh vielen Dank, gute Frau und vielen Dank auch für die Gastfreundschaft." Kurz darauf sass Alturin auf seinem Pferd und passierte den Dorfausgang.
Die Ebene von Julgat soll in alter Zeit ein See gewesen sein, auf dem zwei rivalisierende Magier, ein schwarzer und ein weisser, miteinander auf Leben und Tod gekämpft haben sollen. Am Ende schlug der weisse Magier den schwarzen Magier so heftig auf den Grund des Sees, dass er den Erdboden durchschlug und alles Wasser ins Erdreich abfloss. So geht die Legende. Es dämmerte bereits und Alturin erkannte in der Ferne die Umrisse von Anzum. Das Dorf war etwas grösser als das von Mikkel und lag an einem kleinen Wäldchen, dass dem Waldland vorgelagert war. Ein grosser Stein lag vor ihm mitten in der Ebene. Alturin vernahm Flügelschlag. Undra war im Anflug. Sie umkreiste ihn und setzte sich auf den Stein. Ihr Köpfchen wackelte hoch und runter. Alturin lächelte zufrieden. "Was würde ich nur ohne Dich machen Undra. Seit ewigen Zeiten begleitest und berätst Du mich und schaust nach sicheren Wegen," sagte Alturin. Undra wippte von einem Fuß auf den anderen. "Nun, ich sehe besser als Du, ich höre besser als Du und weiser als Du bin ich auch. Ich glaube, ohne mich wärst Du verloren, Alturin." Frech und neckisch reckte sie ihr Köpfchen nach vorne. "Ich glaube, da haben wir etwas gemeinsam, liebe Freundin," entgegnete Alturin. Die Erinnerung daran, dass er ihr einst das Leben gerettet hatte, stieg in ihr hoch und nahm ihr jedes weitere Argument.
Undra hob ab und flog voraus und Alturin setzte sein Pferd ebenfalls in Bewegung. Es war nicht mehr weit und bald erreichte er das grosse hölzerne Doppeltor der Ortschaft. Das Tor stand eigentlich immer offen, da man sich in friedlichen Zeiten befand. Der ganze Ort war von einem hohen Holzzaun umgeben, der an etlichen Stellen brüchig war und Löcher aufwies. Der Zaun stammte aus alter Zeit, als es hier nicht so friedlich zuging wie heutzutage. Es bestand deshalb auch keine Notwendigkeit, die schadhaften Stellen auszubessern oder zu reparieren. In Anzum hatten sich viele Handwerker niedergelassen. Schmieden, Gerbereien, Tuchmacher, Töpfereien und viele andere fand man hier vor und so hatte der Ort sich einen Namen gemacht, der viele Menschen von Ausserhalb anzog. Es waren ständig viele Fremde hier und deshalb gab es gleich mehrere Wirtshäuser im Ort, die auch Zimmer für die Fremden anboten. Das bekannteste und älteste jedoch war der "feurige Kessel." Er war Alturins erste Anlaufstelle.
Lärm drang ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Das Wirtshaus war gut gefüllt. Der typische Geruch dieses Gasthauses schlug ihm entgegen. Eine Mischung aus Essens-, Tabaks- und Alkoholgeruch. Hinzu kam der Geruch des Eichenholzes, aus dem das komplette Haus bestand. Und der Geruch einzelner Leute. Na ja, sie verströmten nicht alle den allerbesten Geruch..... In einer Ecke an einem Fenster sah er einen freien Platz und nahm dort Platz. Die zugequalmten Scheiben erschwerten den Blick nach draussen. Eine junge Frau erschien und fragte: "Seid gegrüßt, was darf ich Euch bringen?" Alturin entschied sich für ein Gemüsegericht und einen Tee. Von seiner Ecke heraus hatte er einen guten Überblick über die Gaststube. Mehrere Bedienstete liefen eilig hin und her und trugen Essen an die Tische und jede Menge Bierkrüge. Der Wirt machte gute Geschäfte hier, obwohl das Gasthaus den Ruf hatte, dass hier Schlägereien fast an der Tagesordnung waren. Das Inventar war nicht zum ersten Mal erneuert worden und manchmal flogen hier auch Stühle oder Bierkrüge durch die Luft. Es ging halt recht herzhaft zu im feurigen Kessel, aber das wussten die meisten und wer es nicht wusste, der lernte es eben kennen.
Alturin sah sich um. Es waren viele Fremde hier. An einem Tisch sah er drei Moniter sitzen. Sie waren im äussersten Süden zuhause, ihr Land grenzt bis an das grosse Meer. Eigentlich waren sie ein Seefahrervolk und Alturin wunderte sich ein wenig. An den beiden angrenzenden Tischen sassen Einheimische, größtenteils schon bierseelig und einer von ihnen hatte seinen Kopf auf den Tisch gelegt und schlief. Sein Essen kam. "Bitteschön, lasst es Euch schmecken, Herr," sagte die junge Frau. "Oh, dankeschön, dankeschön," erwiderte Alturin. Der Teller vor ihm quoll fast über. Dafür war der feurige Kessel bekannt. Es gab grosse Portionen und es schmeckte stets gut. Er hatte schon mehrfach probiert und hungrig machte er sich über seinen Teller her. Ganz schaffte er den Teller allerdings nicht. Ein Schluck Tee rundete sein Mahl ab.
Er blickte nach rechts und sah in einer Ecke einen Mann sitzen, der eine Kapuze trug. Dunkel gekleidet sah er etwas heruntergekommen aus. Er war ihm erst jetzt aufgefallen und sass vor einem Glas Wein und sah sich ständig verstohlen um. Alturin winkte die junge Frau heran und fragte sie, ob sie den Mann kenne. Sie verneinte dies, sagte ihm aber, dass er in der letzten Zeit einige Male hier gewesen sei und immer an diesem Tisch gesessen hätte. Einmal hätte er sich mit einem Mann getroffen, den sie nicht kannte. Alturin bat sie den Mann zu beschreiben, aber ausser an einen Oberlippenbart und einen fehlenden Ringfinger an der linken Hand konnte sie sich an nichts erinnern. Alturin bedankte sich, bezahlte und gab ein grosszügiges Trinkgeld. Er blickte wieder zu dem Mann herüber.....er war weg! Wie konnte das sein? Er hatte ihn nicht rausgehen sehen. Alturin sah sich in der Gaststube um, aber der Mann war verschwunden.
Er verliess den feurigen Kessel und trat vor das Haus. "Alturin!", rief eine Stimme. Alturin drehte sich um. "Bengolf, mein alter Freund." Weit breitete Alturin seine Arme aus. Ein grauhaariger Mann mit langem Bart schloss Alturin lachend in seine Arme. Sein wallender grauer Umhang hatte seine besten Tage schon lange hinter sich und sah recht abgegriffen aus. "Was um alles in der Welt treibt Dich nach Anzum, Alturin?", fragte Bengolf. "Ich bin auf der Suche nach Antworten, Bengolf. Es gehen seltsame Dinge vor. In einem kleinen Dorf sind zwei Lichtmagier während eines Rituals spurlos verschwunden. Sie hinterliessen einen kleinen Sohn, den ich zu Hatora gebracht habe. Sie bat mich Informationen einzuholen und der Sache auf den Grund zu gehen. Der Junge ist drei Jahre alt und hat aussergewöhnliche Fähigkeiten. Er ist seinem Alter körperlich und geistig weit voraus." "Erzähl' mir mehr, Alturin," bat Bengolf.
Sie gingen an einen ruhigen Platz am Rande des Dorfplatzes und nahmen auf einer Bank unter einer alten Ulme Platz. Hier erzählte Alturin Bengolf die ganze Geschichte. Bengolf war bestürzt. "Es gehen seltsamen Dinge vor in diesem Land, Alturin. Ich habe mich im letzten Jahr in den Sternenwald vorgewagt und wollte mich an den abgeworfenen Blättern gütlich tun. Du weisst, kurz bevor man sie aufnehmen und verarbeiten kann, haben sie eine ungeheuere Verjüngungskraft, wenn man sich komplett mit Ihnen bedeckt. Meine alte Verletzung aus der Schlacht von Zirza machte mir etwas zu schaffen und ich erhoffte mir Linderung. Ausserdem dachte ich mir, dass mir ein- oder zweihundert Jahre weniger in meinem Gesicht ganz gut stünden. Nur gab es ein Problem. Die Blätter waren nicht mehr da. Alle eingesammelt, weit vor der Zeit. Ich glaube da hat jemand etwas Übles vor, wenn Du mich fragst." "Ich weiss um die guten Eigenschaften der Blätter - auch um die Schlechten," antwortete Alturin. "Ich werde Hatora davon berichten, sie muss es unbedingt wissen."
"Was hast Du nun vor alter Freund," fragte Bengolf. "Nun, ich werde den Rest des Tages noch nutzen, um mich hier im Ort umzusehen und umzuhören, vielleicht erfahre ich noch etwas. Morgen früh werde ich dem Sternenwald einen Besuch abstatten, um mir selbst einen Eindruck zu verschaffen. Danach reite ich zurück, um Hatora Bericht zu erstatten. Und Du? Wohin führt Dein Weg?" "Mein Weg führt mich an dem Dorf vorbei, von dem Du gesprochen hast und ich denke gerade, dass ich einen kleinen Abstecher dorthin machen könnte. Vielleicht fällt mir noch etwas auf, dass uns nützen könnte, was meinst Du?" "Eine gute Idee," antwortete Alturin. "Ja und dann..... dann könnte ich Hatora besuchen, ich habe sie bestimmt schon fünfzig Jahre nicht gesehen. Wir könnten uns dort treffen und beratschlagen, was zu tun ist. Wie geht es ihr eigentlich?" "Oh, es geht ihr sehr gut und sie erfreut sich bester Gesundheit. Und ihr Äusseres und ihre Weisheit sind unglaublicherweise noch weiter erblüht." Bengolf wusste um die grosse Zuneigung, die Alturin für Hatora empfand und manchmal hatte er den Eindruck, als hätte Alturin sich vor langer Zeit schon sehr in sie verliebt. "Dein Vorschlag gefällt mir gut Bengolf. Dann lass uns in ein paar Tagen bei Hatora zusammentreffen." Sie verabschiedeten sich voneinander und Alturin verbrachten den restlichen Tag damit, sich noch weiter umzusehen, fand aber nichts Wesentliches mehr heraus. Bengolf hatte sich bereits aufgemacht zum Dorf des kleinen Mikkel.
Am nächsten Morgen ritt Alturin bereits kurz nach Sonnenaufgang los. Kaum hatte er den Ort verlassen, flog Undra dicht über seinem Kopf hinweg in Richtung Sternenwald, um die Gegend zu erkunden. Alturin hatte Proviant für fünf Tage dabei. Es sollte reichen, bis zu seiner Rückkehr in die Kristallstadt. Er freute sich schon darauf, den kleinen Mikkel wieder zu sehen. Dann sah er die Ausläufer des Waldes. Undra kreiste vor den ersten Baumreihen und schien auf ihn zu warten. Als er dort eintraf, wippte sie mit ihrem Kopf nach links und rechts. Das war kein gutes Zeichen. "Was ist los Undra?, fragte Alturin. "Undra muss Dich warnen, Alturin. Kein guter Ort hier. Etwas Dunkles hat sich des Waldes bemächtigt. Halte Deine Sinne stets geschärft." Dann hob sie ab und flog voraus. Alturin drehte sich nach allen Seiten um und ritt dann in den Wald hinein. Seine Sinne waren geschärft und sein Körper angespannt. Langsam bewegte er sich vorwärts. Bisher war ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Aufmerksam ritt er weiter und beobachtete jeden Winkel des Waldes.
Doch etwas war ihm entgangen........
Er wurde bereits beobachtet.......
H.A. - hier genannt Tolkien