Volksaufstand: das Ende der Legenden
Der Tag der Befreiung ist da, die Regierung ist weg, die Tyrannei hat ein Ende! Parolen wie diese bedeuteten in der DDR Lebensgefahr. Dennoch jubelten auf dem überfüllten Marktplatz von Bitterfeld 50000 Menschen, als Paul Othma diese Sätze in die Menge rief. Der 48-jährige Elektromonteur stand auf dem Anhänger eines Traktors, Mikrofon und Lautsprecher übertrugen seinen Appell am 17. Juni 1953 über den Stadtfunk auf die umliegenden Straßen und Plätze. Freie Wahlen verlangte Othma, Senkung der Arbeitsnormen und der Einzelhandelspreise, Freilassung der politischen Gefangenen.
In Leipzig ließ der Stadtkommandant drei Protestierer standrechtlich erschießen. In Magdeburg streckten Rotarmisten drei deutsche Zivilisten in der Nähe des Polizeipräsidiums nieder. In Delitzsch, nahe Leipzig, richteten Polizisten einen 19-jährigen Lehrling und einen 20-jährigen Maurer durch gezielte Kopfschüsse hin. Als Demonstranten in Halle das Frauengefängnis in der Kleinen Steinstraße stürmten, feuerten Soldaten der Kasernierten Volkspolizei in die Menge. Zwei Protestierer starben. Später erschossen Polizisten fünf Demonstranten im berüchtigten Hallenser Zuchthaus Roter Ochse.
Während die Justiz Tausenden von verhafteten Demonstranten den Prozess machte der mutige Paul Othma aus Bitterfeld büßte seine Tat mit zwölf Jahren Zuchthaus -, ereilte ein DDR-typisches Juristenschicksal den zuständigen Minister Max Fechner. Der hatte am Vorabend des Juni-Aufstands dem Neuen Deutschland ein verhängnisvolles Interview gegeben: Es dürfen nur solche Personen bestraft werden, die sich eines schweren Verbrechens schuldig machen. Andere Personen werden nicht bestraft. Das trifft auch für Angehörige der Streikleitung zu. Tage später reichte er nach: Das Streikrecht ist verfassungsmäßig garantiert. Walter Ulbricht tobte: Ist der Kerl verrückt?
Am 14. Juli 1953 schloss das Politbüro Fechner aus der Partei aus, setzte ihn als Justizminister ab und ließ ihn in Untersuchungshaft bringen. 1955 verurteilte ihn das Oberste Gericht der DDR zu acht Jahren Zuchthaus wegen Boykotthetze. Zu seiner Nachfolgerin bestimmten die SED-Machthaber die berüchtigte Hilde Benjamin. Als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts hatte sie in zahlreichen Schauprozessen Schrecken verbreitet, an Todesurteilen mitgewirkt. Gnadenlos zeigte sie sich auch in ihrem neuen Amt: Als das Bezirksgericht Magdeburg den 42-jährigen Ernst Jennrich wegen Boykotthetze und Terror zu lebenslänglicher Haft verurteilte, befahl die Rote Hilde Benjamin ohne Wieder-holung der Beweisaufnahme die Todesstrafe. Für einen Mord an einem Polizisten, den Jennrich nachweislich nicht begangen hatte, starb er unter dem Fallbeil.
Die Toten und Verletzten
Getötet
Mindestens 20 Aufständische wurden bei Demonstrationen und Gefangenenbefreiungen erschossen (ohne Berlin). Auch sechs Polizisten kamen ums Leben.
Verwundet
Mindestens 41 Protestierer und 373 Polizisten (keine Angaben für Berlin) wurden durch Schusswaffen verletzt.