Wie ich aus Versehen mit der Transsibirischen Eisenbahn fuhr

Ich habe "meine" in Anführungszeichen gesetzt, um anzuzeigen, dass diese Kirche nicht mir gehört.
Ich habe jene Kirche im Jahre 2003 durch Zufall entdeckt, als sie noch eine Baustelle war.
Das habe ich in einer andern meiner Geschichten damals beschrieben.
Wenn diese Geschichte hier zu Ende ist, kann ich jene andere Geschichte viellicht auch noch hier posten.
 
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Nach dem Kirchenbesuch stand mir der Sinn nach währschaftem russischen Essen und Trinken. Ich suchte "mein" schönes Restaurant von damals, von 2003. Und ich fand es auch.

Doch - es war geschlossen. Total geschlossen. Nicht nur gerade, weil es Ruhetag oder Betriebsferien hatte, sondern weil es aufgegeben worden war.

Ein Opfer des Umstellung auf die "neue Zeit" - wie auch der Kulturpalast schon damals ein Opfer gewesen war.

Schade ....

So aß und trank ich irgendwo an einer Imbiss-Bude am Straßenrand - und wartete dann auf den Bus zum Bahnhof.

Dauernd fuhren irgendwelche privaten Sammeltaxis vor.

Ich aber habe noch aus Bauernzeiten eine instinktive Abneigung gegen Taxis.

Ein Taxi ist für mich immer noch ein Luxus für Super-Reiche. Um nicht zu sagen: Für doofe Angeber. Ich weiß, dass das übertrieben gedacht ist.

Anyway, ich blieb standhaft und wartete am Platz vor dem ehemaligen Kulturpalast treu auf "meinen" Bus.

Und während dieser Wartezeit kam ich in den zweifelhaften Genuss einer der anderen zweifelhaften Segnungen des Neo-Kapitalismus ......
 
Und das war die "Segnung": Auf diesem schönen Platz - mitten in der schönen Mitte des schönen Kungar, stand eine riesige elektronische Werbetafel.

Ständig zuckten grelle Bilder darüber hin - und ein Lautsprecher beschallte den Platz mit überlauter Werbung.

Schwer erträglich - eigentlich unerträglich.

Ich dachte: Wenn der Kapitalismus nix Besseres weiß, als diesen schönen Platz so zu verschandeln ... dann .... ja, was dann?
 
Der Bus zum Bahnhof erlöste mich schließlich ....

Und am Bahnhof angekommen, hörte ich auf dem Bahnsteig vertraute Laute.
Nein, kein mittelbadisches Alemannisch.
Aber wasch-echtes britisches Englisch.

Eine Begnung der dritten Art in Vor-Sibirien.
Fast wie bei Henry Morton Stanley und David Livingstone ....
 
Ich erzähle weiter:

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Wie schon gesagt: Am Bahnhof angekommen, hörte ich auf dem Bahnsteig vertraute Laute: Waschechtes Britisch.

Obwohl ich ja nun ein Alemanne aus dem Schwarzwald bin, wurde mir ganz heimatlich zumute.

Wer waren diese Leute? Eine bunte Truppe aus verschiedensten Ländern: Engländer, Australier, US-Amerikaner, und auch zwei Deutsche, die in Irland wohnen.

Die Leitung der Truppe hatte in Chinese aus den USA.

Es war eine Reisegruppe auf Abenteuer-Urlaub.

Wie sie mir dann erzählten, waren sie in China gewesen, wo es am chinesischsten ist, und in der Mongolei, wo sie am mongolischsten ist. Und nun auf dem Weg von der Mongolei nach Sankt Petersburg hatte die Londoner Firma, bei der sie ihre Reise gebucht hatten, ihnen Kungur als Etappenziel gegeben. Denn Kungur sei eben noch weitgehend vom Tourismus unberührt. Russland, wo es am russischsten ist.

Sie waren also um die halbe Welt herum nach Kungur gekommen, und ich war eben mal quasi mit der Straßenbahn von Perm hierhergefahren.


Nun warteten sie hier nach einem Tag Aufenthalt am Bahnhof auf ihren Zug. Doch damit war irgendwas nicht in Ordnung. Ihr Zug hatte Verspätung, und sie wussten nicht genau, wann er denn nun käme.

Ich fragte, ob ihr Zug auf dem Weg nach Sankt Petersburg denn wohl auch in Perm Station mache. Sie vermuteten, dass Ja!

Also plante ich, mich ihnen eben einfach anzuschließen, wenn ihr Zug dann irgendwann in Kungur ankommen würde.

Mit der kleinen Ungewissheit, ob der Zug mich nicht womöglich dann zwangsweise nach Moskau und Sankt Petersburg entführen würde .....
 
Unser Gespräch wurde unterbrochen durch eine Lautsprecher-Ansage.

Ein Zug fuhr ein ....

Es war der Zug, auf den die Abenteurer und Weltenbummler gewartet hatten.

Alles rannte los und auf den Bahnsteig - und ich hinterher.

Schon gleich beim Einsteigen war da ein Schaffner, der sofort alle Fahrkarten kontrollierte.

Meine Vorgänger ließ er problemlos passieren.

Bei mir aber legte er die Stirn in Falten und schaute finster.

"Was für eine Fahrkarte ist DAS DENN? Solch eine Fahrkarte habe ich noch nie gesehen! Kenn ich nicht! Kenn ich nicht! Ich weiß nicht, was ich mit dieser Fahrkarte anfangen soll ...."

So sagte er sinngemäß.

Und dann forderte er mich auf, ins Dienst-Abteil mitzukommen.

Die Worte jenes Engländers kamen mir wieder in den Sinn, die ich vor Jahren mal gelesen hatte:

"Die Viehwaggons nach Sibirien fahren jede Stunde - pünktlich zur vollen Stunde ...."

Aber noch war ich ja nicht in einem Viehwaggon, sondern in einem Personenzug, und der fuhr NICHT nach Sibirien, sondern KAM gerade aus Sibirien - und fuhr gen Westen ....
 
Der Schaffner hatte mich also in sein Dienstabteil gebeten.

Ich nahm irgendwo in dem Chaos dort Platz und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

Der Schaffner fragte als erstes: "Tee?"

Ich kombinierte: Nun will er mir sicher alle möglichen Sachen andrehen, zu überteuerten Preisen, und erwartet, dass ich zu allem Ja und Amen sage, um ihn günstig zu stimmen. Darauf will ich mich mal gaaaaar nicht einlassen ....

Freundlich und mutig lehnte ich den Tee ab.

Er erriet wohl meine Gedanken, denn er sagte:

" .... nein ....... Tee ...... Freund ......."

Genauer: Im Original sagte er es auf englisch: " ..... no ...... tea ....... friend ......."

Es war also als echte Einladung gedacht.

Da nahm ich den Tee gerne an .... und vermutete, dass das dienstliche Verhör so schlimm nicht werden würde.

Und ich hatte richtig vermutet.
 
Dann sagte der Schaffner etwas Erstaunliches: Er habe noch NIEMALS mit einem Ausländer geredet!

Wie das denn, als Schaffner in der Transsibirischen Eisenbahn?

Er meinte es eben so: Noch nie ein privates Gespräch mit einem Ausländer geführt. Nur eben Fahrkarten kontrolliert, und so.

Für ihn war es eine Premiere.

Und für mich auch, sozusagen.

Und er sprach ein recht gutes Englisch. Von Beruf war er Hochschul-Lehrer für Informatik an einer Uni im Fernen Osten. Im Fernen Osten Russlands, heißt das.

Irgendwo an der chinesischen oder mongolischen Grenze.

Aber Lehrer sind in Russland so katastrophal unterbezahlt, dass er sich nun als Schaffner besser stellte.
 
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So erlebte ich zwei echt nette Stunden mit Tee und interesanten Gesprächen. Iwan - so hieß mein Schaffner, erzählte mir fast sein ganzes Leben - und ich hörte aufmerksam zu.

Und er sagte, es sei ein Glück, dass ich gerade in seinen Wagen eingestiegen sei.

Der Schaffner vom Nachbarwagen sei ein scharfer Hund - da hätte ich als Schwarzfahrer wohl Hunderte von Rubel nachzahlen müssen.
 
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