Wie ich aus Versehen mit der Transsibirischen Eisenbahn fuhr

Mellnik

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Wie ich aus Versehen mit der Transsibirischen Eisenbahn fuhr

Es war im Juni 2003 gewesen, als ich schon einmal mit dem Zug von Perm nach Kungur und zurück gefahren bin.

Gerne erinnere ich mich noch an jene Fahrt.

Damals hatte ich miterlebt, wie eine Kirche wieder hergestellt wurde. Nun war ich gespannt, was aus dieser Kirche wohl geworden war. Mir war es, als würde ich alte Freunde wiederbesuchen in Kungur.

Nina - meine damalige Gastgeberin - hatte mich damals nur ungern mit dem Zug nach Kungur fahren lassen. Es sei zu gefährlich, hatte sie gemeint. Aber mir war nichts Schlimmes geschehen - im Gegenteil.

Meine Gastgeberin des Jahres 2011 hatte diese Bedenken nicht.

Frühmorgens ging ich also zum Bahnhof, um mir redlicherweise eine Fahrkarte zu kaufen nach Kungur und zurück. Dieses Detail soll später noch wichtig werden ...

Es war dann nicht leicht, das rechte Gleis zu finden.

Aber eine freundliche Russin, die ich danach gefragt hatte, begleitete mich dann den ganzen langen Weg dahin. Sie konnte weder Deutsch noch Englisch, und ich fast kein Russisch. Und dennoch unterhielten wir uns gut.

Ich denke noch immer gerne daran.


Überhaupt habe ich Russen im Alltag fast nur freundlich erlebt - ganz im Gegensatz zu dem Klischee.

Und so bestieg ich schließlich die "Elektrische" nach Kungur - die Nina damals immer "Vorortzug" genannt hatte.

Do swidanja!
 
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Nach zwei Stunden kam ich am Bahnhof von Kungur an.

Schon zuvor hatte ich das Objekt meiner Begierde vom dem Zugfenster aus bewundern können:
Kirchen mit goldenen Kuppeln.

Den Bahnhof samt Wartehalle und Vorplatz erkannte ich sofort wieder - und fühlte mich wie daheim.

In einem kleinen Laden dort versorgte ich mich mit Essen und Trinken -
ein paar Kekse davon hab ich heute noch als eiserne Ration!

Dann suchte ich nach einem Bus zur Innenstadt.
Dieses Mal wollte ich nicht zu Fuß durch die russischen Wäldern gehen.

Ein Bus fuhr auch bald vor - aber war es der richtige?
Ich stieg so halb ein - und sagte in fragendem Ton: "Kungur?"

Und in diesem Moment schlossen sich die Türen automatisch hinter mir. Ich war gefangen!

Der Bus fuhr los ....

Wohin? Nach Wladiwostok? Nach Komsomolsk oder nach Chabarowsk? Wenn nicht gar am Ende noch nach Aleksandrowsk-Sachalinskij?

Man wird sehen. :)
 
Der Bus setzte sich in Bewegung - und fuhr schon gleich mal in die falsche Richtung - vom Zentrum der Stadt weg.

Er umkreiste die Stadt äußerst tangentiär - im umgekehrten Uhrzeigersinne.
Zum Greifen nahe sah ich ständig die glorreichen Kirchen mit ihren goldenen Kuppeln - und kam doch nicht hin.

Wobei ich die ganze Zeit im Stehen mit dem Kauf einer Fahrkarte beschäftigt war.
Ich hatte dem Fahrer einen eher kleinen Schein auf das Holzbrett neben ihm gelegt, und er gab mir eine unendliche Zahl von Münzen heraus.
Ein ehrlicher Mensch, dieser Fahrer!

Und die ganze Zeit überlegte ich, wo er wohl hinführe, dieser Fahrer.
Würde er die Stadt völlig umrunden - in einem Kreis von 360 Grad?
Würde er irgendwann mal links abbiegen - Richtung Innenstadt?

Oder würde er irgendwann mal rechts abbiegen - in die Unendlichkeit der Wälder Sibiriens?
Was tat er?
Wer Murphy kennt, der kennt auch die Antwort.
Der wackere Fahrer bog rechts ab ....
 
Der Bus fuhr also nach rechts - und hielt! Endstation! In einer recht gesichtslosen Vorstadtsiedlung.

Dass es eine Endstation war, das merkte ich daran, dass eine russische Frau mich aus dem Bus zerren wollte - immer hilfreich, wie die russischen Babuschkas so sind.

Doch ich widerstand tapfer ihrer zerrenden Hand.

Nun stellt sich die Frage: Was wäre geschehen, wenn nicht eine alte alte Babuschka mich zu den Wonnen der Vorstadt hätte zerren wollen, sondern eine jener jungen hübschen Frauen, an denen in Russland kein Mangel ist?

Ob ich dann auch die Kirchen mit ihren güldenen Toren und Türmen vorgezogen hätte?
Doch ist dieses eine rein akademische Frage - ein Problema - wie man so sagt.
Und so werden wir nie die Antwort wissen ...
 
Nach einer Weile tat der Bus das, was ich erhofft hatte:
Er setzte sich wieder in Bewegung - zurück zum Bahnhof.

Ich kratzte all mein Russisch zusammen, und sprach den Fahrer an in dieser Weise:
"Autobus ..... Zentrum Kungur ..... bitte?"

Ganz langsam und deutlich und bedächtig. Und kyrillisch natürlich. :

Als Antwort deutete der Fahrer schweigend auf seinen eigenen Bus! Erwünscht!

Und tatsächlich!
Der Bus fuhr dann erst zum Bahnhof, und danach zu den Kirchen mit den goldenen Kuppeln!

Ich war von Anfang an im richtigen Bus gewesen!
 
Irgendwie kommst du aus ,,Versehen,, oft an dein Ziel, oder an Orten, die auf eine Art ,,beeindrucken,,. Es kommt mir so vor als ob dich was ,,fremdes,, führt. Orthodoxen Kirchen sind wunderschön zu bestaunen. Sie sind mit viel Kunsthandwerk geschmückt und haben viele schöne Ikonen an der Wänden. Ich kann mich noch erinnern, als Kind hielt ich mich oft in Kirchen auf und war fasziniert von Ihrer Schönheit, nicht zuletzt von diese angenehme Ruhe.
 
Orthodoxen Kirchen sind wunderschön zu bestaunen. Sie sind mit viel Kunsthandwerk geschmückt und haben viele schöne Ikonen an der Wänden. Ich kann mich noch erinnern, als Kind hielt ich mich oft in Kirchen auf und war fasziniert von Ihrer Schönheit, nicht zuletzt von diese angenehme Ruhe.

Das ist wohl wahr! :)
Mir geht es auch so in schönen Kirchen. :)
Und in meiner Geschichte werde ich noch erzählen, wie ich eine russisch-orthodoxe Kirche in Kungur besucht habe, zu der ich eine ganz besondere persönliche Beziehung habe. :)
 
Der Bus brachte mich nun ins Zentrum von Kungur.
Dort hatte sich einiges verändert, aber ich erkannte alles wieder.

Erinnerungen an das Jahr 2003 wurden wach.
Kungur erschien mir seltsam vertraut, wie ein Home from Home.

Und dann besuchte ich "meine" Kirche. (y)
 
Es war ein seltsames Gefühl, als ich "meine" Kirche schon von weitem wieder-erkannte, und dann auf sie zu ging. Fast so, als ginge ich nach Hause - a home from home, wie der Engländer sagt.

Und als ich die Kirche betrat, war ich fast zu Tränen gerührt, geb ich zu .....

Die Kirche hatte sich im Innern sehr verwandelt. Aus der dunklen Baustelle war eine goldstrahlende Pracht geworden!

Immer wieder kamen Gläubige andächtig herein, beteten, und gingen nach einer Weile wieder.

In Gedanken sagte ich mit einem gewissen Stolz zu ihnen: "Ja, schaut mal, was aus meiner Kirche geworden ist! Ich habe sie noch als Baustelle gekannt!"

Den Priester und den Kirchen-Vorsteher traf ich nicht wieder. Vielleicht beim nächsten Besuch?

Doch nach dem Verlassen der Kirche hatte ich ein déjà-vu. Aus dem benachbarten Gemeindehaus kam so nach und nach eine Schar junger Frauen, die dann noch bei der Kirche herumstanden und plauderten.

Meine "Schaufelmädchen" von damals!

Natürlich waren es nicht in Person die gleichen Mädchen, die damals 2003 mit Schaufeln im Innern der Kirche zugange gewesen waren.

Es waren ja acht Jahre vergangen inzwischen.

Aber sie hätten es sein können.

So gab es nun doch noch nach all den Jahren eine Art Wiedersehen der dritten Art!
 
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