Vom Willen der Toten

sadariel

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Vom Willen der Toten - Teil 1

Eigentlich lief alles nach Plan. Die Studienreise war erfolgreich beendet und ich verbrachte die Tage damit, den Bericht über die potentiellen Einsatzmöglichkeiten von Bewässerungsanlagen in von Desertifikation betroffenen Wüstengebieten zu schreiben.

Es war mittlerweile August, und ich war nun schon seit fast einem halben Jahr wieder zurück in der Schweiz, da geschah etwas, was mein Leben nachhaltig verändern sollte: eines Morgens erwachte ich mit einer Depression.

Überwältigt von diesen Gefühlen griff ich zum Hörer und wählte die Nummer eines Freundes. Martin war Krankenpfleger und hatte in seinem Beruf schon einiges erlebt…
 
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Er hörte mir aufmerksam zu und grummelte irgendwas in den Bart hinein. Ein wenig seltsam käme es ihm vor, aber ich solle erstmal zwei Wochen Urlaub machen und mich medizinisch durchchecken lassen, vielleicht sei ich auch bloss etwas überarbeitet.

In den folgenden Wochen ging es mir nicht besser, sondern es kamen immer neue Symptome dazu. Der aufgesuchte Doc schüttelte nur ratlos den Kopf, als ich ihn nach dem Befund fragte. Körperlich, so meinte er, gäbe es keine Ursache für diese Symptome.

Ich verkroch mich zu Hause und fühlte mich völlig entkräftet, als ob kein Lebensfunke mehr in mir wäre. Der Schlaf war durchzogen von wirren Träumen.
Als Martin sich erneut nach dem Befinden erkundigte, und ich ihm von all den wirren Träumen erzählte, hiess er mich Sachen für drei Tage zu packen und dann auf ihn zu warten. Ich sei wohl ein Fall für Frau Meyer, meinte er zum Abschied.

Da ich keine Kraft für Fragen oder Diskussionen hatte, willigte ich ein und packte paar Sachen. Ob die Fachkraft nun Müller oder Meyer hiess, war mir auch ziemlich egal.
Martin erschien pünktlich, schnappte sich meine Tasche und packte sie in sein Auto. Dann setzte er mich auf den Beifahrersitz, und wir fuhren wortlos in Richtung Zürich, wo er stillschweigend ein Quartier am Stadtrand anfuhr und vor einem kleinen Häuschen anhielt.

„Frau Meyer erwartet dich“…
 
Ich nickte nur und stieg wortlos aus dem Auto aus.

Die Türe stand offen und ein Pfeil wies auf die Praxis im ersten Stock hin. Ich schleppte mich die Holztreppe hinauf und setzte mich erschöpft in das Wartezimmer. Dann schloss ich die Augen und schlief ein.

Geräusche im Gang weckten mich langsam wieder auf. Frau Meyer war dabei, einen Patienten zu verabschieden und betrat sodann das Wartezimmer, um mich abzuholen. Ich sah in die hellen Augen einer kleinen, unauffälligen Frau um die sechzig, rappelte mich auf und folgte ihr in Richtung Behandlungszimmer.

Beim Betreten des Zimmers wurde ich schlagartig hellwach. „Wo hat mich der Martin bloss hingebracht?“ durchfuhr es mich, als ich mich in diesem Zimmer umsah. Auf der einen Seite des Raumes stand da eine lebensgrosse Figur irgend eines Heiligen, an der gegenüberliegenden Wand hingen Schriftrollen mit unbekannten Schriften und dazwischen diverse verbleichte Tierposter, wie man sie von Teenagerzimmern kennt. Getoppt wurde die skurille Szenerie durch einen süsslichen Geruch in der Luft.

Meine Stirn krauste sich beim Blick auf den Tisch, vor welchem ich mich hinsetzten sollte.

Nein, so sah eine normale Praxis definitiv nicht aus…
 
Ich nickte nur und stieg wortlos aus dem Auto aus.

Die Türe stand offen und ein Pfeil wies auf die Praxis im ersten Stock hin. Ich schleppte mich die Holztreppe hinauf und setzte mich erschöpft in das Wartezimmer. Dann schloss ich die Augen und schlief ein.

Geräusche im Gang weckten mich langsam wieder auf. Frau Meyer war dabei, einen Patienten zu verabschieden und betrat sodann das Wartezimmer, um mich abzuholen. Ich sah in die hellen Augen einer kleinen, unauffälligen Frau um die sechzig, rappelte mich auf und folgte ihr in Richtung Behandlungszimmer.

Beim Betreten des Zimmers wurde ich schlagartig hellwach. „Wo hat mich der Martin bloss hingebracht?“ durchfuhr es mich, als ich mich in diesem Zimmer umsah. Auf der einen Seite des Raumes stand da eine lebensgrosse Figur irgend eines Heiligen, an der gegenüberliegenden Wand hingen Schriftrollen mit unbekannten Schriften und dazwischen diverse verbleichte Tierposter, wie man sie von Teenagerzimmern kennt. Getoppt wurde die skurille Szenerie durch einen süsslichen Geruch in der Luft.

Meine Stirn krauste sich beim Blick auf den Tisch, vor welchem ich mich hinsetzten sollte.

Nein, so sah eine normale Praxis definitiv nicht aus…

Scheint eine interessante Geschichte zu werden. :)
 
weiter geht’s mit der Erzählung vom Willen der Toten:

“Keine Sorge, das haben wir gleich“, unterbrach Frau Meyer meine Gedanken.
Obwohl ich daran zweifelte, wie sie denn aus diesem Chaos mal eben einen Praxisraum machen wollte, folgte ich ihrer Aufforderung und setzte mich auf den mir zugewiesenen Sessel.
Er war überraschend bequem und ich zu kraftlos, um mich gegen dieses offensichtliche Missverständnis zu wehren.

Frau Meyer zog einen Drehstuhl heran und setzte sich vor mich hin. Sie betrachtete mich eine Weile eindringlich, als ob sie irgendwas suchen würde, sagte jedoch kein Wort.

Dann kehrte sie mir kommentarlos den Rücken zu, drehte sich zum Tisch und fing an, leise vor sich hin zu murmeln und dabei leicht hin und her zu wippen.

Etwas verwundert hebte ich mich leicht aus dem Sessel auf, blickte über ihre Schultern und sah, wie sie eins von acht herumliegenden Pendel in die Hand nahm…
 
Frau Meyer murmelte noch eine Weile vor sich her, bevor sie sich, mit einem anderen Pendel in der Hand, wieder zu mir drehte und nun endlich ihr Schweigen durchbrach:
“Da ist eine verstorbene Frau bei Ihnen, deren Wille es ist, dass Sie sich um ihre drei Kinder kümmern. Wissen Sie, von wem ich rede?“

Ich durchkämmte in Gedanken meinen Bekanntenkreis und schüttelte den Kopf.

“Doch, doch. Sie kennen die Frau und die ganze Familie. Und die Kinder mögen sie wirklich sehr. Die Verstorbene ist sehr überzeugt davon, dass Sie ihre Nachfolge als Mutter und Ehefrau antreten sollen!“

Frau Meyer wirkte so überzeugt und mitreissend, dass ich mich nun ernsthaft fragte, ob ich während meines langen Auslandaufenthaltes etwa einen Todesfall in der Verwandtschaft verpasst haben könnte. Aber wer sollte das gewesen sein?

Meine Grübelei wurde von einem wild umherwirbelnden Pendel direkt vor meinen Augen unterbrochen. Frau Meyer hielt das Pendel fest in der Hand und murmelte wieder jede Menge unverständlicher Worte.

Als sie damit fertig war, erklärte sie mir, dass sie die Seele der Verstorbenen nun aus mir heraus gezogen und ins Licht gebracht hätte. Sie vergewisserte mir, dass es der Verstorbenen jetzt gut gehen würde und dass es nun auch mir schon sehr bald wieder gut gehen würde.

Als ich kurze Zeit später (und um einen weiteren Haufen seltsamer Geschichten und Erfahrungen reicher) die Praxis verliess und die Treppe hinunter hüpfte, bahnte sich ein lautes Lachen durch meine Kehle.

Ich fasste mir ungläubig an den Kopf. DAS musste ich unbedingt dem Martin erzählen…
 
Martin hatte es sich in der Zwischenzeit auf einem nahegelegenen Parkplatz mit einer Packung Chips gemütlich gemacht und erwartete neugierig meine Berichterstattung.

“Sie ist weg...“ begann ich langsam und fasste mir dabei immer noch ungläubig an meinen Kopf.

Martin kuckte mich fragend an: „Frau Meyer ist verschwunden?“

„Nein, die Depression.“ erwiderte ich. „Sie ist einfach weg! Als ich vorhin die Treppe runter kam, da war sie einfach nicht mehr da. Und jetzt geht es mir wieder gut. So gut wie vor dieser seltsamen Depression, die just ebengrad so urplötzlich verschwunden ist wie sie vor paar Wochen über mich gekommen war.“

Ich erzählte Martin von all den merkwürdigen Dingen, die ich in der vergangenen Stunde erlebt hatte. Von den Heiligenstatuen, den unbekannten Gerüchen, den Pendeln, den diagnostizierten Fremdenergien, der unbekannten Sprache, und was Frau Meyer mir alles so gesagt hatte. Auch die Geschichte von der verstorbenen Frau mit den drei Kindern erzählte ich. Die Frage, ob ich diese Frau denn kennen würde, verneinte ich erneut. Ich konnte mir auch gar nicht vorstellen, dass sich jemand ausgerechnet mich als Mutter seiner Kinder gewünscht hätte.

Wir fuhren dann noch paar Tage an den See, und hatten noch einige lange Gespräche über die unfassbaren Dinge zwischen Himmel und Erde.
Die Depression blieb wie weggeblasen, und kam nicht wieder. Und so fuhr ich schon bald wieder nach Hause.

In den folgenden Wochen kehrte der Alltag zurück. Die Erinnerungen an die Depression verblassten bereits, und auch über den Willen der unbekannten Toten und die anderen Diagnosen grübelte ich nicht länger.

Bis zu jenem Morgen, als mir der Postbote einen handgeschriebenen Brief überreichte ...
 
„Dieser Brief ist wohl im System hängen geblieben und hat etwas Verspätung“, entschuldigte sich der Postbote im Namen der Post und verabschiedete sich freundlich.

Ich schaute mir die krakelige Schrift der Adressierung an und verwunderte mich nicht weiter. Der Brief stammte sicherlich aus Marokko. Neugierig öffnete ich ihn und begann zu lesen:

Liebe Fathma,

Ich habe deine Adresse von Ahmed Salem Abdoul erhalten.

Wir hoffen alle sehr, es geht dir gut Inch‘Allah.

Dein letzter Besuch in Er Rachidia ist einige Monate her.

Ich muss dir leider mitteilen, dass meine Frau Wuaffa den Kampf gegen den Krebs verloren hat.

Es war ihr jedoch eine grosse Freude, dass sie dich noch kennen lernen durfte, bevor sie verstorben ist. Du warst immer so gut mit den Kindern. Das hat ihr viel Trost und Hoffnung gegeben. Die beiden Zwillinge haben dich sofort in ihr Herz geschlossen und so auch unser ältester Sohn Mohammed.

Ich habe mit Wuaffa viel gesprochen vor ihrem Tod.

Es ist ihr letzter Wille und grosser Wunsch, dass Du meine zweite Frau wirst und die Mutter unserer geliebten Kinder.

Ich lade dich deswegen ein, uns baldmöglichst zu besuchen und hoffe auf ein baldiges Wiedersehen Inch‘Allah.

Mit freundlichen Grüssen

Zaid Alaoui


P.S. Als Geschenk sende ich dir Fotos der Familie. Die letzten Bilder entstanden zwei Tage vor Wuaffas Tod.



 
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Ich erinnerte mich natürlich an diese Familie. Die erste Begegnung war in einer Klinik. Mohammed hatte beim Spielen eine Erbse inhaliert und die geriet in die Lunge. Ein Mitglied meines Forschungsteams war mit der Familie befreundet, und so kam es, dass ich zur Klinik mitgegangen war, um gemeinsam zu beten für den Jungen.

Die Erleichterung war gross, als der Junge am nächsten Tag wieder wohlauf war und nach Hause kehren durfte. Es folgte eine Einladung zum Fest des Dankes, wo ich bei Kamelbutterspezialitäten und Teezeremonien den Rest der Familie kennen lernte...

In den folgenden Wochen war ich oft bei der Familie zu Besuch, wenn ich in Er Rachidia war. Wuaffa lud mich immer wieder ein. Sie zeigte mir ihre Lieblingskleider, bat mich mit den Kindern zu spielen (weil sie schon zu schwach dafür war) und liess die Haushälterin so manche Köstlichkeit für mich zaubern. Auch sorgte sie für viele Gespräche mit Zaid, weil sie mich immer wieder zu mehrtägigen Besuchen einlud, selber aber kaum das Krankenbett verlassen konnte.

Hatte ich ihre Gastfreundschaft möglicherweise ein wenig falsch interpretiert gehabt…? Ging es Wuaffa dabei eventuell tatsächlich um die Regelung ihrer Nachfolge?

Nun, jedes Land hat seine Sitten, dachte ich und schaute mir die Fotos an. Sie zeigten die Familie beim Spielen, bei einem Ausflug und in der Klinik.

Auf dem letzten Foto war im Hintergrund ein Kalender. Er zeigte den 6. August. Wuaffa musste demnach am 8. August verstorben sein. Also genau an jenem Tag, als mich diese seltsame Depression überkommen hatte...
 
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