Spirituelles Gehen

cerambyx

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Ort
Niederösterreich, Mostviertel
"Spirituelles Gehen" nenne ich meine Wanderungen im Gebirge. Noch vor der anbrechenden Dämmerung beginnt dann mein Weg bergauf; bereits am Anfang setze ich die Schritte im Takt, bis der Körper warm ist. Dann stimme ich den Atem mit den Schritten ab, gleiche sie langsam aneinander an, verkürze nur die Schrittlänge bei schnellerem Schritt, wenn der Atem kürzer wird, mache lange langsame Schritte bei flachen Passagen. Irgendwann passiert es und ich bin im altgewohnten Takt: Drei Schritte ausatmen, zwei Schritte einatmen ... irgendwann kommt der Herzschlag dazu, nach dem sich alles andere richten muß. Und irgendwann habe ich meine Mitte, und das richtige Gehen beginnt ... und ich muß mich nicht mehr darum kümmern. Jetzt ist der Geist wach und empfänglich für die umgebende Natur, deren Inhalte, Stimmen, Bewegungen und ... Stimmungen.
Allein zwischen Gebirgen und weitab von Siedlungen und Hütten schaut mich dann ein silbriges Auge an, lenkt meine Gedanken in Bahnen, die anhalten bis zur noch 4 Stunden weit entfernten Hütte ....
 
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Sanft umschmeicheln die grünen Grasmatten die Hügel des Waldviertels in Niederösterreich. Hier ist die Mystik zuhause - und gerne durchwandere ich das Land. Jede Minute ein Tag Urlaub, jede Sekunde eine Stunde Erholung. Die Gedanken schweifen, werden ruhig dabei - die Augen sehen sich satt an der goldenen Sonnendecke, die sich abends zwischen die dunklen Wälder legt, der Atem wird leise, und kleine Schleier wehen wirbelnd von den Lippen in die kühle Luft, ein leiser Schauer läßt die Haut rauh werden ... ein Käuzchen ruft - es begegnet unseren Gedanken, weicht aus, umkreist sie vielleicht, grüßt rundäugig nickend, und verschwindet mit lautlosem Flügelschlag im Dämmerlicht, den Tod in seinen Krallen tragend für kleines, unvorsichtiges Getier!


Hier mit allen Sinnen unterwegs sein, heißt Leben, für manche aber ... Überleben!
 
... um halbfünf aufstehn, eine gute Stunde mit der Stirnlampe. Gleichmäßiger Schritt, gleichmäßiger Tritt immer bergauf, während der Atem eiliger werden möchte und das Herz antreibt. Ich finde den Takt und gehe, bis ans Ende dieses Berges, wo sich dann ein Kreuz vor die Himmel schiebt.

Eine viertel Stunde warten und frieren ... ... bis das Glühen sich den Tag verheißend über den Horizont legt, bis die Wolken ihre Ränder gleißend Hell umsäumt erhalten ... es steigt eine Wärme von innen wieder auf und weit öffne ich den Geist, auf den Stab gestützt ... den Horizont möchte ich ertasten ...


... die Sonne schiebt ihre ersten goldenen Finger des Tages über den Wolkenrand - mit zitterndem Herzen stehe ich da, vergesse, was unter mir liegt im finsteren Tal und schaue - schaue ...

... und da ist er ...... der erste Strahl ...


Ich sehe keinen morgendlichen Tag, ich sehe den Beginn eines neuen Lebens!
 
Am schönsten ist immer das Gehen - in diesem Fall im Velebit-Gebirge in Kroatien, im Nationalpark Paklenica. Andere Gegenden, andere Landschaften machen mich besonders empfänglich für jedes Detail. Konzentriert suche ich die Landschaft nach verräterischer Bewegung ab, lasse den Blick die unmittelbare Umgebung absuchen, horche auf jeden Laut, jedes Rascheln. Die ungewohnte Wärme kann ich bequem ignorieren - ich mag's heiß (aber ich mag's auch kalt!), denn ich mag's wenn ich meinen Körper spüre, der Schweiß vom Wind kühlend abgeholt wird und dabei das Salz zurückläßt. Und dann ein Bach zum Abspülen - DAS ist Leben!

Während die anderen durch die Hitze getrieben am kühlen Bach ihre Rast machen, treibe ich mich wie fast immer bei solchen Anlässen inzwischen in der näheren Umgebung herum. Oft sind die Tiere durch eine Personengruppe so abgelenkt oder auf diese konzentriert, dass sie mich als Einzelnen ignorieren oder übersehen. Schon viele Beobachtungen sind mir so gelungen. Aber diesmal ist kein Tier, kein Vogel, keine Bewegung zu sehen. Ich konzentriere mich auf die Rinde der Bäume und Sträucher, gucke auf die Unterseite der Blätter - NICHTS. NICHTS?
Was bewegt sich da träge am Stein im Bachbett?
Wie ein Relikt aus lang vergangenen Zeiten wirkt dieser gepanzerte sechsbeinige Ritter der Insektenwelt. Dieser grünschillernde Rosenkäfer hat sich in diesem Waldschatten an das Bachufer verirrt ....

... und während die Menschen ihren Durst löschen und kurze Zeit rasten, versucht er von ihnen unbemerkt von den Steinen genug Wärme aufzunehmen, um wieder wegfliegen zu können in sein luftiges Reich voll Licht und Sonnenstrahlen ... zielstrebig oder Umwege machend, irgendwelchen Blüten entgegen, in die er sich voller Begeisterung einwühlt um sich mit goldgelben Blütenstaub zu bekleckern ....

Aber noch sitzt er am Bach und wartet ...


... ich setze mich zu ihm und warte - etwas abseits der Gruppe - auch ...
 
Am Ufer des Inn entlang zieht sich der Treppelweg - immer geradeaus. Das Wetter ist traumhaft schön, der Wind kühlt gerade richtig und genug, um sich behaglich zu fühlen. Begegnende Spaziergänger wundern sich, weil ich bei jedem unscheinbaren aber auch jeder allgemein bekannten Blume stehenbleibe. Wahrscheinlich gebe ich gerade das Musterbeispiel eines Wanderers ab der "jedes Blümelein am Wegesrand liebevoll betrachtet"
Ich lache vergnügt in mich hinein, denn .... sie haben recht! Ich habe wieder einmal beschlossen, das genau zu betrachten, was ich schon ewig kenne - oder zu kennen glaube!
Und tatsächlich - etwas ganz Gewöhnliches fesselt plötzlich meinen Blick, bannt mich an einen Platz, zwingt mich in die Knie ... denn nur so kann ich diese weiße Blüte im geeigneten Gegenlicht so sehen, wie ich sie noch nie gesehen habe.

Durchscheinend sind jetzt die zarten weißen Blüten der Echten Zaunwinde, die für viele Gartenbesitzer ein bloßes Ärgernis ist, weil die dichten, ewig langen Ranken so manchen Zierstrauch oder Zaun als Tragegerüst verwenden und unter sich förmlich verschwinden lassen.

Aber ich verfolge aufmerksam die Konturen der Blätter, die gewellten Außenränder, leicht ausgefranst, die sanfte Krümmung der Blätter, deren feine Nerven ich jetzt wahrnehme und die geheimnisvoll im Kelch verschwinden, sich den Auge entziehen, indem sie einer herrlich gestalteten Krümmung folgen. Ich betrachte die an ihren Kanten überlappenden Blätter, werde des Spiels von Licht und Schatten gewahr, die eine linierte Landschaft in den Blütenkelch malen mit nur einer einzigen Farbe ... und ein einzelnes Staubblatt wirft seine Konturen keck an die Außenseite.

Der breite Kelch leitet über in einen grünen Trichter, der die Blätter bündelt, festhält und die Verbindung zum Rest der Pflanze bildet.
Sattes Grün bildet einen hübschen Kontrast zu dem unschuldigen Weiß, und je länger ich schaue, um so mehr Farben bemerke ich ...

Die Gedanken gleiten ab, ein noch unfertig gedachter Vergleich drängt sich in die Gedanken, lässt die Augen noch einmal fragend über die Blüte gleiten.


Sie wirkt so sehr weiblich ... ach was, sie wirkt so sehr erotisch ... ich werde sie zukünftig anders sehen, denn sie hat es verdient!

cerambyx
 
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