"Wenn Sie Gott schauen, ist jedes Problem gelöst
Ich verlasse jetzt den Hindu-Weg und zitiere im Folgenden wörtlich ein Gespräch zwischen dem Shivapuri Baba und zwei englischen Damen, Melissa und Marjorie, Töchter des verstorbenen Sir Charles Marston, der selbst ein eifriger Bibelforscher war. Diese Damen reisten 1962 mit mir zusammen nach Kathmandu und wurden aufgefordert, ihre Fragen in beliebiger Form zu stellen.
Sie gaben dem Shivapuri Baba zuerst einen kurzen Bericht von ihrem Leben und ihrer Suche. Die eine von ihnen hatte ihren Ehegatten wenige Jahre nach der Heirat verloren und war nun seit nahezu zwanzig Jahren Witwe. Die andere hatte nicht geheiratet. Sie waren beide seit vielen Jahren an den Lehren Gurdjieffs interessiert, nach denen sie zu leben versuchten, und hatten in jüngerer Zeit Subud kennengelernt und das Latihan praktiziert. Sie hatten weite Reisen unternommen, um zu einem besseren Verständnis der Ursprünge menschlicher Religionen und Kulturen zu gelangen und um das eine Problem zu lösen, das uns alle plagt: der Grund für unser Dasein und die rechte Lebensweise.
Melissa beschloss ihren Bericht mit den Worten: »Man hat immer das Gefühl, vielleicht mehr im Westen als im Osten, dass man nicht wirklich versteht, warum wir hier sind, dass unser Leben vorübergeht, und wir es irgendwie nicht richtig nutzen, wie wir es sollten.«
Der Shivapuri Baba, der all ihren Ausführungen aufmerksam zugehört hatte, saß draußen in einem Lehnstuhl und hielt eine Rose in der Hand. Wir saßen vor ihm auf kleinen Schemeln. Er lächelte und hielt uns die Rose entgegen.
Shivapuri Baba: »Jetzt ist – sozusagen – Duft in dieser Blume. Kann ich diesen Duft so erklären, dass Sie ihn selbst riechen?«
M.M.: »Nein, ich denke nicht.«
S.B.: »Ganz gleich, wie ich ihn auch erklären mag, Sie können den Duft nicht kennen. Wenn ich Ihnen die Blume gebe und Sie sie riechen, wissen Sie, was ihr Duft ist. Verhält es sich nicht so? Ebenso kann ich Ihre Fragen nicht beantworten. Ihre Fragen können nur von Gott beantwortet werden. Schauen Sie Ihn zuerst, dann wird jedes Geheimnis gelöst. Davor jedoch, egal welche Antwort ich Ihnen gebe, werden sich Ihre Probleme nicht lösen. Gott zu erreichen, ist der erste Schritt. Indem wir Gott schauen, wissen wir alles.«
M.M.: »Wie kann uns das gelingen?«
S.B.: »Denken Sie nur an Gott. Lassen Sie jeden anderen Gedanken fallen, und Sie werden Gott schauen.«
Wir sind in Bewusstsein gekleidet. Gott ist jenseits des Bewusstseins. Vergessen Sie dieses Bewusstsein einen Augenblick, und Sie werden Gott sehen. Im Nu!
Diese Worte, die so banal klingen, wenn man sie auf Papier wiedergibt, wurden mit einer derart einfachen Überzeugung gesprochen, dass die Antwort auf alle Probleme da zu sein schien, fast in Reichweite. Ich erinnere mich daran, wie tief bewegt ich gewesen war, als er mir ein Jahr zuvor dasselbe gesagt hatte. Die Damen waren ebenfalls berührt, doch antworteten sie mit dem weiblichen Sinn für das Praktische.
M.M.: »Das ist sehr schwierig.«
S.B.: »Es ist schwierig, aber nicht unmöglich. Es ist schwierig – ich weiß das sehr wohl. Wenn Sie sich aber hinreichend bemühen, diese Schwierigkeit zu bewältigen, so werden alle anderen Schwierigkeiten im Leben verschwinden. Solange wir Gott nicht schauen, können wir nichts wissen. Bevor die Sonne da ist, können wir auf dem Boden nichts sehen. Wenn die Sonne kommt, sehen wir alles. So ist auch die Gegenwart Gottes. Wenn wir Gott kennen, kennen wir alles. Vorher ist eine einfache Erklärung gar keine Erklärung. Ich kann sagen: ›Dies ist süßer Duft.‹ Doch wie viele Blumen gibt es, die einen süßen Duft haben! Was ist das Wesen dieses Duftes? Solange Sie ihn nicht riechen, können Sie es nicht wissen. Man kann ihn erfahren, aber er kann nie erklärt werden.
Denken Sie nur an Gott allein, beseitigen Sie alle anderen Gedanken aus ihrem Verstand. Sie werden Gott vor sich sehen und all Ihre Probleme werden gelöst. Dies muss man als Erstes tun.
Solange man nicht ein diszipliniertes Leben führt, ist diese Meditation nicht möglich. Wir haben diesen Körper; man sollte die Erfordernisse dieses Körpers kennen. Man muss hören, muss sehen, muss schlafen, muss schmecken, muss spucken, muss atmen. Tausend Aktivitäten laufen in diesem Körper ab. All diese Dinge sind zu kontrollieren und zu beherrschen. Wieviel soll man essen, wieviel schlafen, was soll man sehen, was hören? All das sollte kontrolliert und beherrscht werden. Dies ist eine Pflicht.
Eine weitere Pflicht besteht gegenüber dem Heim, der Gesellschaft, der Nation und so weiter. Wir müssen herausfinden, was wir zu tun haben.
Eine dritte Pflicht betrifft materielle Bedürfnisse. Ohne materiellen Besitz können wir diese Dinge nicht tun. Dafür haben wir eine berufliche Pflicht.
Dies sind die Pflichten, die man zu verrichten hat. Sie sollten erkannt und richtig ausgeübt werden, ohne Versagen, ohne Entledigung oder Unterlassung. Dann wird das Leben gleichmäßig. In einem gleichmäßigen Leben wird Meditation sehr einfach.«
An dieser Stelle führte der Shivapuri Baba einen Gedanken ein, der nicht nur viel von dem klarstellt, was in der Bhagavad Gita geschrieben steht, sondern die ganze Frage des Bewusstseins und dessen Wesen und Begrenzungen beleuchtet. Ich werde hier seine Worte kommentarlos zitieren, später jedoch auf sie zurückkommen, wenn ich auf die Fragen der Bedeutung seiner Lehre für unser gegenwärtiges Zeitalter zu sprechen komme. Er brach seine abstrakte Erklärung über Pflichten ohne ersichtlichen Grund ab und fuhr fort.
S.B.: »Jetzt ist Ihr Körper in dieses Tuch gekleidet. Wenn das Tuch entfernt wird, kann ich Ihren Körper sehen. In derselben Weise sind wir in Bewusstsein gekleidet. Gott ist jenseits des Bewusstseins. Vergessen Sie dieses Bewusstsein einen Augenblick, und Sie werden Gott sehen. Im Nu! Was wir als Erstes zu tun haben ist, dieses Leben in Ordnung zu bringen und dann über Gott zu meditieren. Wenn Sie Gott schauen, ist jedes Problem gelöst.«"
(Aus: John G. Bennett: Richtig leben – Die Lehren des weisen Shivapuri Baba)
alles Liebe