Sägespäne

Ohne Vergangenheit gäbe es kein Unterscheiden und kein Urteilen. Sagt der Kurs. Sagt auch Sila und sie ist sich dessen sicher. Als sie die Einheit in und mit allem fühlte, war sie sich weder Vergangenheit, noch Zukunft bewusst. Es gab nichts, woran sie sich erinnern hätte können oder sich etwas vorstellen hätte können. Es war alles da. Wunschlos glücklich. Wünsche entstehen in der Zukunft. Vorstellungen entstehen in der Zukunft.

Wie war das mit Freund Carlos und Don Juan? Auch sie waren für das Loslösen der Vergangenheit. Rekapitulation nannten sie es. Geh so weit zurück, wie du dich erinnern kannst – von der letzten Begegnung mit einem Menschen oder Tier oder was auch immer und fühle, als wäre die Begegnung eben jetzt. Sitz aufrecht, aber bequem. Atme von rechts nach links tief ein. Damit holst du jene Energien zurück, die deine sind und die du bei dieser Begegnung vergeudest hast. Dann atme von links nach rechts aus. Damit stoßt du die fremde Energie aus, die du dir bei dieser Begegnung eingefangen hast. Fegeatem nennen sie es. Der Fegeatem hat etwas Magisches. Er wirkt.

Wenn man so ziemlich jede Begegnung – von der letzten bis zu jener, an die man sich gerade noch erinnern kann, ist man seine Vergangenheit (Persönlichkeit) los. Klar, die Rekapitulation hat noch eine andere Bedeutung, als sich nur von der Vergangenheit zu trennen. Sie ist das Double, das man dem Adler in den Rachen wirft, um heil an ihm vorbei und in die Unendlichkeit zu flüchten. Man schlägt dem Tod ein Schnippchen. Könnte man sagen. Wenn es denn hilft.

Demütig wird man auf jeden Fall, weil man während der Rekapitulation sehr gut erkennt, wie dämlich man sich verhalten hat. Welch Arschloch man in gewissen Situationen war. Es wird nicht allzu viel Gutes zum Vorschein kommen, wenn man sich all seiner Vergangenheit bewusst wird. Das Ego ist immer im Vordergrund. Man will das. Man will jenes. Und wehe, wenn es mal nicht so läuft, wie man will.

Ich erinnere mich an eine Textstelle aus einem von Carlos' Büchern oder es könnte auch von einem über ihn gewesen. So genau weiß ich es nicht und ich finde diese Textstelle auch nicht mehr. Kann aber auch sein, dass ich es im Internet gelesen habe. Da gibt es ja genug (angebliche) Interviews mit Carlos. Egal, auf jeden Fall erinnere ich mich, dass er, wie er erzählte, sehr gerne Filme gesehen hat. Ob Kino oder TV war egal. Aber plötzlich fiel ihm auf, dass es den Menschen in den Filmen (und nicht nur in den Filmen!) immer nur um sich selbst geht. Es steht immer das Ego im Vordergrund. Und schließlich wurde bei den meisten Filmen (das dürfte im wahren Leben anders sein) das Ego voll und ganz befriedigt. Der Mann bekommt die Liebe seines Lebens, auch wenn er über gebrochene Herzen geht und der Rächer hat seinen goldenen Schuss gemacht, auch wenn er sich dadurch mit dem Killer auf ein und dieselbe Stufe stellt. Mit seinem Freund Don Juan und dessen Zauberertrupp war es ganz anders. Aber sie waren ja keine Menschen mehr – sie hatten das Menschsein schon lange abgestreift...

„Menschlich, allzu menschlich“, höre ich Arimas Stimme in mir flüstern. Und: „Urteile nicht. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.“

Ja, aber wie wird man sich all dessen sonst bewusst?

„Einfach sitzen, nichts denken und abwarten, was passiert, auch wenn nichts passiert. Auf jeden Fall kommt alles wie es kommen muss. Übrigens, das Ego hat keine Macht über die Quelle. Aber die Quelle hat Macht über alles, denn die Quelle ist alles. Auch wenn du tust, was immer du tust. Sie lässt nicht einmal einen Furz auf dein Tun.“

Hab Dank, Arima! Vielen Dank! Es ist immer erfrischend, dein Flüstern zu vernehmen.


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Zuerst sich erinnern, dann vergessen. Die Zeit der Erinnerungen ist vorüber. Jetzt ist die Zeit des Vergessens. Vergessen, was noch vor einer Minute war. Demenz. Sie kommt noch früh genug. Erstrebenswert? Man weiß es nicht. Auf jeden Fall ist es zu heutigen Zeiten (um 2019) eine Gefahr nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Zu heutigen Zeit in unseren Breiten (Europa) wohl bemerkt. Denn hier werden Menschen, die nur still da sitzen und scheinbar auf etwas warten, obwohl sie auf nichts warten, in gewisse Anstalten gesperrt. Vielleicht gibt es noch irgendwo Völker, bei denen Alte und so genannte Verwirrte verehrt werden. Vielleicht. Wenn nicht, kann man auch nichts machen. Es ist nun mal das allgemeine Aussterben schon immer Teil der Evolution gewesen und wird es auch bleiben. Es kommt ja was Neues nach. Scheinbar Neues.

Habe ich schon die kleine Geschichte über einen Mann erzählt, der auch alles vergaß? Er erkannte seine Familie nicht mehr, die darüber sehr betrübt war. Die Familie suchte Ärzte und Heiler auf, bis schließlich einer der Ärzte oder Heiler Erfolg hatte und der Mann sich wieder an alles erinnerte. Wie schimpfte er nach seiner Heilung! Hier mal die Textstelle aus dem Buch „Taoismus - Buch III - König Mu von Dschou - Leben und Traum:

Vorher war ich in Vergessenheit versunken und gleichgültig. Ich merkte nicht, ob es eine Welt gab oder nicht. Nun bin ich zum Bewusstsein erwacht, und was mir während dieser Jahrzehnte widerfahren an Bestehen und Vergehen, Gewinn und Verlust, Trauer und Freude, Liebe und Hass, regt sich mit tausend Verstrickungen verwirrend in mir. Ich fürchte, dass auch Bestehen und Vergehen, Gewinn und Verlust, Trauer und Friede, Liebe und Hass der Zukunft also mein Herz verwirren werden. O, dass ich doch jene Vergessenheit auch nur auf einen Augenblick wieder finden könnte!“

In einer Zeit wie diesen ist Vergessenheit schier untragbar für eine Gesellschaft, die hauptsächlich an Macht und Gewinn interessiert ist. Man muss aber sagen, es ist schon besser geworden. Man wird humaner. Menschlicher. Ob das gut ist? Ich meine damit die Bezeichnung „humaner“ und „menschlicher“, weil viele damit keine guten Erfahrungen gemacht haben.

Aber was hat in diesem Leben, im Menschenleben, schon Bedeutung? Auch wenn wir die Vergangenheit eine Zeit lang verlieren, so verlieren wir einmal doch alles, was uns einst ausmachte. Was uns jetzt ausmacht. Aber was macht uns aus. Irgendwo habe ich im Vorbeigehen einen Satz aufgeschnappt, der mich nachdenklich machte: „Wenn ich nur ich bin, bin ich doch nichts.“

Ich alleine bin nichts, denn ich schnappe immer wieder etwas auf, mit dem ich mein Bewusstsein fülle, das sich aus meinem Gehirn entwickelt hat. Ja! Bewusstsein darf niemals mit Geist verwechselt werden. Der Geist, das sind die Ideen, von denen einst Plato geträumt hat. Es ist kein Widerspruch (aber schon wieder eine Wiederholung), wenn wir spirituell sind und gleichzeitig das Bewusstsein verdammen. Na ja, verdammen tun wir es nicht, denn es ist immerhin eine Art Brücke zum wahren Geistigen. Was ich damit sagen will, - wir haben nichts verloren, wenn wir das Bewusstsein, samt Inhalt, verlieren. Es ist das, was Freund Carlos das „Tonal leeren“ nannte. Leer machen, um dem „Nagual“ Platz zu machen und so wieder die Ganzheit des Selbst zu sein, die wir im Moment der Geburt verloren haben.

Dennoch ist der immer da. Rein und unverwundbar winkt er uns zu, wenn wir aufmerksam sind. Die große Seele, Atman, eins in allem, alles in einem. So gut hat Gott unsere wahre Seele versteckt. Aber irgendwann finden alle, ohne zu erfinden und ohne vergessen zu müssen.

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Es ist schwer, Vertrauen zu haben. Noch schwerer ist es, bedingungslos zu glauben. Springen, obwohl da unten ein Abgrund ist, der nur Tod bedeuten kann. Freund Carlos hatte Vertrauen. Und Glauben. Pama, der alte Mann und der kleine Michel zögern. Sie können nicht glauben, dass Geist nicht sterben kann. Geist kann vielleicht vergessen. Aber sterben? Und was, wenn er vergisst? Was ist er dann? Schließlich springen sie doch und mit ihnen die gesamte Mondlandschaft.

Es löst sich alles auf. Das Dorf, das wie eine Altstadt erscheint, die Leute, von denen einige wieder ihre Möbel oder Karren mit Blumen schieben. Die imposanten Bullaugen werden noch größer und entwickeln sich zu schwarzen Löchern, die alles aufsaugen. Und schließlich lösen sich auch die schwarzen Löcher auf und nehmen Sila mit sich, die alles beobachtet hat.

Und Arima? Auch er beobachtet. Lange. Mit tiefem Blick ohne Augen. Kein leuchtendes Türkis mehr im Blick. Schließlich zieht er weiter. Zieht das Universum mit sich und winkt uns körperlos zum Abschied noch einmal zu. Geistig. Immer nur geistig. Geisterhaft. Welch wunderbarer und wunderschöner Geist. Unsichtbar, aber rein und unverwundbar.

Und nun ist es wirklich genug. Ein für alle mal. Ab jetzt wird nie wieder etwas an die Öffentlichkeit dringen. Versprochen. Hoch und heilig. Vor allem heilig.


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