Ich hatte nicht das Glück wie Du, believe, die Du beim Tod deiner Oma dabei warst, auch nicht das Glück wie Du, Jaques, daß Du am Tag vorher so lange beim Opa warst und ihm so nah warst (daß sich Lebensenergie übertragen hat, Anm.), sondern bei mir war es anders.
Es war mein zweiter Karneval in der Grundschule. Morgen früh ist Weiberfastnacht und noch besser: nächste Woche habe ich Geburtstag. Und werde acht.
Die Mama hat gesagt, daß der Papa im Krankenhaus im Sterben liegt. Es kann sein, daß sie heute Nacht anrufen. Die Mama wird morgen die Großmama holen fahren, hurra. Aber alle sind eher deprimiert - ich verstehe nicht warum, aber ich fühle mich genauso. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich auf Karneval freue und auf meinen Geburtstag, als ich im Bett liege.
(ich wußte, daß mein Vater Krebs hatte, aber ich hatte nicht wahrgenommen, wie er in den letzten Monaten abgebaut hatte und wie er zerfallen war. Auf den Fotos konnte ich es später sehen. Ich wußte nicht, was es bedeutet, wenn jemand stirbt. Ich hatte keine Ahnung, wie man sich dann fühlen muß, wen Papa stirbt.)
Ich werde wach, weil das Telefon klingelt. Die Mama hat es leise gestellt und ihre Zimmertüre aufgelassen, aber ich höre es trotzdem. Die Mama geht so leise und so schnell wie möglich die Treppe herunter, nimmt den Telefonhöhrer ab und sagt "Ja" mit einer monotonen, leisen Stimme. Sie nimmt das Telefon und legt die Schnur um die Ecke, so daß sie in die Küche gehen und die Türe anlehnen kann. Ich höre eine Weile nichts, dann "Danke".
Ich liege auf dem Rücken und bin sehr erstarrt. Ich habe verstanden, was passiert ist: Papa ist gestorben. Ich wußte: das hat eine gravierende Bedeutung.
Mein Geist erschuf Folgendes:
Ich sah ein Licht, das aus der Ferne rasch auf mich zukam. Es wurde immer grösser und heller, bis es vor mir stand. Da sah ich, daß es das Gesicht meines Vaters war. Ganz groß, ganz hell, strahlend, lächelnd, froh. Mich anlachend, so wie Papa mich immer angelacht hat.
Wir schauten uns tief und lange an - so in die Augen geguckt habe ich ihm wieder 30 Jahre später in einem Wachtraum.
Dann sagte ich, was ich verstanden hatte: Du bist jetzt tot.
Er schien zu nicken und verschwand oben rechts in meinem inneren geistigen Bild, in dem ich ihn sah, hinter einem Fensterchen. Das Fensterchen ging von innen auf, es hatte zwei Flügel. Mein Vater schaute hinaus, und er schien mir zuzuwinken.
Dann veränderte er seine Gestalt und wurde zu Licht.
Dieses Licht ist immer hinter diesem Fensterchen geblieben. Es ist immer da, mein Vater ist immer bei mir. Ich rede immer mit ihm. Er ist nicht tot, er ist nie tot gewesen, in meinem gesamten Leben nicht. Nicht in mir drin. Und ich glaube nicht daran, daß ich mir vornehmen muß, mein inneres Gespräch mit ihm zu beenden. Freilich: inzwischen habe ich auch Gott zum Gesprächspartner, der ist mir im Zweifelsfall sogar lieber als mein leiblicher Vater.
Leiblich den Verlust erfahren, mit entsprechendem Trauern, Weinen und so weiter, Gesprächen mit der Familie, habe ich den Tod meines Vaters dann erst etwa als ich 30 war. Da begann ich eine klarere Vorstellung davon zu bekommen, wie genau sich der frühe Tod meines Vaters und die Art und Weise der Verarbeitung in meiner Familie auf mein Leben ausgewirkt hat. Ich weiß nicht, ob es mir bei allen Schwächen, die ich davongetragen habe geschafft habe, sie in Stärken zu wandeln, aber bei einigen schon. Denn das ist nur die Aufgabe: die Schwäche erkennen und sie in eine Stärke wandeln.
Am nächsten Morgen weckte mich die Mama mit "Guten Morgen, es ist Karneval!"
Ich wurde in mein Kostüm gesteckt von einer lachenden Mama. Und in die Schule geschickt.
Ich feierte Karneval mit den anderen Kindern.
Als ich nach Hause kam, als Erster der drei Kinder, sagte mir die Mama, daß der Papa in der letzten Nacht gestorben sei. Wir umarmten uns, und sie sagte mir, daß es ihr sehr leid tue und ich antwortete ihr "Mama das ist nicht so schlimm".
Als meine beiden Schwestern aus der Schule kamen und die Nachricht überbracht bekamen, fielen sie im Wohnzimmer weinend in die Kissen. Ich ging zuerst zur Einen und dann zur Anderen und tröstete sie.
Mein Vater war Lehrer. Als ich etwa 14 Jahre alt war, saß ich im Schulunterricht und es ging eine NAchricht durch den Lautsprecher: "Euer Lehrer, unser lieber Kollege Herr xxx ist dann und dann leider verstorben." Ich hatte mit dem Lehrer nie Unterricht gehabt und hatte nie ein Wort mit ihm gesprochen, aber da brach es unkontrollierbar aus mir heraus. Zum ersten Mal, denke ich.
Und dann wieder, als ich 30 war.
Heute ist es so: es bricht kontrolliert aus mir heraus. Zum Beispiel jetzt während des Schreibens. Ich muß das noch immer Satz für Satz schreiben und Satz für Satz bewältigen. Auch diesen Satz hier. Und es gibt viele viele Pausen, in denen viele Tränen laufen. Und wo ich froh bin, daß ich alleine bin und in einem freistehenden Haus wohne und daß alle Türen und Fenster zu sind, weil ich klagen muß wie ein chilenisches Weib. Aber: das hilft. Man muß es halt wiederholen.
lg