PFLANZEN SIND MEHR ALS SIE SCHEINEN
Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren. Was sie willenlos ist, sei du es wollend - das ist's! FRIEDRICH SCHILLER, "DAS HÖCHSTE"
In Indien sucht der Suchende seinen Guru. Von ihm, der in unzähligen Lebensläufen Erleuchtung und Weisheit gefunden hat, erhofft sich der Suchende das Heil und die wahre Selbsterkenntnis. Richtiger wäre es jedoch, zu sagen, dass der Guru seinen "Schüler" sucht. Es ist nicht nur seine Aufgabe, es ist auch des Gurus Freude und Wonne, den Schüler an der Wonne, die er wie eine leuchtende Sonne in sich trägt, teilhaben zu lassen. Der Guru selbst ist die Sonne, die die ungezählten Seelenpflänzchen freudig wachsen lässt.
Der Guru ist kein gewöhnlicher Mensch, er gleicht einem Gefäß, das vollkommen leer ist und mit göttlichem Licht oder mit göttlich berauschender Ambrosia gefüllt ist. Er ist leer, weil sein Karma ausgebrannt ist und so nur noch aus weißer, reiner, etwas bitterer Asche besteht.
Der Guru, der Lehrer beziehungsweise Führer der Seele, erscheint uns Menschen meistens in menschlicher Gestalt: in Südasien als ein Heiliger, der am Gangesufer oder in einer Höhle im Himalaja sitzt, im christlichen Westen als der Heiland, der an der Herzenstür klopft, bei den Muslimen in der Erscheinung Mohammeds, der von Allah kündet. Bei den Indianern und anderen naturnahen Völkern kann der Führer der Seele auch als Tier, zum Beispiel als Bär, Wolf, Kojote, Adler oder Käfer, erscheinen - oder gar als Pflanze, als Stein, als Berg, als ein See, als Wogen des Meeres.
Pflanzen sind besonders machtvolle Gurus. Von solchen Pflanzen, die mein Leben veränderten und von denen ich viel lernte, will ich hier erzählen. Es sind Pflanzen, auf die ich gestoßen bin oder die - wie die Indianer sagen würden - mich gesucht haben, um meine "Verbündeten" zu werden.
Pflanzen sind machtvolle Gurus, weil ihr Dasein die reinste Meditation ist. Was tun sie denn anderes, als in absoluter Stille zu verweilen und mit ihrem grünen Laub das Licht der Sonne aufzunehmen - der Sonne, die das ewige, alles erhaltende OM, den Urton der Schöpfung, unablässig aus sich herausströmen lässt. Mit ihrem Netzwerk von Wurzeln sind die Pflanzen mit dem Gegenpol zum Himmelslicht, mit der feuchten, dunklen Erde, mit der Pilzwelt, dem Wasser und den Mineralien, verbunden.
Diese Wesen, deren Blut grün ist, schöpfen aus beiden Quellen: aus dem Dunkel der Erde und aus dem Licht der Sonne und des Sternenkosmos. Ihre Meditation ist reinste Wonne. Wer es vermag, sich in Gedankenleere neben eine Pflanze, sei es ein Kraut oder ein Baum, zu setzen und an ihrer Stille teilzuhaben - sich sozusagen in ihre Meditation "einzuklinken" -, der wird diese Wonne selbst erfahren können. Diese hohen Meister der Meditation sind aufgrund ebendieser Meditation selbst zu Quellen geworden, an denen sich alle Wesen laben. Wie nebenbei säubern Pflanzen die Atmosphäre, atmen den Sauerstoff aus, den alle Lebewesen als Lebenselixier brauchen, bringen aus sich Nahrung für Pilze, Kleinstlebewesen und Tiere in unerschöpflicher Fülle hervor, geben dem Menschen sein täglich Brot, seine Kleidung, seine Behausung und erfreuen seine Sinne mit bunten, duftenden Blumen und grünen Landschaften.
In ihren stillen Meditationen verbinden sie das, was uns als Gegensatz erscheint: Himmel und Erde - den Vater und die Mutter des Daseins -, die Höhen und die Tiefen, Licht und Dunkel, Wasser und Feuer. Pflanzen sind diesseitig, aber auch jenseitig. Ihre lebendige Leiblichkeit ist hier vor unseren Augen ausgebreitet und unseren fünf Sinnen zugänglich; ihre Geistseele weilt dagegen in der "Anderswelt", in der geistigen Dimension, bei den Göttern und Engelwesen und bei den Seelen der Verstorbenen, die der Wiederverkörperung harren. Wenn wir unser Bewusstsein nach innen wenden, wenn wir die inneren Sinne - das Seelenauge - öffnen, dann können sie uns mit hineinnehmen in diese "Anderswelt". Und da sie wie eine Brücke beide Dimensionen verbinden, können sie uns auch wieder sicher zurückführen auf die diesseitige Seite.
Die Pflanzen verbinden alles; sie sind nicht gespalten, sie sind heil, das heißt heilig. Deswegen können sie heilen und Zerbrochenes wieder herstellen: kaputte, geschundene Körper ebenso wie leidvolles Schicksal, das die karmische Folge von Neid, Gier, Geiz, Hass und anderen Dummheiten ist.
Jede Pflanzenart heilt auf ihre Art und Weise. Jede hat ihr ganz besonderes Verhältnis zu den kosmischen Rhythmen, zu den Jahreszeiten, zu Sonne, Mond und den Planeten. Manche, wie der Bärlauch, stecken voller Frühlingskräfte, im Mai verblühen sie und ziehen sich wieder unter die Erde zurück; andere, wie das Johanniskraut, haben ihre hohe Zeit im Mittsommer, wieder andere dagegen, wie die Astern, Berufskräuter und Goldruten, im Herbst; und einige wenige, wie die Herbstzeitlose oder die Nieswurz, sogar im Winter.
Jede Art hat ihr besonderes Verhältnis zur Erde und zum Wasser: Einige wurzeln tief, andere nicht, einige brauchen Schatten, andere volles Licht, einige leben in Sümpfen, andere auf trockenen, steinigen Böden. Jede Art ist ein Archetypus und in dem Sinn ein Individuum, ein eigenes Wesen, eine "Persönlichkeit". Jede Art - das wusste man noch im Mittelalter - ist mit einer Region des Tierkreises verbunden und hat eine besondere Beziehung zu einem oder mehreren Planeten. Und wenn so ein als Pflanze inkarnierter Archetypus dich auserwählt, indem er an dein Bewusstsein anklopft wie der Heiland an der Seelentür, und du nimmst ihn aus freiem Willen als deinen Freund an und öffnest ihm die Tür, dann kann er auch deine Zerbrochenheit heilen.
Die Pflanzen suchen dich. Sie suchen sich Menschen, so wie der Mensch sich ein Haustier suchen würde, mit dem er Kurzweil treiben und seine Freude haben kann.
Eine andere Art, Pflanzen zu verstehen
Für einen studierten Biologen grenzen solche Gedankengänge natürlich an Wahnsinn. Mein Freund Harald, ein Arzt für Allgemeinmedizin, hält auch nicht viel davon. Er fragte: "Pflanzliche Verbündete, wie soll man das verstehen? Wie können Pflanzen Verbündete sein? Das würde ja voraussetzen, dass sie ansprechbare Persönlichkeiten sind, dass sie fühlen und denken können. Dabei handelt es sich bei ihnen doch nur um stumme, vor sich hinwuchernde Zellgebilde - zugegeben, mit genetischer Programmierung, aber ohne Nerven, ohne Hirn, ohne innere Organe und völlig ohne Bewusstsein.