Maracanã

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XXXI

Bruno lenkte den mit Banditen überfüllten Chevrolet in wilder Fahrt die kurvenreiche Avenida Oscar Niemayer an der Steilküste entlang. „Wie lange wirst du die Zügel ertragen?“, sang er zusammen mit seinen Freunden das Lied von dem Sänger Gabriel Pensador. Bruno schoss zur Untermalung immer wieder mit dem Revolver aus dem offenen Fenster. Die Musik aus dem Radio dröhnte so laut, dass man seine Schüsse kaum hörte.


Até quando você vai ficar usando redéa?

Rindo da propria tragédia?”


Wir sind in einem Rausch, dachte Bruno. Und wir sind im Krieg, auf dem Weg zu unseren Feinden, im Krieg um das Kokain…


Ich werde es allen zeigen. Ich, Bruno, der groβe Drogenboss des Comando Vermelho, des Roten Kommandos, das 70% der Favelas unter Kontrolle hat, gefolgt vom Terceiro Kommando, dem Dritten Kommando. Mächtig und berühmt! Obá! Jetzt geht’s durch den Tunnel! Hier hallen die Schüsse besonders laut. Warum höre ich die Schüsse nicht? , fragte er sich. Ach ja. Claro! Es ist wegen Gabriel Pensador!“ Bruno feuerte wieder wahllos ein paar Schüsse ab, während Gabriel Pensador im Radio pausenlos die Verse des Liedes wiederholte, aggressiv herunterhämmerte und zur Revolte aufforderte:

„At quando voc vai levando porrada, porrada?
At quando vai ficar sem fazer nada?
At quando voc vai levando porrada, porrada?
At quando voc vai ser saco de pancada?


Nach dem Tunnel ging es mit quietschenden Reifen, in eine scharfe Rechtskurve zur größten Favela Südamerikas mit 120.000 Einwohnern, zur Favela da Rocinha.

„Jorge? Kommen die anderen?“, schrie Bruno nach hinten und nahm sich einen neu geladenen Revolver, während er entschlossen den Wagen in die Hauptstrasse der Rocinha lenkte.

„Ja, Bruno!“

„Jetzt holen wir uns Pica-pau, den Specht!" Alle lachten und wussten Bescheid. "Specht" war Spitzname für den wichtigsten Drogenboss Lúcio von Amigo dos Amigos, "Freund der Freunde“, dem drittgröβten Drogenkartell von Rio nach dem Stand im Jahre 2004/05.

"Auf in den Complexo do Alemão, zum Drogenabschlagplatz in der Favela da Rocinha!"

„Auf in den Complexo do Alemão! Pica-pau! O filho da puta de uma merda!”

„Und dann zum Funk!“

„Zum Afro Reggae!“


 
XXXII



Angela rannte aus dem Apartmenthaus in Richtung Strand, zur Avenida Vieira Souto. Ich werde eine Straβenecke weiter gehen, beschloss sie. Diogo soll mich nicht sehen, falls er mir folgt.

Oi, beleza!“, rief ein junger Mann ihr zu, als sie um die Ecke der Rua Texeira de Melo bog. Er versuchte seinen Hund kurz an der Leine zu halten und stoppte direkt vor ihr.

Was will der von mir? , fragte sich Angela und schwieg lieber.

„Wohin so spät des Weges?“

Angela begutachtete den Jungen: ausgebleichte blonde Haare, im Surferlook mit Billabong T-Shirt und Bermudas. Sie fand, dass er Vertrauen erweckender aussah als die riesige weiβe Dogge, die er an der Leine hielt.

„Ich warte auf ein Taxi.“

„Aber alleine ist es nicht ratsam für dich, ich bleibe hier stehen, bis ein Taxi kommt, einverstanden?“

„Na gut.“ Zögernd brachte sie ein kurzes Lächeln zustande. „Normalerweise stehe ich nicht alleine um diese Zeit hier rum. Aber ich hatte Streit mit meinem Freund und so bin ich hier.“

Fica querto, Michael!“, forderte der Junge seinen Hund auf, der sich darauf lammfromm hinsetzte.

Angela lachte. „Ich fragte mich gerade, wer von euch beiden gefährlicher sei: der Hund oder du?“

„Michael ist gefährlicher als ich“, gab der Junge lachend zurück. Ich bin dagegen der brave Mario und wohne ein paar Häuser weiter, gehe nur harmlos mit Michael spazieren, und da Michael an der Leine ist“, er zwinkerte ihr zu, „ist er im Augenblick auch nicht gefährlich, im Gegensatz zu irgendwelchen Banditen.“

„Michael? Ist das nicht ein englischer Name?“ Sie zögerte. „Ich bin Angela.“

„Michael ist eine englische Dogge, benannt nach Michael Owen…“ Angela beobachtete unterdessen, wie die Dogge bei der Nennung des Namens Michael interessiert den Kopf hob und die Ohren spitzte.

„Bist du ein Fan von Michael Owen?“, rutschte es Angela raus“

„Du hast es erraten. - Ich studiere in England.“ Mario hatte sich hingehockt und kraulte seinem Hund den Kopf.

„Aha. Und warum studierst du in England?“

„Hm.“ Er überlegte kurz. „Ich studiere in England, die sind dort in Astrophysik halt weiter. Und du? Was ist mit dir?“ Mario lachte. „Wie kommt es, dass dir der Name Michael Owen geläufig ist?“

„Oh, das ist eine lange Geschichte. Mein Freund ist Fuβballspieler.“

Obá!- Wie heiβt dein Freund?“

„Er ist noch nicht sehr bekannt, spielt im Flamengo und denkt nur an Fuβball. Nicht mal heute will er mit mir zu dem Funkkonzert in der Rocinha gehen. Darum hatten wir Streit.“ Angela atmete die Luft heftig aus.

„Afro Reggae? - Ich wollte auch hin. Wir sind eine ganze turma und haben uns schon auf die heiβe Funk-Party gefreut, aber nach dem Überfall in Vidigal...“ Mario zuckte mit den Schultern. „Ich muss deinem Freund Recht geben, wir wollen auch nicht mehr gehen.“

„Mein Freund ist eifersüchtig! Deswegen will er nicht!“

„Ich verstehe.“ Mario sah sie unschlüssig an. „Wir könnten uns mal treffen, wenn du Lust hast?“

„Ich weiβ nicht…“ Angela zögerte kurz. „Machst du Surf?“


„Kannst du hellsehen?“, platzte Mario raus. „Ja, ich surfe oft drüben am Arpoador.“

„Na, du siehst doch aus wie die Surfer! – Da braucht man nicht hell zu sehen, und auβerdem verbringst du genau so viel Zeit auf dem Wasser wie Diogo auf dem Fuβballfeld!“

Mario lachte. „Du kannst ja drüber nachdenken, ich bleibe bis Januar in Rio, aber ich gehöre nicht zu den fanatischen Surfern, es ist mehr ein Ausgleich zu meinem Studium.“ Mario sah sie forschend an. „Und du, Angela? Was machst du, blonder Engel, du bist doch keine Brasilianerin?“

„Hey! Astrosurfer! Hör auf, mich Engel zu nennen! - Ich arbeite im Sheraton als Reiseleiterin und komme aus Deutschland.“ Angela kramte in ihrer Tasche. „Hier, mein Telefon“, sagte sie und gab ihm ihre Karte. „Aber ganz unverbindlich und ohne Surfbrett und Michael!“

Mario streckte die Hand nach der Karte aus. „Ohne Surfbrett und ohne Michael“, grinste er. „Da! Es hält ein Taxi. Jetzt bin ich beruhigt.“ Er öffnete Angela die Wagentür. „Ich melde mich!“, rief er ihr zu und winkte kurz, als das Taxi losfuhr.
 
XXXII


Benommen schaltete Angela die Nachttischlampe an und blickte auf die Uhr, es war zehn nach Eins.

Da erinnerte sie sich, Diogo erwartete sie vor dem Sheraton. Sie fielen sich in die Arme und schlossen Frieden.

Dann nahmen sie ein Taxi und fuhren zurück ins Apartment. „Wir haben noch die ganze Nacht“, raunte Diogo mir ins Ohr. „In Vidigal ist alles ruhig. Vor Mitternacht ist auf dem Funkball nichts los. Wenn sie nichts mehr in den Nachrichten bringen, können wir später hinfahren.“



„Didi! Wach auf!“ Sie rüttelte ihn solange, bis er erwachte.

„Was willst du?“, kam es schläfrig.

„Das Funkkonzert…“

„Hm..“ Diogo setzte sich auf und blinzelte Angela an. „Wollen wir gehen?“

„Willst du gehen, Didi? Sage es mir ehrlich!“

„Es geht nicht um mich“, meinte er vorsichtig.

„Doch, Didi.“ Angela gähnte. „Seltsam! - Mein Gefühl sagt mir, dass wir nicht hin sollen. Irgendwas in mir sagt nein!“

„Du wirst Afro Reggae in Ipanema bald auf der Strasse sehen.“ Diogo schlang seine Arme um sie. „Mach das Licht aus. Afro Reggae wird zum Karneval ein Straβenkonzert auf der Avenida Vieira Souto geben“, murmelte er noch und schlief sofort wieder ein.



XXXIII


„Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob ich nicht einen Fehler begangen habe. Vielleicht hätte ich nicht auf Tournee nach Europa mitkommen sollen, Nelson.“ Maysa schritt tapfer neben ihm an der windigen Strandpromenade von Rimini her. Bis auf ein paar hungrige Möwen war niemand an diesem ungemütlichen Tag zu sehen.

„Die Kälte in Europa macht mir zu schaffen. Ich habe Heimweh nach Rio mit seiner Wärme.“

Nelson schwieg. Ich weiβ, dass Maysa wieder einmal unglücklich ist und werde sie ausreden lassen, dachte er. Ab und zu kommt sie zu mir, sie braucht mich. Einerseits macht sie einen zähen Eindruck, aber darunter befindet sich ein verletzbares Mädchen voller Angst und Selbstzweifel.

„Auch die Kälte von Fábio!“, sagte Maysa.

Aha! Fábio! Das ist es also! Warum hat sie sich auch mit ihm eingelassen? Maysa, sonst schlau und kämpferisch. Nelson seufzte.

„Was ist mit Fábio?“ Nelson spielte den Ahnungslosen. „Komm, lass uns einen Kaffee trinken und dazu einen Grappa! – Ich habe mich inzwischen auch schon an das Zeug gewöhnt“, meinte er aufmunternd und zog Maysa mit sich in Richtung eines Cafés.

„Dein Pech, Maysa, war, dass du in der kältesten Jahreszeit nach Europa kamst, bald wird es wärmer und dann sieht alles anders aus!“.

Der Kellner erschien, Nelson bestellte die Getränke. Maysa kramte in ihrer Handtasche nach Zigaretten.

„Der Sommer in Europa wird dir gefallen“, versuchte Nelson sie zu beruhigen, während er ihr Feuer gab.

„Ein Mensch braucht Sonne und Liebe, Nelson.“ Sie machte einen tiefen Zug an ihrer Zigarette, blies den Rauch in die Richtung zur Bar. Das Café ist angenehm, dachte sie. Vor allem ist es hier warm! Mir gefällt die glänzend polierte Kaffeemaschine, in den verspiegelten Regalen die Flaschen mit vielen Whisky-Sorten, Brandy und Likören. Bunte Flaschen, die Trost spenden und im Körper Wärme verbreiteten. Sie sah Nelson an. „Du hast das Glück, einen Gefährten in unserer Truppe gefunden zu haben.“ Sie seufzte. „Manchmal ist Silvio dir sogar zuviel, stimmt es nicht?“ Maysa musste lächeln. „Aber du hast ja dann mich und bist mein Kumpel geworden. Nur, was ist mit mir? Was kommt nach Fábio?“ Sie wartete Nelsons Antwort gar nicht ab und fuhr erregt fort: „Ich hatte gestern endlich die Gelegenheit, die SMS von Fábios Handy ablesen zu können, es war ein Glücksfall, Fábio war unter der Dusche und hatte vergessen, sein Telefon auszumachen. Und weiβt du, was ich fand? Er hat eine feste Freundin in Genua und wird sich mit ihr verloben.“

„Dieses miese Schwein!“ brachte Nelson nur heraus.

„Vielleicht hätte ich in Rio bleiben sollen?“

Der Kellner brachte den Kaffee und stellte ihn zusammen mit den gefüllten Grappagläsern umständlich auf den Tisch. Maysa gab sich Zucker in die Tasse und begann nachdenklich umzurühren. „Meinen Job im Plataforma bekomme ich sofort zurück, denn ich bin ausgebildete Tänzerin, das hat man mir damals versichert.“

„Maysa! Man kann nicht immer nur weglaufen, bleibe stark. Odette ist auch nicht weggelaufen. Du und Fábio, ihr hattet euren Spaβ, dann geht jeder wieder seiner Wege, verstehst du?“

„So einfach ist das für mich nicht!“ Sie sog hörbar die Luft ein und atmete heftig aus. „Da ist ja noch Didi…“

„Wer?“

„Didi, mein Jugendfreund! – Diogo heiβt er und spielt beim Flamengo…“

„Ach der! – Ich erzählte dir unlängst über seine Erfolge.- Es wird immer wieder über ihn in der Gazeta do Esporte berichtet. – Diogo ist eindeutig auf dem Weg nach oben!“ Sie nickte und blickte stumm auf ihr Grappaglas; ein kleines zierliches Glas, gefüllt mit durchsichtigem hochprozentigem Schnaps. Kurz entschlossen hob sie das Glas und prostete Nelson zu. „Auf Rio, Nelson. Und auf meinen Didi!“ Dann kippte sie den Inhalt in einem Zug runter. „Ich werde ihn mir schon zurück erobern. Nelson, ich bitte dich um absolutes Stillschweigen!“

Nelson nickte. „Überleg dir gut, was du tust. Und lasse dir gegenüber Fábio nichts anmerken. So hast du einen Joker. Und auβerdem: Europa könnte dir jede Menge Heiratschancen bringen…“

„Mit einem dreiβig Jahre älteren Mann?“ Sie schüttelte den Kopf, düstere Erinnerungen an ihre Kindheit kamen da hoch. Ihr Vater, dieser Dreckskerl! Ihm war nichts heilig! Aber bald hatte sie es raus, ihn sich vom Leib zu halten. Maysa atmete heftig, als sie daran dachte, wie sie die Tür vom Zimmer mit Möbeln verbarrikadieren musste. Wenn er es trotzdem schaffte, den Schrank von auβen wegzudrücken, war sie längst mit ihrer jüngeren Schwester aus dem Fenster geflohen…

„Maysa?“ Nelson sah sie besorgt an. „Du bist ganz bleich im Gesicht! Geht es dir gut?“

Não há crise! Nelson. Mir geht es gut!“ Sie sah ihn fest an. „In meinem Leben brauchte ich mich nie zu prostituieren! Dank meiner Begabung als Tänzerin hatte ich das nicht nötig.“ Maysa stockte. „Bis auf diesen einen Abend in Rio, du weiβt, leider haben Tänzerinnen den Ruf, nebenbei programa zu machen, aber nicht ich!“

Nelson schwieg. Was will sie nur? Hoffentlich vermasselt sie sich nicht die Chancen, die ihr noch bleiben. Aber noch ist nichts entschieden.

„Bleib realistisch, Maysa!“

„Darauf kannst du dich verlassen, mein Freund!“
 
XXXIV


Die Nachricht verstörte sie alle. Paquetá stand ernst vor seinen Spielern an diesem grauen, mit Wolken verhangenen Donnerstagmorgen.

„Marcelo hat angerufen. Er kommt heute nicht zum Training. Und wenn wir Pech haben, wird er am Sonntag im Maracanã nicht mitspielen!“

„Was?“ Bestürzt riefen die Spieler durcheinander.

„Ruhe!“ Paquetá lieβ den Blick über den Rasen wandern. Dann sah er seine Jungs einen nach dem anderen fest an und sprach mit ausdruckslosem Gesicht: „Marcelos Schwester und ihr Freund sind gestern auf dem Weg zu einem Funkkonzert in der Rocinha ums Leben gekommen. Sie wurden von Banditen aus einem fahrenden Auto erschossen!“

Niemand sprach, Fassungslosigkeit breitete sich aus. Diogo dachte an Dienstagabend, als Roselyn noch am Leben war. Sie freute sich auf das Konzert von Afro Reggae. Diogo kämpfte gegen die Tränen an, dann räusperte er sich und sagte laut:„Ich gehe zur Beerdigung!“

„Ich gehe auch!“ Whellitons Gesicht drückte Entschlossenheit aus. Carlos Alberto nickte stumm.

„Wir gehen zur Beerdigung!“, riefen alle einstimmig.

„Ruhe!“ Paquetá winkte dem Co-Trainer und bedeutete ihm zu kommen. „Ihr absolviert jetzt euer Training, wie an jedem Tag auch, mit der Ausnahme, dass ich euch nach einer einstündigen Pause zwei zusätzliche Stunden trainieren lasse. „Ich werde mich dafür einsetzen, dass der Club uns einen Bus zur Verfügung stellt, der uns morgen zur Beerdigung bringen wird. Wir alle werden Marcelo in dieser schweren Stunde zur Seite stehen; Marcelo ist Vollwaise und hatte nur diese Schwester, sie war erst sechzehn.“ Paquetá behielt seine Spieler fest im Auge. „Und er ist der Kapitän der Mannschaft. Aber auch wenn Marcelo am Sonntag nicht gegen Botafogo spielt, ist das kein Hinderungsgrund zu siegen. Ist das klar?“

„Ja!!“, antworteten alle im Chor. – "Wir siegen!“ Paquetá nickte.

„Wir beginnen mit Paarlauf, dann folgen Intervallsprints und Geschwindigkeitstraining“ rief Carlos und pfiff an. Paquetá verlieβ schnellen Schrittes das Fuβballfeld.
 
XXXV



„Das Spiel wird morgen für mich sehr entscheidend!“ Diogo blickte abwesend durch die Wipfel der hohen Kaiserpalmen des Botanischen Gartens hinauf zur Christusstatue. Er atmete tief die Morgenluft ein. „Es könnte mein Durchbruch werden. – Aber schaffe ich es ohne Marcelo? - Wir wissen nicht, ob Marcelo morgen spielt!“ Diogo bog von der Hauptallee nach links ab. Angela betrachtete schweigend die Luftwurzeln der riesigen Gummibäume. Was sollte sie auch dazu sagen? Hier im Schatten ist es ein wenig kühler, dachte sie erleichtert, die Luft ist noch frisch und es riecht nach Pflanzen. Sie wischte sich die Schweiβperlen von der Stirn. Seit dem Tod von Marcelos Schwester ist Diogo nicht mehr der unbeschwerte Junge, dachte sie.

„Didi! Du darfst nicht in eine Depression fallen. So wirst du kein Sieger. Wenn alles glatt geht, das ist einfach. Aber auf dem Weg gibt es auch Hindernisse!“


„Gibt es Vorahnungen?“ Er schwieg nachdenklich.

„Ich bin Kämpfer, Angela; wie oft musste ich mich durchbeiβen. Gib niemals auf, lautet mein Leitspruch!“ Er schüttelte den Kopf. „Es geht nicht darum; es geht um meinen Freund Marcelo und darum, dass ich ihm nicht helfen kann.- Ich fühle mich wie ohnmächtig. Warum sind Traurigkeit und Fröhlichkeit oft so nah beisammen?“ Diogo blieb abrupt vor Angela stehen. „ Marcelos Schwester musste wegen irgendwelchen Bandenkriegen sterben. Warum nur? Warum?“ Diogo schüttelte den Kopf. „Und gleichzeitig steckte mir gestern Nandinho eine Neuigkeit über die Nationalmannschaft zu. Ich komme meinem Traum näher, – nur kann ich mich nicht mehr darüber freuen!“ Angela umarmte ihn und sagte nichts.

„Warum ist das Leben so grausam, Angela?“ Er stieβ den Atem hörbar aus, fast wie ein Aufschluchzen.


In diesem Augenblick klingelte Diogos Telefon. „Alô!“, meldete er sich gleich.

„Didi.“

„Marcelo, endlich! Wie geht es dir?“

„Besser, Didi.“ Aus Marcelos Stimme klang Niedergeschlagenheit. „Meine Schwester Roselyn liegt unter der Erde, Didi! Niemand kann sie wieder zum Leben erwecken…“

„Marcelo, es tut mir so leid!“

„Ich danke dir, dass du und die anderen zur Beerdigung kamen.“ Pause. „Didi, ich bin fest entschlossen, morgen im Maracanã zu spielen...“ Seine Stimme macht mich noch trauriger, ich fühle mich hilflos, dachte Diogo.

„ Marcelo…“

„Roselyn wird nichts dagegen haben.“ Pause. „Bei uns in der Rocinha sollen nun 1200 Militärpolizisten für Ruhe sorgen.“

„Und?“, fragte Diogo.

„Einige Nachbarn fühlen sich sicherer, andere beschweren sich schon über Erpressungen von korrupten Polizisten! - Bis morgen, Didi. Wir reden noch. Ich spiele morgen, weil auch ich an meinem Traum festhalte. Ich habe bereits mit Paquetá gesprochen. Er war sehr erleichtert.“

Tchau camarada!“

Tchau!“ Marcelo legte auf.


„Angela, dass wir nicht zum Konzert sind, hat uns vielleicht das Leben gerettet!“ Diogo drückte ihre Hand. „Die Banditen haben Roselyn und die beiden anderen Jungs zufällig erschossen. Sie zielten einfach wild aus ihren Autos in die Menschenmenge!“

„Und es waren Banditen von Vidigal, nicht wahr?“

„Bruno behauptete nein.“ Bruno ist gefährlich, dachte Diogo. Bruno sagt dir die freundlichsten Sachen und denkt was ganz anderes! - Wie weit kann ich überhaupt meinem Cousin noch vertrauen? „Bruno sprach etwas vom Shopping Center an der Barra, das wollten sie überfallen, aber nachdem die Polizei schon mit dem Hubschrauber hinter ihnen her war, seien sie geflohen…“

„Ich glaube ihm kein Wort!“

„Die Banditen richteten im Complexo do Alemão ein Blutbad mit Granaten und MP’s an.“ Er seufzte. „Nachdem sie Pica- Pau nicht erwischten, haben sie sich schnellstens davongemacht, bevor die Polizei anrückte.“

Pica-Pau?“, fragte Angela. „Wer ist Pica-Pau?“

„Der Drogenboss der Rocinha.“

„Aha.- Die schlimmsten Verbrecher und dazu solche exotischen Namen! Heiβt Pica-Pau nicht Specht? – Dass ich nicht lache!“ Diogo nickte.

„Die Banditen waren von Vidigal! Da bin ich mir fast sicher. Und Bruno hüllt sich in Schweigen!“ Diogo schlug die Richtung zum kleinen See ein. „Ich bin erleichtert, dass Marcelo morgen spielt.“

„Denke an das Spiel morgen gegen Botafogo, Didi! Du schaffst das!“

„Das ist wahr. Morgen um diese Zeit bin ich mitten drin. Das erste Mal in meinem Leben werde ich auf dem Rasen vom Maracanã spielen…“

„Didi! Du bist inzwischen der beste Torschütze vom Flamengo! Und du hast dich gut vorbereitet!“ Sie hakte sich bei ihm ein.“ Und Marcelo spielt. - Ich habe extra für dich Schwarze Bohnen gekocht, damit du bei Kräften bleibst!“, versuchte sie ihn aufzuheitern.

„Glaubst du?“ Diogo seufzte. „Ein wenig Lampenfieber habe ich schon, aber durch die schwarzen Bohnen erwachen ungeahnte Kräfte.“

„Jetzt höre auf mich zu verspotten“, warnte sie ihn lachend. „Sonst koche ich keine mehr!“

„Na ja.“ Er blieb vor ihr stehen und sah sie an. „Wir können bald heiraten. Du hast die wichtigste Prüfung, um die Ehe mit einem armen Brasilianer zu vollziehen, bestanden.“ Er zögerte. „Wenn du die nötige Geduld für mich und meinen Fuβball mitbringst?“

„Dein Fuβball? – Ich wundere mich, dass du ihn hier nicht dabei hast. Ach ja, hier im Botanischen Garten ist es verboten.“ Inzwischen waren sie am See angelangt und setzten sich auf eine der Bänke.


„Ich liebe meinen Ball seit meiner Kindheit, und jetzt liebe ich auch dich.“

„Wie genau stellst du dir deine Zukunft vor, Didi?“ Sie beobachtete ihn aufmerksam. „Glaubst du, es kommt ein Vertragsangebot von einem groβen Club aus Europa?“

„Und wenn es käme?“ Er drückte ihre Hand und zwinkerte. Solche Dinge sollen schon vorgekommen sein…“

„Gleich morgen?“, neckte sie. „Dann wärst du auf einmal nicht mehr arm…“

„So schnell kommt ein Angebot sicher nicht.- Aber das Spiel im Maracanã ist entscheidend, um auf mich aufmerksam zu machen!“

„Wirklich?“ Angela betrachtete die Victoria Régia Seerosen, zartrosafarbene Blüten, auf groβen runden Blättern schwimmend.

Angela sog die Luft ein, das Wasser roch ein wenig modrig. Das ist Brasilien, dachte sie. Oberhalb des Wassers schwimmen die schönen Seerosen, darunter ist Sumpf, ein Sumpf von Millionen Armen, Ausbeutung und Korruption…

„Es war Nandinho, mein Physiotherapeut“, hörte sie Diogo. „Du glaubst nicht, wieviel Zeit ich mit ihm verbringe. Er massiert mich täglich und gibt mir geistige Kraft mit seinen Fähigkeiten…“

„Was wird gemunkelt, Didi?“

„Es soll ein Telefongespräch des Nationaltrainers mit Paquetá gegeben haben.“

„Und?“

„Nandinho sprach davon, dass man an mir interessiert wäre…“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, das wäre einfach noch zu früh, aber wer weiβ... „Nandinho bremst mich immer wieder, wenn ich zu ehrgeizig bin. Er sagt, ich besitze den nötigen Willen und die Disziplin. Die Götter seien mit mir und werden mir den Weg ebnen. Ich solle einfach vertrauen.“

„Würde sich an deinem jetzigen Leben etwas ändern?“ Sie schaute kurz zu Diogo rüber. Er schien zu überlegen. „So schnell erst mal nicht.“
 
XXXVI



Das Maracanã hatte sich in einen Hexenkessel verwandelt. Neunzigtausend Menschen hatten sich versammelt, fieberten dem Entscheidungsspiel von Flamengo gegen Botafogo entgegen.

Angela und Claudia hatten die rotschwarzen Trikots des Flamengo angezogen und saβen mitten unter den Zuschauern ihres Teams. Der Lärm war ohrenbetäubend. Böllerschüsse krachten los. Die Musiker trommelten dröhnend laute Rhythmen und die Menschen sangen die Hymne des Flamengo: „Einmal Flamengo, immer Flamengo… Flamengo werde ich immer sein…“

Dann kamen die Spieler auf den Rasen. Angela sah Diogo und schrie begeistert los.

Die Fahnen tanzten in einer verrückten Choreographie von Rot und Schwarz.

Das Spiel wurde angepfiffen.


Zunächst war es ein ruhiger Spielanfang. Ein Abchecken des Raumes. Dann in der siebten Spielminute konnte Diogo sich gegen seine Gegner vom Botafogo frei kämpfen und schoss das erste Tor. Das gesamte Maracanã Stadium erzitterte durch die tobenden Fans. Wie eine elektrische Welle, eine Schwingung, die einen packt und sich auf alle Menschen überträgt. Eine Welle, die sich steigert und noch mehr steigert und einen fortreiβt.

Das Triumphgeschrei wurde noch lauter. Angela und Claudia sprangen von ihren Sitzen auf und schrieen die Hymne des Flamengo mit: „Einmal Flamengo, immer Flamengo… Flamengo.“ Unten rannte Diogo zu Marcelo und Zinho und umarmte sie. Weitere Knallkörper explodierten zusammen mit der Stimmung der Flamengo Fans. Ein rotschwarzes aufgepeitschtes Meer. Getrommel und Samba in einer wilden Orchestrierung der tobenden Menge.

Das Spiel schritt weiter fort. Es folgten viele Zweikämpfe. Angela musste mit ansehen, wie Diogo mehrmals gefoult wurde, aber er konnte das anscheinend gut einstecken. Einmal hatte er ein sehr gutes Timing. Die Flanke wäre perfekt gewesen, da kamen Gilmar und Hugo vom Botafogo dazwischen und Marins war es dann, der ihn foulte. Diogo hatte keine Chance gegen drei Verteidiger. Schrilles Gepfeife und zornige Buhrufe von den Flamengo Fans, während Marins direkt in Diogos Bahn hinein lief. „Filho da Puta, Filho da Puta“, schrieen sechzigtausend Zuschauer aufgebracht im Chor. Dann, endlich Freistoβ für Flamengo.

In der neunundzwanzigsten Minute wechselte Botafogo den Stürmer Almir gegen Fernando aus.

„Oh je“, schrie Angela in Claudias Ohr.

„Warum oh je?“, wollte Claudia wissen.

„Fernando ist ein Mittelfeldspieler, so wie Diogo.“

Keine zwei Minuten nach dem Auswechseln, schoss Hugo vom Botafogo durch Fernandos Hilfe ein Tor. Es stand eins zu eins, das Maracanã war aufgeheizt und kochte geradezu. Jetzt ging es noch mehr zur Sache. Flamengo musste stärker kämpfen und spielte spektakulären Offensivfuβball. Angela beobachte Diogo, verfolgte jeden seiner Spielzüge. Er war auf dem Feld wie ein wildes Tier. Wie entrückt von dem ganzen Trubel um ihn herum spielte Diogo, der Dinge machte, die seine Gegner nicht erwarteten. Unten auf dem Grün spielte sich ein erbitterter Kampf ab. Diogo lieferte mehrere Chancen an seine Mitspieler. Aber nichts klappte. Einmal war es Jean, der den Ball über das Tor verschoss, dann wieder kam der Ball viel zu langsam an und Jefferson, der Torwart vom Botafogo, konnte ihn halten.

Endlich in der vierzigsten Minute das Tor von Whelliton! Endlich! Das Spiel konnte von Flamengo gedreht werden.

Ein Jubelgeschrei brach los. Sechzigtausende sprangen von ihren Sitzen auf und sangen die Hymne: „ Uma vez Flamengo, sempre Flamengo… Flamengo leuchten sehen, ob auf dem Land, auf dem Meer… gewinnen, gewinnen, gewinnen werden wir.“
 
Zweites Buch

Vidigal



I


Bruno saβ mit Armando und den Freunden zusammen in der Bar do Zéquinha, unten von Vidigal und hörte sich die Übertragung des Spiels Flamengo gegen Botafogo, im Radio an. Im Fernsehen würde es erst am Abend gezeigt werden. Jean hatte in der fünfundsiebzigsten Spielminute ein Tor geschossen und so führte Flamengo mit drei zu eins gegen Botafogo.

Keine fünf Minuten später, in der achtzigsten Minute, die Stimme des aufgeregten Sprechers im Radio: „Gol von Diogo!!! Gol!!! Gol!!! Gooooooooooooooool!“

„Didi hat sein zweites Tor geschossen“, rief Bruno und sprang auf und bestellte eine weitere Runde Zuckerrohrschnaps für alle. „Geht auf meine Rechnung“, rief er dem Kellner zu.

„Dein Cousin spielt sensationellen Fuβball.“ Armando trank sein Glas aus. „Hat dir der Argentinier schon geantwortet?“

„Hat er. Aber ich soll mich erst Anfang Januar bei ihm melden, er musste nach Mexico und nach Kolumbien.“ Armando nickte.

„Der Mann war ziemlich arrogant.“

„Arrogant?“

„Genau.“

„Hm. Wir sollten ein Video von Diogo machen und es ihm schicken. Dann wird ihm seine Arroganz schon vergehen.“

„Dann merkt Didi es.“

„Macht doch nichts. Du willst ihm ja nur helfen. Dass du dann prozentuell beteiligt sein wirst an der Transaktion, braucht dein Cousin nicht zu erfahren.“

„Gute Idee, mach ich!“

Armando stand auf. „Komm, lass uns aufbrechen. Ich erwarte heute noch einige Kunden.“


„Wann kommt der Händler?“, wollte Bruno wissen, während sie zum Brückchen einbogen.

„Mittwochvormittag.“ Armando blieb mitten auf der Brücke stehen und überlegte. „Das ist ein wichtiger Verteidigungsplatz!“ Er war ganz in Gedanken. „Wenn man von hier aus Posten aufstellt, ist der gesamte Teil unseres Reviers uneinnehmbar.“

„Du hast Recht!“ Bruno blickte hinunter, dann nach oben. „Hier wird heute noch ein Posten mehr mit einer Maschinenpistole hingestellt. Da kommt dann keiner mehr rein.“

„Mittwoch werde ich einiges einkaufen. Und ich habe so ein Gefühl, dass wir die Waffen bald brauchen.“ Bruno nickte und spuckte hinunter in den Graben.

„Die von der Favela Rocinha werden reagieren. Sind die Arbeiten gestern noch fertig geworden?“

„Ja, ja.“ Armando lachte. Unter meinem Haus ist jetzt Platz für ein ganzes Waffenlager. Da kann die Polizei lange suchen. Als nächstes wird ein Pool gebaut und eine Sauna!“

„Sauna auch?“

„Ich will mein Haus zu einer richtigen Villa ausbauen.“ Armando gluckste.“ So wie das Haus von Pica-Pau! – Dieser Hurensohn hat auch eine Sauna, verstehst du? Und einen dicken schwarzen Jeep.“ Bruno lachte.

„Wir haben so viel Geld und können es gar nicht alles ausgeben, verstehst du Bruno? Vidigal ist unser Schutz, aber auch unser Gefängnis. Genauso geht es Pica-Pau in der Rocinha. Wir sind und bleiben Banditen!“

„Pica-Pau? Filho da Puta!“ Bruno spuckte aus. „Dem seine Tage sind gezählt!“

„Ich will meine Position ausbauen, solange Bubu noch im Gefängnis sitzt“, überlegte Armando laut. „Aber ich weiβ, dieser Hurensohn kommt uns zusammen mit denen von der Rocinha besuchen. Dann wird es richtig losgehen…“
 
II


Es war spät am Abend, als Diogo beim Hotel Sheraton eintraf, um Angela abzuholen. Er betrat die Lobby. „Oba, Diogo! – Viva o Mengão!“ , raunten die Security Wächter ihm zwinkernd zu. „Du hast heute zwei Tore für Flamengo geschossen!“

Diogo machte das Siegeszeichen, eilte zu einem der Telefone und rief Angela in ihrem Apartment an.


Heute habe ich allen Grund, um mich zu freuen, ich gehe in dieses Hotel hinein, man kennt mich und weiβ, dass ich mit Angela zusammen bin. Heute fühle ich mich als Sieger! Er seufzte. Nur wo bleibt meine Freude? Ich fühle keine wirkliche Freude, denn ich muss an Marcelo denken und an den Tod seiner Schwester.


„Didi!“ Angela stand vor ihm. „Alles in Ordnung?“

Oi, meu amor!“ Er nickte.

„Ich freue mich für dich, mein Didi!“

Er lächelte sie an. „Taxi, oder traust du dich den Weg zu Fuβ zu gehen?“

„Taxi.“ Sie drückte seine Hand.


Ein bisschen unheimlich ist mir, dachte Angela, als sie mit Diogo den Aufstieg zur Favela begann. Es gibt kaum Straβenlaternen. Die Treppen nehmen kein Ende, überall Schmierereien mit Graffiti, wo ich hinschaue, steht CV und Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit.

„Was bedeutet CV?“, fragte sie Diogo.

Comando Vermelho!“ Diogo sprach ziemlich laut, um den Lärm aus den offenen Fenstern der Hütten zu übertönen. Laute Stimmen und Gelächter, Teller und Besteckklappern, untermalt von Fernsehen und Musik, die aus den offenen Hauseingängen drang. Angela sah Papageien und Kanarienvögel in Käfigen und Blumentöpfe, die an Balkongeländern hingen. Herumstreunende Hunde kläfften.

„Comando Vermelho?“ Angela verstand nichts. „Was ist das?“

„Comando Vermelho ist das mächtigste Drogenkartell in Rio.“ Diogo sprach gedämpft.

Plötzlich tauchten zwei Jugendliche in Bermudas und Hawaii-Plastiklatschen vor ihnen auf. Angela erstarrte. Sie waren mit dunklen Mützen maskiert und trugen Maschinenpistolen.


„Oi Didi!“, riefen die Jungs. „Schieβ weiterhin so gute Tore!“ Sie winkten übermütig mit ihren Gewehren und verschwanden in der Dunkelheit.

„Wer waren die?“, fragte Angela nervös.

„Das sind die Wachen in Vidigal, die Soldaten vom Comando Vermelho. Du brauchst keine Angst zu haben, alle kennen mich.“

„Oh, wie beruhigend. – Ich komme mir vor wie im Krieg! Und warum Wachen? Warum Wachen mit Maschinengewehren?“ Na, das kann ja heiter werden, dachte Angela.

„Sicher sind die Soldaten wegen der Drogen auf Wache?“

„Ja, so ist es. Vidigal muss wachsam sein, Angela. Zwischen Vidigal und Rocinha ist Krieg!“

„Diesmal waren die von Vidigal die Ersten...“

„Bald kommt die Antwort von der Favela Rocinha.“ Diogo grüsste ein paar Männer, die vor einem Hauseingang saβen und Karten spielten. „Oi Didi!“, riefen sie ihm zu. „Du hast zwei geniale Tore geschossen!“ Diogo winkte ihnen lachend zu.

„Ist es wirklich ungefährlich für mich, mit dir zu kommen?“, fragte Angela vorsichtig.

„Man sagt, eine Favela hat tausend Augen! Keine Angst. Mein Cousin weiβ über Vidigal besser Bescheid. Er ist der rechte Arm vom Drogenboss, und der wohnt bei uns nebenan.“

„Was? Jetzt erfindest du wieder eine Geschichte! Das ist nicht lustig, mit sowas anzugeben!“

„Klischees?“ Er kicherte. „Frag Bruno doch. Nur meine Tante hört die Geschichten nicht so gerne. Sie steckt ihren Kopf lieber in den Sand und will nichts damit zu tun haben. Meine Tante geht brav jeden Tag in ein Restaurant kochen und nimmt von Bruno kein Geld, auβer in einem Notfall.“

„Deine Tante wohnt ganz schön weit oben“, bemerkte Angela, während sie schnaufend die vielen Treppen hinter Diogo hinaufstieg.

„Sie wohnt seit fünfundzwanzig Jahren hier, da konnte man noch die guten Grundstücke aussuchen. - Wir sind gleich da. Dafür gibt es etwas Gutes zu essen, nur noch diese Treppe, dann hast du es geschafft.“

Das Haus seiner Tante war, wie die anderen Häuser auch, aus rohen Ziegeln gebaut und besaβ ein Wellblechdach. Die Haustür stand offen und auf der Treppe vor dem Eingang saβ ein junger Mann und rauchte eine Zigarette.

„Da seid ihr ja“, rief er ihnen zu. Bruno erhob seinen leicht fülligen Körper und begrüβte sie mit seiner überschwänglichen Art.

Alô, Cousin.“

Oi, du groβartiger Fuβballer!“ Er betrachtete Diogo abschätzend. „Na? Hast dich ja richtig in Schale geworfen!“

„Das ist Bruno, mein Cousin.“

Alô, Angela, sei willkommen.“ Bruno stand da und versuchte herauszufinden, wie Diogo es geschafft hatte, solch eine Schönheit erobert zu haben. Dann aber schüttelte er derlei quälenden Gedanken von sich ab und führte sie ins Haus hinein. „Mãe?“, rief er in die Küche. „Sie sind da!“ Dona Maria Luisa stand vor einem alten Gasherd mit Propangasflasche, in einer Küche voller Dunstschwaden. Ein starker Geruch nach Knoblauch und irgendwelchem Frittiertem kam ihnen entgegen. Dann eilte Maria Luisa sogleich auf Angela zu.

„Angela, nicht wahr?“ Sie wischte sich die Hände an ihrem Baumwollkleid ab. “Angela!“ Maria Luisa betrachtete sie neugierig. „Didi hat mir so viel über dich erzählt“, sie strahlte. „Setzt dich, setz dich, Angela."

„Ich geh mit Angela erst auf die Terrasse, Tante.“

„Ja, ja. Gehe nur, mein Junge“, rief sie und machte sich weiter an ihren Töpfen zu schaffen.

Diogo führte Angela durch den Flur und öffnete eine Tür.

„Das ist eine Überraschung!“, rief sie aus. Es war eine groβe Dachterrasse. Sie lehnte sich an die niedrige Mauer, blickte hinunter auf die vielen tausend Lichter der Favela und der Stadt Rio. Diogo hatte sich dicht hinter sie gestellt und schlang die Arme um sie.
 
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Sie schwiegen beide. Von unten drang der Verkehr der Groβstadt herauf, vermischte sich in einer gewaltigen Kakophonie, mit dem Lärm der Favela. „ Manchmal, wenn ich über das Leben nachdenken will, stehe ich hier und blicke hinunter und denke an meine Zukunft, an meine Hoffnungen und Ziele, die ich mir gesteckt habe. Das gibt mir die Kraft!“


Das hier ist viel lebendiger als der Blick aus dem siebzehnten Stock im Apartment vom Hotel, dachte Angela. Zwischen Wäscheleinen auf der Dachterrasse blickt man hinunter auf das Leben. Irgendwo aus der Ferne hörte man Musik eines Funkballes. Ich bin Didis Charme längst erlegen, , der Zug braust in Höchstgeschwindigkeit dahin, ich kann nicht mehr aussteigen dachte Angela.

Er nahm ihre Hand und ging mit ihr zurück in die Küche.
Angela setzte sich auf einen der Grünen Plastiksessel vor den Fernseher und versuchte ein Lächeln aufzusetzen. Der Fernseher mit Breitwandflachbildschirm und DVD Player sah teuer aus. Auch die CD Anlage.

Bruno kam mit Gläsern und Bierflaschen an den Tisch.

Da bemerkte Angela am Fenster einen hohen Ständer mit einem Amazonas-Papagei, der begonnen hatte, immer wieder Loro vor sich hin zu rufen.

„Loro! Fica querto!“, ermahnte Bruno ihn und kraulte ihm am Kopf, aber ohne Erfolg, der Papagei kreischte weiter. Bruno holte eine Banane und fütterte ihn. „Loro macht, was er will!“, meinte Bruno und kraulte ihn erneut am Kopf, was dem Papagei zu gefallen schien, denn er beruhigte sich und saβ dann brav auf seiner Stange.

„Ich habe ihn schon zwei Jahre“, erzählte Bruno und brachte Guaraná. „Loro ist mein Ein und Alles.“ Bruno zwinkerte Angela zu. „Didi? Guaraná?“

Diogo nickte abwesend, er verfolgte im Fernsehen gerade eine Show. Bruno öffnete die Flaschen und schenkte in die Gläser ein. „Der Fernseher war ein Geschenk für meine Mutter zum Geburtstag.“ Er lachte. „Das musste sie ja annehmen.“

Angela schwieg. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und starrte auf die Familienfotos und Plastikblumen auf der Kommode. Darüber prangte ein Bild des Heiligen Georg, hoch zu Ross mit seinem Schwert den Drachen bekämpfend. Auf der anderen Wand ein Druck des Abendmahls von Leonardo.


„Du hast uns ja ein Festessen gekocht!“ Diogo bestaunte die vielen dampfenden Tontöpfe auf dem Esstisch.

„Es gibt moqueca! Ich habe besonders groβe Krabben gekauft und sie langsam in Kokosmilch geschmort! Ein Rezept von meiner Mutter aus Bahia“, sagte Maria Luisa ein wenig stolz.

„Und was ist in den anderen Töpfen, Tante?“

Pirão, quiabos, maxixe und geschmorter Kürbis.“ Es gab auch gebratenes Hähnchen, Reis und schwarze Bohnen und eine Schüssel mit gemischtem Salat, dazu Weiβbrotscheiben und farófa mit gebratenen Speckwürfeln drin, Zwiebeln und klein gehackte, hart gekochte Eier und Oliven.

„Bravo!“, rief Bruno und setzte sich Angela gegenüber, langte gleich quer über den Tisch, stürzte sich auf die Moqueca, verschlang alles hungrig und erzählte dabei mit vollem Mund irgendwelche witzigen Geschichten, während er dabei glucksend lachte und mehrmals laut rülpste.

„Ich habe auch Erdbananen gebraten.“ Maria Luisa schaute zu Angela. „Gib mir deinen Teller.“ Die groβen Krabben im Tontopf rochen nach Knoblauch und Kokosmilch.

„Das ist wirklich gut, aber es ist sehr scharf…“, sagte Angela vorsichtig.

Diogo schenkte Bier in Angelas Glas. Das Bier ist meine Rettung, dachte Angela und trank, um endlich das scharfe Gefühl im Mund loszuwerden.

Maria Luisa strahlte. „Als Nachtisch gibt es quindim...“

Quindim?“, fragte Angela.

„Ein Pudding aus Eigelb und frischer geriebener Kokosnuss.“

„Meine Mutter kocht den besten quindim der ganzen Stadt“, lobte Bruno laut schmatzend und rülpste gleich nochmals.

Zum Schluss brachte Dona Maria Luisa Kaffee und einen Kuchen. Bruno stand auf , holte eine Flasche pinga Marke Pitú und stellte sie auf den Tisch.

„Du sollst nicht so viel trinken“, ermahnte ihn seine Mutter. Bruno ging zu seiner Mutter und umarmte sie. „Mãe, heute ist ein Grund zum Feiern. Flamengo hat gewonnen, mãe.“ Er gab ihr noch einen dicken Kuss auf die Wange. Dann brachte er dicke Wassergläser herbei; war doch Brunos Lebensphilosophie in seiner freien Zeit zu koksen, oder pinga bis zum Umfallen zu trinken und Funk dabei zu hören.

„Ich werde mich zum Fernseher setzen, damit ich meine novela nicht verpasse“, sagte Maria Luisa.

„Ja, ja, Mutter. Geh ruhig.“ Bruno lachte. „Sie sieht sich die Telenovela jeden Sonntagabend an.“ Er goss pinga ein und schob Diogo und Angela grinsend die Gläser hinüber.

„Bruno, das ist mir zu stark“, sagte Angela, worauf Diogo aufstand und sich mit Angelas Glas am Eisschrank zu schaffen machte. Angela hatte Bruno die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Er wirkt eigentlich harmlos, aber er hat einen unruhigen Blick. Er sieht einen an, aber eben nicht richtig an.

Ein lautes Krachen schreckte sie auf Es war Diogo, der mit einem Holzbrett auf Eiswürfel einschlug.

Oba, Cousin! Du bist ja gewalttätiger als ich!“, prustete Bruno los.

Diogo drehte sich zu ihm um, sagte aber nichts darauf, dann gab er das Eis in Angelas Glas, füllte es mit Zuckerrohrschnaps und brachte es ihr. Sie prosteten sich zu. Diogo rührte sein Glas nicht an und trank weiterhin Guaraná.

„Komm, Cousin! Sei nicht so langweilig“, hänselte ihn Bruno. „Einmal ist keinmal. Du hast doch allen Grund heute zu feiern.“

„Na gut, Bruno.“ Sie stieβen an.

„Auf den Fuβball und deinen Erfolg!“ Bruno lachte in sich hinein. Mein Erfolg kommt dann, wenn ihr es am wenigsten erwartet. „Erzähl vom Fuβballspiel, Cousin“, bat Bruno.


Diogo beschrieb die wichtigsten Passagen des Spiels. Sie hatten ihre Gläser ausgetrunken und Bruno spielte eine CD mit brasilianischem Funk und füllte erneut pinga in die Gläser. Maria Luisa hatte sich längst verabschiedet, sie war müde und ging zu Bett.


Angela fasste sich endlich ein Herz und fragte Bruno, ob es wahr sei, dass er im Drogengeschäft arbeite.

„Und wenn es so wäre?“ Bruno zwinkerte ihr zu und zündete sich eine Zigarette an.

„Didi sagte, du seiest die rechte Hand von deinem Drogenboss.“

„Ja genau. Ich bin gerente.“

Gerente?“

„Ja.“

„Was ist das?“ Sie sah ihn verständnislos an.

„Bei uns herrscht eine genaue Ordnung, ich bin der Geschäftsführer in unserer Firma und trage eine Menge Verantwortung“, beantwortete er ihre Frage. Er hatte sich lässig nach hinten gelehnt und blies den Rauch seiner Zigarette nach. Jetzt fixierte er ihre Augen. Angela hielt seinem Blick stand. „Firma?“, fragte sie.

„So nennen wir unser Geschäft. Bei uns ist alles genau organisiert.“

„Aha.“ Angela verstand gar nichts. „Und was ist bei euch organisiert? Ich möchte mehr darüber erfahren.“

Bruno kratzte sich am Kopf. „Was willst du wissen?“

„Wie kamst du dazu?“

„Ich begann als Siebenjähriger mit Kurierdiensten.“ Bruno drückte seine Zigarette aus und verschränkte die Arme vor der Brust. „Danach habe ich Drachen steigen lassen, um vor der Polizei zu warnen. Wenn die Banditen kamen, holte ich den Drachen schnell herunter. Da wusste unsere Firma, dass die Polizei anrückte.“ Er grinste. „Manchmal wird auch einfach der mato, der Urwald oder Busch, angezündet, um zu warnen, oder nachts wird eine Leuchtrakete hoch geschickt. - Mit neun Jahren haben sie mich zum Verkäufer befördert, da ich einer der begabten war wurde ich mit zehn Jahren Soldat.“

„Was macht ein Soldat bei euch?“ Angela trank von ihrer Caipirinha. Es war eine ungewöhnliche Situation. Sie saβ inmitten der Favela, hatte einen Drogenhändler vor sich sitzen und hatte keine Angst, denn Diogo war bei ihr, und das war sehr beruhigend.

„Soldaten sind bewaffnet und schützen das Viertel. Bei uns in der Favela müssen drei Regeln eingehalten werden: Es ist verboten, zu vergewaltigen, zu stehlen und zu verpfeifen“, sagte er und schwieg. Schlieβlich meinte er:

„Die Polizei hat jetzt mehr Respekt vor uns, seitdem wir bewaffnet sind. Die können nicht mehr einfach mal zu uns herein kommen und wie wild um sich schieβen, wir haben hundert

bewaffnete Soldaten bei uns im Vidigal.“

„Ja, aber ihr tötet auch die Menschen, die ihre Schulden nicht bezahlen“, warf Diogo ein.

„Strafe muss sein, Cousin.“

„Muss man den anderen gleich in Stücke schneiden, wie ihr es vorigen Monat gemacht habt?“ Diogo schüttelte unwillig den Kopf.

„Er war Informant. Ein Verräter muss sterben, und wir töten als Exempel.“

„Exempel nennt ihr das, wenn ihr Menschen grausam zurichtet? Und der Journalist? Der hat euch doch gar nichts getan!“

„Nichts getan?“, höhnte Bruno. "Er war ein verdammter Spion, der in der Presse über uns schreiben wollte. Dieses Schwein! Maldito filho da puta!“

„Er starb völlig unschuldig.“ Diogo sah Bruno vorwurfsvoll an.

„Der Journalist starb nicht in Vidigal. Das war in der Favela Costa-Mar. Serginhos Gerente höchstpersönlich nahm sich seiner an“, meinte Bruno lachend. "Das war ein Journalist von der TV Globo.“ Bruno sah Angela wie entschuldigend an. „Er hatte eine Mikrokamera dabei und wollte spionieren.“

„Spionieren?“, fragte Angela.

„Ja, genau. Der Typ kam zu einem Funk-Ball und wollte sich in unsere Angelegenheiten einmischen. Von wegen gratis Drogen und Prostitution bei unseren jungen Leuten…“ Bruno seufzte. „Bei uns ist es wie beim Militär, ein Spion ist nicht unschuldig!“ Bruno trank sein

Glas aus und schenkte nach. „Wir sind das Comando Vermelho, das Rote Kommando. Ausgebildet wurden die ersten Mitglieder des Roten Kommando, von politischen Gefangenen im Gefängnis der Ilha Grande, ihr wisst ja: diese Insel in der Guanabara Bucht. Das war in den siebziger Jahren, zur Zeit der Militärdiktatur.“ Brunos Stimme war voller Hohn: „Man dachte damals, wenn man ein paar politische Gefangene zusammen mit sechzig normalen Verbrechern einsperrt, würden diese die Politischen bald fertig machen. Es war genau umgekehrt. Die Politischen gewannen die Kontrolle über die normalen Verbrecher und lehrten sie, sich zu organisieren. So entstand einmal unser Comando Vermelho. Ja, wir haben alles bei denen gelernt und tun auch was für unsere Gemeinde, wir sind es, die unseren Leuten helfen.“

„Stell dich jetzt bloβ nicht noch als Samariter hin!“, sagte Diogo aufgebracht.

Oh mein Gott!“, entfuhr es Angela.

„Was glaubst du denn, was die Menschen für Chancen haben?“ Bruno sah Diogo an. „Unser Volk wird ausgebeutet und verachtet.“

„Deine Mutter geht trotzdem kochen und arbeitet jeden Tag“, rief Diogo ungerührt Bruno zu.

„Und deine auch, Didi.“ Er verzog spöttisch den Mund. „Das sind noch die Alten, die an ihrem alten Trott festhalten. Die Jungen bewerben sich bei der Firma. Sie sind stolz, dort

arbeiten zu dürfen und das weiβt du ganz genau. Es sind weit mehr, die sich bewerben, als dass wir denen Arbeit geben können. Du bist eine Ausnahme. In der Zona Sul ist es verlockend, im Drogengeschäft zu arbeiten. Hier, vor unserer Haustür sind die noblen Viertel und da wohnt das ganze reiche Dreckspack, welches uns ausbeutet. Und wir verdienen an ihrem Drogenkonsum. “ Bruno sah seinen Cousin triumphierend an. „Ein Drogendealer verdient das Vierfache als ein braver Arbeiter. Dass ich nicht lache. Wer ist denn so dumm und lässt sich da weiter ausbeuten? He?“

Diogo schwieg, was sollte er dem auch entgegensetzen. Es herrschte minutenlanges Schweigen.

„Wir leben eine Minute“, sagte Bruno tonlos. „Ich wurde geboren und ich starb. Ich lebte eine Minute…“
 
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