Maracanã

Angela war gespannt, als sie mit Diogo bei dem terreiro eintraf. Am Stadtrand von Jacarepaguá, auf einem abgelegenen Hügel, stand ein einfaches Häuschen mit einem Dach aus Palmenfasern, davor war ein großer freier Platz mit hohen Palmen.

Angela beobachtete auf der Veranda die vielen Menschen, die sich dort versammelt hatten und darauf warteten, eingelassen zu werden. Es waren vor allem Schwarze und Mulatten, die sie neugierig betrachteten.

„Es wird gleich losgehen“, sagte Diogo leise zu ihr.

„Was genau wird losgehen?“ Angela war es ein bisschen unheimlich zumute.

„Am besten, du siehst es mit eigenen Augen.“

In diesem Augenblick wurde eine Tür geöffnet und sie betraten einen groβen Raum. Die Zeremonie begann, dunkelhäutige Frauen in weißen Kleidern stellten sich vor den Altar und sangen Weihrauch schwenkend und leise vor sich hinmurmelnd Lieder.

„Dort ist die ialorixá!“ Diogo deutete nach vorne. „Meine mãe de santo.”

Die mãe de santo, die heilige Mutter, wie sie genannt wird, war eine alte Mulattin in einem langen, weißen Kleid mit einem weiten Rock mit Spitzenborten verziert, und sie war barfuß. Um den Hals trug sie verschiedene Ketten aus bunten Glasperlen, und den Kopf schmückte ein weißer Turban.

Sie hob die Arme und begann leise ein Gebet an die Orixás zu sprechen; dann setzte sie sich vor einen Tisch. Plötzlich blickte sie zu Diogo herüber und winkte ihn zu sich.

„Verehrte Mutter Dona Ismélia.“ Diogo stockte. „Ich wollte mich bedanken, dass ich im Flamengo Club angenommen wurde.“

Dona Ismélia lächelte. „Ich weiβ, ich weiβ…“

Angela betrachtete die alte Frau neugierig. Sie musste weit über siebzig sein. Das Gesicht war voller Runzeln, strahlte aber Wärme aus. Dona Ismélias Augen ruhten für eine Weile auf ihr. Angela versuchte dem Blick stand zu halten, sie fühlte instinktiv die Kraft, die von der Priesterin ausging. Sie hatte das Gefühl, als schaue sie tief sie hinein. Kann sie das? fragte sich Angela erschrocken.

„Willkommen bei uns im Heiligen Haus. Diogo ist in Liebe zu dir entflammt, meine Tochter.“ Sie lachte laut und schüttelte den Kopf. „Wenn die Liebe kommt, ist sie wie das Feuer. Entweder man löscht es, solange es noch geht...“, sie zwinkerte Angela zu. „Oft geht es nicht mehr. Und das ist besser so.“ Sie schwieg kurz. „Um die Schatten zu vertreiben, von einem Toten...“

Angela wurde es erst heiβ und dann eiskalt und sie begann zu zittern.

„Habe keine Angst, meine Tochter.“ Die Priesterin legte beruhigend die Hand auf ihren Arm. „Nichts Böses geschieht dir hier.- Hörst du?“ Angela nickte stumm. Irgend etwas war mit ihr geschehen, aber sie wusste nicht genau was. Ihre Angst war einer groβen Ruhe gewichen, nachdem die Alte sie am Arm berührt hatte.

„Ich werde die Buzios-Muscheln zuerst für dich werfen“, sagte sie und begann. Sie hielt die Buzios-Muscheln in ihren zusammengefalteten Händen.

Aduadá, dadá Orunmilá

Babá mi alari ki Babá…

Angela wurde mehr und mehr in den Bann einer mystischen Handlung hineingezogen. Die Vergangenheit war weit weg. – Die Zukunft wurde gerade geboren. Es war etwas Außergewöhnliches, das sich ereignete.

Exú mujibá.” Die Priesterin stampfte dreimal mit dem Fuß auf.

Okê Oxê

Ifá Agõ...”

Xangõ und Iansã...“ Dann murmelte die Mãe de Santo irgendwelche unverständlichen Worte. „Ihr habt die gleichen Götter, die euch beschützen und lenken, das ist sehr verheißungsvoll. Beide besitzt ihr einen guten Charakter. Ihr seid füreinander bestimmt!“

Angela hörte die Worte von der Alten. Eine Wahrheit, die sie noch nicht richtig begriff.

Die mãe de santo klingelte mit dem Glöckchen und hatte damit die afrikanischen Götter gerufen. Sie war eine ausgebildete Zauberpriesterin. Dazu wird man geboren und dann berufen. Ihr ganzes langes Leben widmete sie den Göttern.

Sie hatte die Augen geschlossen und begab sich auf eine weite Reise in das Land der Geister und geheimer Symbole.

Als sie ihre Augen öffnete, warf sie die Búzios Muscheln auf die Mitte des Tisches. Gebannt starrte Angela auf das kleine Tischchen vor sich, auf dem Räucherwerk einen betäubenden Duft verströmte.

Drei Muscheln lagen mit der geöffneten Seite nach oben und dreizehn Muscheln waren geschlossen.

Ogum hat gesprochen!“, verkündete Dona Ismélia. „Offene Wege und die Möglichkeit von unbegrenzten Siegen.“ Sie schwieg lange Zeit. Dann begann sie zu lächeln. „Du wirst siegen, meine Tochter! Auch über Gegner und Neider. Du gehst den Weg des Kriegers und Ogum wird dich leiten. Du bist Ogums und Iansãs Tochter“ Sie schwieg. “Wenn Schwierigkeiten auf deinem Lebensweg auftauchen, so komme zu mir, meine Tochter“, sagte sie schließlich. „Und du wirst kommen“, murmelte sie in sich hinein.

Ogum? – Wer ist Ogum und wer ist Iansã?“ fragte Angela

Ogum ist der Gott der Krieger und Iansã die Göttin des Windes, meine Tochter.“

Angela nickte verwirrt.

Dona Ismelia begann die vorherige Zeremonie für Diogo zu wiederholen und warf die Muscheln erneut auf den magischen Kreis.

Ihr Gesicht erhellte sich. „Sechzehn Muscheln sind geöffnet!“, rief sie aus. „Alle Orixás haben geantwortet! Die Götter antworten dir mit Licht auf deinem Weg und Triumph in allem.“ Sie stockte. „Auch über einen Feind wirst du siegen und eine große Reise steht bevor.“ Dona Ismélia sah ihn aufmerksam an. „Die Liebe, mein Sohn, wird in deinem Leben von Bedeutung sein! Die Liebe, sie steht neben dir. Bewahre dich vor jeglichem Hochmut, sonst stürzt du ab, vom Himmel des Ruhmes in die Tiefe. Die Zukunft hängt mit unseren Handlungen zusammen, Didi. Die Zukunft gehört den Göttern!“
 
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XIV


Im Duschraum des Flamengo herrschte Hochstimmung, denn Flamengo hatte Botafogo zwei zu null geschlagen. „Mengão! Óh meu Mengão! Flamengo, oh mein Flamengo“, sangen die Spieler im lauten Chor. „Rubro-negro tá no nosso coração! Schwarz-Rot liegt uns im Herzen“

Von den Duschen entstieg heißer Dampf, aus dem die nackten Körper der Fußballer schemenhaft auftauchten. Ihr ausgelassenes Lachen und Rufen hallte durch den großen Raum.

„Didi! Du warst heute in Höchstform!“, rief Paulinho. „Das deutsche Mädchen hat dir wohl übernatürliche Kräfte verliehen, he?“

Alle lachten.


„Du musst uns erzählen, wie es mit ihr ist“, grölten sie laut.

„Kannst du bei ihr auch so gute Tore landen, wie du es heute getan hast?“, rief Juliano und gestikulierte wie wild in anzüglicher und unmissverständlicher Art und Weise herum.

„Bestimmt hat er einen Zauber bei seiner mãe de santo machen lassen“, rief Zéquinha, der schwarze Torwart. Er stellte sich in die Mitte des Duschraums und begann wild zu tanzen. „Saravá“, sang er aus voller Kehle und schwang die Hüften dabei betont aufreizend. „Saravá! Saravá!” Zequinha warf seinen Oberkörper nach vorne und wieder zurück, schwang dabei sein Handtuch. „Saravá, éh, éh!”

Das musste ja kommen, dachte Diogo und genierte sich. Ich werde einfach nicht darauf antworten. Irgendwann werden sie schon aufhören, mich zu hänseln. Ich brauche mich nicht zu schämen, ich war es, der die zwei Tore heute geschossen hat. Sie sind neugierig, denn Angela sitzt drauβen auf der Tribüne und wartet auf mich.

„Sicherlich hat die alte Macumba-Zauberin dem Didi ein Bad verschrieben“, lästerte Carlos Alberto. “Damit die Kleine ihm verfallen ist!“

„Ja, Didi. Sag uns die Wahrheit“, riefen alle.

„So etwas habe ich nicht nötig“, musste Diogo sich inzwischen rechtfertigen. „Ich brauche keinen Zauber und habe einfach Talent.“

„Talent zum Tore schießen“, grölten sie laut.

„Habt ihr nicht bemerkt, wie seltsam er heute duftete?“ Carlos Alberto lief auf und ab und rollte dabei die Augen. Alle lachten.

„Didi duftete nach Rosen...“, sangen sie im Chor. „Er duftete nach weißen Nelken, nach Malven und Eukalyptus.“ Und Zequinha lieβ es sich nicht nehmen, weiterhin splitternackt und mit rollenden Augen seinen Tanz zu vollführen. „Saravá“, schrie er ausgelassen. „Saravá, éh, éh!“. Er klatschte sich auf die Oberschenkel, während die anderen Spieler lauthals mit éh, éh antworteten.

„Genug jetzt!“, rief Diogo. „Mit macumba spaßt man nicht. Ihr verärgert die Orixás, sie werden sich rächen und unser nächstes Spiel am kommenden Sonntag gegen den Fluminense...“

„Die Orixás?“ Paulinho blickte mit ausdrucksloser Miene in die Runde. „Dass die Orixás dir immer gewogen bleiben, amigo“, murmelte er in sich hinein. „Von mir nimmt heute sowieso niemand Notiz. Wegen dir durfte ich auf der Bank sitzen bleiben; und ich schwöre bei Exú, dass es so nicht bleibt, du einfältiger palhaço...“


„He Didi, war doch nur ein Scherz“, riefen die Anderen ausgelassen.

„Ich gehe auch immer zu meiner Mãe de Santo”, meinte Marcelo beschwichtigend zu Diogo. Er war inzwischen fertig mit dem Duschen und hatte sich vor ihn gestellt. „Vor jedem wichtigen Spiel und auch wenn ich Sorgen habe. Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück mit deiner Freundin.“

„Es ist alles ein bisschen viel auf einmal.“ Diogo zögerte. „Wir haben noch nichts miteinander

gehabt, aber das Buzios-Orakel hat ergeben, dass es die große Liebe zwischen uns sein soll.“

Oba!“ Marcelo klopfte ihm auf die Schuler. „Die Orixás sagen immer die Wahrheit, du Glückspilz!“

Diogo stockte und sprach dann leise zu ihm: „Wenn wir Sex machen wollen, weiß ich nur nicht, wo ich mit ihr hingehen kann...“

„Ihr müsst in ein Motel gehen.“ Marcelo zwinkerte ihm zu. „Dort kann man die besten Tore schießen, mein Lieber. Tolles Ambiente mit Musik und allen Schikanen.“

„Was kostet so ein Motel, Marcelo?“

„Es kommt drauf an.“ Marcelo kratzte sich am Kopf und überlegte. „Ich gehe ins Mayflower, draußen an der Barra. Da bekommst du ab 30 Reais ein Zimmer. Ist halt weiter weg.“

„Ich danke dir.“ Diogo nahm sein Handtuch und wickelte es sich um, dann ging er zu den Umkleideräumen.

„Es gibt auch das Shalimar. Das ist auf der Avenida Oscar Niemayer, gleich hinter dem Sheraton. Der Preis dort beträgt allerdings 50 Reais, für acht Stunden.“ Er grinste. „Sonst wird es teurer, Didi.“

„Am liebsten würde ich nur noch mit ihr zusammen sein wollen.“ Diogo lächelte verliebt „Aber acht Stunden müssen reichen.“

Claro, amigo.” Marcelo klopfte ihm spontan auf die Schulter und grinste. „Acht Stunden sollten reichen. - Viel Glück, Didi.“
 
XV



Die Sonne stand bereits tief am Horizont und würde bald hinter den Bergen verschwinden. Angela genoss die Spätnachmittagsstimmung, wenn endlich die Hitze nachlieβ.

„Na, wie hat dir unser Spiel gefallen?“ Diogo führte Angela im Clubgelände herum. Flamengo, der Fuβballclub mit den meisten armen und farbigen Fans Brasiliens, war auch der Club für die Reichen und Schönen von Rio, die hier eine Mitgliedschaft für unerschwinglich hohe Summen besaβen und die Swimmingpools oder Tennisplätze mit Flutlicht benutzten oder sich in den Fitness Centern in Form hielten. Nur durch sein Talent als Fuβballprofi hatten sich die Türen dieses exklusiven Clubs für Diogo geöffnet und das gab ihm ein gutes und sicheres Gefühl, auch gegenüber Angela.

„Du hast beide Tore geschossen, Didi!“ Angela sah ihn, spätestens nach dem Fuβballspiel mit anderen Augen. „Du spielst wirklich gut!“

„Ich hatte heute einfach Glück.“ Er hob die Schultern, dachte an die vielen Stunden, die er allein trainierte, wenn die anderen Spieler nach Hause gegangen waren. Tausende Male übte er bestimmte Torschüsse, um sich zu verbessern.


Diogo ertappte sich dabei, wie er immer wieder zu Angela sah. Sie trug hautenge schwarze Jeans und hatte ein schwarzes Top an, aus einem glänzenden Stoff mit dünnen Trägern. Ihre Augen hatte sie hinter einer Sonnenbrille versteckt. Er fand sie einfach umwerfend schön.

Wie ist es mit der Liebe?, fragte er sich ein wenig ratlos. In seinem Inneren sah er die Bilder von Toren, die er schoss, und es war, als hörte er den Beifall im Stadium, aber bei der Liebe zu diesem Mädchen fühlte er sich verunsichert.


„Didi?“

„Ja?“ Er grinste verlegen.

„Was lachst du immer so?“ Angela lehnte sich an das Geländer der Tennisplätze und sah ihn an. „An was hast du gerade gedacht und dabei gelacht?“

„Oh, habe ich das? - Ich dachte an das Spiel und meine beiden Tore“, antwortete er, während sie weiter schlenderten.

„Didi?“

„Ja?“

„Ich wollte dir sagen, dass ich dich wirklich mag.“

Er nickte.

„Didi? Du lachst ja schon wieder. Lachst du mich aus?“

Er blieb stehen. „Niemals!“ Nach einer Weile dann: „Meine Freunde warfen mir anfangs das Gleiche vor. - Ich lache auch, wenn ich den Ball nicht ins Tor rein schieβe, und das hat einige erst einmal total verärgert.

„Didi, ich mag dich immer mehr. Du bist urkomisch!“

„Findest du?“ Er zögerte und fasste sich an die Nasenspitze. „Magst du mit mir nach vorne zum Meer gehen? Wir können uns dort ins Caneco 70 setzen.“

„Sicher, Didi.“ Sie nickte.

Ich habe noch den ganzen Abend mit ihr, dachte er, als sie sich auf den Weg machten. Ich habe noch den ganzen Abend, um sie zu erobern.


Als sie am Leblon Strand eintrafen, war es bereits dunkel. Der Strand war durch Flutlicht hell erleuchtet, sein Ende verlor sich weit dahinten im Dunst. Ein paar Jungs spielten Fußball oder Volley im Sand, Jogger trabten auf dem breiten Gehsteig und Fahrradfahrer fuhren in beide Richtungen. Am Straβenrand standen die kleinen Wägelchen mit Coca-Cola und Hamburgern, Hot Dogs, den angewärmten Maiskolben, eiskalten grünen Kokosnüssen, und die Eisverkäufer. Es waren viele Spaziergänger versammelt und überall Kinder, die hin und herliefen. Drauβen der Ozean.


Die Bar Caneco 70 war eine viel besuchte Terrassen-Bar, hier trafen sich die cariocas, wie die Einwohner von Rio genannt werden, nach dem Strand und löschten ihren Durst mit chope, eiskaltem Bier. Cerveja estúpidamente gelada, wie es in einem Lied von Chico Buarque besungen wird.

„Was willst du trinken?“, fragte Diogo, nachdem sie sich hingesetzt hatten.

„Caipirinha“, sagte Angela und beobachtete neugierig die Menschen um sich herum. Ein Junge spielte Trommel und zwei weitere spielten Gitarre und sangen dazu. Sie machten wirklich guten Samba, und Mädchen in winzigen Bikinis und Jungens in Badeshorts tanzten und sangen fröhlich mit.

Was für eine Stadt, dachte Angela. So etwas erlebt man nur in Rio, wo Strand und Stadt so nah beieinander sind wie nirgendwo auf der Welt, das gibt es nicht einmal in Kalifornien.


„Komm, lass uns tanzen“, meinte Diogo und sprang auf. Angela erhob sich zögernd. und kam auf ihn zu. Die Stimmung war wie im Karneval, hüftenwackelnde Mädchen und Jungen hatten Spaβ, die Musiker hatten Spaβ und auch die Kellner, die tanzend die Drinks servierten. Die Autos hupten und die Fahrer winkten den Mädchen zu, und die Mädchen winkten zurück.


„Wir haben noch nicht darüber gesprochen, was deine Zauberin gestern Abend sagte“, meinte Angela vorsichtig, als die Musiker eine Pause machten. Angela hatte zwei Caipirinha getrunken, und lehnte sich leicht an ihn. „Da war Chaos in mir“, fuhr sie fort. „So als hätte die Zauberpriesterin mein Innerstes durcheinander gewirbelt.“ Beide setzten sich wieder, er antwortete nicht.


„Glaubst du wirklich, dass sie in uns lesen kann, Didi?“

„Ja, mit Hilfe der Orixás.“

„Sie sprach von unserer Liebe.“

Beide sahen sich an, schwiegen.

„Und? - Wäre das so schlimm, wenn wir uns liebten?“

„Ehrlich gesagt, ich habe ein wenig Angst. Wir kommen aus zwei verschiedenen Welten.“

Er sah sie an. Sein Lächeln umspielte wie immer seinen Mund, aber ihr fiel etwas Selbstbewusstes in seinem Gesicht auf, eine Entschlossenheit.

„Es gibt nur eine Welt, Angela. Und in dieser Welt leben wir. Meinst du mit verschiedenen Welten wieder das kleine Deutschland und mich aus dem großen Brasilien? Ist es das? Wir sind hundertundachtzig Millionen Brasilianer. Und? - Wovor hast du Angst?“ Diogo lachte. „Vor unserer Lebenskraft? Unserem unverbesserlichen Optimismus? Oder weil meine Haut eine andere Farbe hat als deine?“ Er trank sein Glas leer und sah sie erneut an. „Meine Haut ist dunkler als deine, meine Vorfahren wurden vor einigen hundert Jahren von Nigeria nach Bahia gebracht. Sie haben nicht darum gebeten!“

Und während um sie herum die Menschen sich ausgelassen unterhielten, lachten und lärmten, fuhr er ungerührt fort: „Vor zwanzig Jahren kamen meine Eltern von Salvador nach Rio, um ein besseres Leben zu suchen. - Ich kam in Rio auf die Welt, mitten in den Slums. Mein Bruder Ricardo war zwei Jahre alt, wir hatten noch Glück. Zwar leben wir bescheiden, aber wir besitzen unser kleines Häuschen. Mein Vater fährt die Überlandbusse und bringt mehr und mehr Menschen aus dem Nordosten in die großen Millionenstädte São Paolo oder Rio de Janeiro. Menschen, die herkommen, weil sie nicht genügend zu essen für ihre Kinder haben.“ Er machte eine Pause und da sie nichts sagte, sondern ihn nur ansah, fuhr er fort:

„Wir Brasilianer sind unkompliziert und zerbrechen uns nicht den Kopf, was morgen sein könnte. Wir leben unser Leben jetzt und sind zufrieden.“ Er nahm ihre Hand. „Ich jedenfalls liebe dich und meine, wir sollten keine Zeit verlieren und unsere Liebe leben.“

Die Musiker spielten, die Menschen um sie herum sangen und tanzten fröhlich weiter, und Angela versuchte einen Halt in sich selbst zu finden.

Da ist schon wieder jemand, der behauptet keine Zeit verlieren zu wollen und einen Sturm in meinem Herzen entfacht. Torsten verblasst und Diogo stürmt wie auf dem Fuβballplatz in mein Leben, so schnell, dass ich kaum Zeit habe Atem zu holen.

„Didi. Ich mag dich auch“, sagte sie ein wenig verlegen.

Er winkte dem Kellner. Sie brachen auf und nahmen ein Taxi in Richtung São Conrado. Kurz vor dem Hotel Sheraton fragte er wie nebenbei:

„Bist du einverstanden, wenn wir in ein Motel fahren?“ Sie nickte nur und sagte nichts. Er legte den Arm um sie.

„Zum Motel Mayflower an der Barra da Tijuca“, bat Diogo den Taxifahrer.
 
XVI


Heinz Bachmann war auf dem Weg vom Flamengo Club, nach Hause. Heinzi, wie ihn alle nannten, mochte Fußball, und sah sich im Auftrag seiner Firma um. Dadurch konnte er ein Extra dazuverdienen. Auf dem Weg um die Lagoa – die Lagoa Rodrigo de Freitas, den Salzwasserbinnensee mit den Stadtteilen Ipanema, Leblon, Gávea und Jardim Botânico -

dachte er an den neuen Spieler Diogo vom Flamengo.

Zwei Jahre mache ich diesen Nebenjob und schicke wöchentlich Emails an Bayern München, mit dem Spieler der Woche, dem Spieler des Monats und die Top-5 aus jeder Liga. Das war ein Glücksfall, als ich durch meine Firma in Kontakt mit Bayern München kam, und so zusätzlich Geld verdiene. Heinzi schmunzelte. Ich verbinde einmal wieder das Angenehme mit dem Nützlichen…

„Pass doch auf!“, rief er wütend und trat auf die Bremse. „Oi, amigo!“ Die cariocas fahren wie die Henker! Er machte dem Auto, welches vor ihm gestoppt hatte, beim Überholen ein anzügliches Zeichen. „Idiota, cretino“, fluchte er. Aber schnell kehrten seine Gedanken wieder zu seiner Firma Sullivan und seinem Lieblingsjob, dem Fuβball, zurück. Um in diesem

verrücktem Land zu leben und zu überleben, muss man mit allen Wassern gewaschen sein.

Als Deutschbrasilianer, der ich nun einmal bin, wickele ich knallharte Geschäfte auf kreative Art ab. Sagen wir es einmal vorsichtig, denn ich verstehe beide Seelen, die deutsche Seele und die brasilianische. Heinzi lieβ noch einmal die Bilder des Spiels vor seinem inneren Auge passieren. Da ist dieser neue Spieler! Der hat was! Das sagt mein Bauch. Diogo heiβt er. Gleich zwei Tore machte er und verhalf dem Flamengo zum Sieg. Das war außergewöhnlich! Der Verkehr kam ganz zum Erliegen. Nervös trommelte Heinzi mit den Händen auf das Lenkrad. Ich muss noch durch den Tunnel nach Copacabana, und die Tonneleiros ist heute genauso befahren wie unter der Woche. Rio ist die Stadt, wo alle immer gleichzeitig

unterwegs sind. Die cariocas lieben den Sonntagnachmittag und hängen in den Cafés herum. Genau jetzt müssen sie alle nach Hause fahren und verstopfen die Strassen. Alleine in Copacabana leben eine Million. Vor ihm stoppte ein Bus, überfüllt mit Menschen auf dem Weg zurück in die Nordzone, und Heinzi hupte mehrmals. „Amigos!“, rief er. „Ich habe es eilig, meine Frau wartet zu Hause!“ Im Bus hingen Jungs aus den Fenstern, trommelten wild auf die Buskarosserie und grölten. Heinzi zuckte mit den Schultern. Ist ja gut, amigos! Wir haben alle unseren Spaβ!

Endlich konnte er von der verstopften Tonneleiros in seine Straβe einbiegen. Die Rua Anita Garibaldi war seine kleine Oase in Copacabana. Eine Allee mit Bäumen und gepflegten Apartmenthäusern im alten Stil, aber wie lange noch? Ich habe Angst wegen meiner Töchter. Eines Tages kaufe auch ich mir an der Barra ein Apartment; Heinzi grinste. Mit einem bisschen Glück schaffe ich es. Vielleicht mit einem Transfer von Diogo?

Heinzi fuhr seinen Wagen in die Tiefgarage. Ich werde München noch nicht über diesen Spieler benachrichtigen, das ist noch nicht spruchreif, andererseits darf ich auch nicht zu lange warten, daher werde ich Diogo genau im Auge behalten. Kommenden Sonntag spielt Flamengo gegen Fluminense.
 
XVII


Noch immer angeheitert von der Caipirinha, betrat Angela mit Diogo das Apartment des Motel Mayflower.

Lachend inspizierten sie ihr Liebesnest und staunten über das runde Kingsize Bett und den groβen Spiegel an der Decke.

„Hier ist es ja richtig schick!“, rief Angela aus und streifte kurz entschlossen ihre Sandaletten ab, sprang auf das Bett und hopste ausgelassen darauf herum.

Diogo, der ein derartig luxuriöses Apartment noch niemals vorher zu Gesicht bekommen hatte, war sprachlos. Nur in den Telenovelas wurden solche Motelzimmer gezeigt. Hier sieht es genauso aus, fand er. Ich muss mich erst einmal zurechtfinden. Ein wenig verwirrt drehte er die Musik noch mehr auf und betrachtete Angela, die auf dem Bett herumsprang. Alles kam ihm unwirklich vor, so als liefe ein Film in einem parallelen Universum ab… der Techno-Sound, der die Situation noch phantastischer erscheinen lieβ. Er konnte es eigentlich noch gar nicht richtig fassen.

Er atmete einmal tief durch, ging zur Frigobar, mixte zwei Batida de Coco mit Eiswürfeln und rief lachend nach ihr. Sie war noch ganz außer Atem von ihren Luftsprüngen, das Gesicht leicht gerötet und die Haare durcheinander. Er reichte ihr das Glas.

Es ist einfach zuviel auf einmal in den letzten Wochen meines Lebens passiert, überlegte er. Mein Einstieg beim Flamengo, dann hat Maysa mich verlassen und ist auf nach Europa. Und hier greifbar nahe steht Angela vor mir. Diogo dachte nicht mehr lange nach, kippte die Batida de Coco herunter und zog sie an sich.

Er atmete ihren Duft in sich ein, die lustvolle Hitze, die ihr Körper ausströmte, und streichelte sie erst zärtlich, dann immer leidenschaftlicher. Ungeduldig streifte er ihre Kleider vom Leib, packte sie unter dem Gesäß und hob sie hoch. Angela lachte laut auf. Er musste über ungeheure physische Kräfte verfügen. Sie fühlte sich leicht wie eine Puppe in seinen Armen. Sie schlang die Arme um seinen Hals und schmiegte ihren Kopf an sein Gesicht, durchwühlte mit ihren Händen seine Haare. Sie rochen nach Shampoo. und seine Haut duftete noch immer vom Duschen nach Seife.

Meu amor“, flüsterte er wieder und wieder, dann er liebte sie.
 
XVIII


In dieser Nacht von Sonntag auf Montag konnten die Bewohner von der Favela Vidigal kein Auge zudrücken.

Niemand von ihnen wagte sich vor die Tür, denn gegen Mitternacht begann eine wilde Schießerei zwischen Armando und seinem Gegner Bubu.

Maria Luisa flüchtete erschrocken in ihr Häuschen. „Verdammte Banditen. Ich bin todmüde von meiner Arbeit und bekomme noch eine Kugel von diesen Hurensöhnen ab. Im Haus brennt Licht, aber mein Sohn Bruno ist wie immer mit Armando unterwegs. „Heilige Madonna“, schrie sie plötzlich und löschte das Licht. Ängstlich verkroch sie sich in eine Ecke in der Küche. Die Schüsse nehmen zu; da sind Schreie in unmittelbarer Nähe und Tritte hinter der Hütte. Auf dem Dach plötzlich lautes Gepolter, und jetzt der Lärm einer Maschinenpistole.

„Verdammte Hurensöhne, filhos da puta“, murmelte sie. Schweiβ brach ihr aus. Sie hatte nur noch Angst. Oben auf dem Dach wieder Gepolter und dann Stille. Der Geruch von Schieβpulver hing in der Luft, beiβender Qualm lieβ ihre Augen tränen.

Maria Luisa rührte sich nicht und fragte sich, was als nächstes passieren würde. Wieder begannen Schüsse, aber sie entfernten sich. „Müssen sie ihre Kämpfe unbedingt auf dem Dach meiner Hütte austragen? Heilige Mutter Maria! Erst jetzt bemerkte sie, dass sie unkontrolliert am ganzen Körper zitterte. Die Gefahr schien erst einmal gebannt, aber sie zitterte noch immer.

Angezogen und nass geschwitzt legte sie sich auf das Sofa. Drauβen hörte man, wie sich die Schüsse mehr und mehr entfernten. Schon lange ging das so, aber die Kämpfe wurden intensiver. Die Polizei kam monatelang nicht mehr nach Vidigal hinein aus Angst vor den Waffen der Banditen. Aber seit der Ermordung des Taxifahrers rückten sie mit den Spezialeinheiten an.

Mein Leben besteht nur aus Arbeit. Ich könnte mir von Bruno Geld nehmen, aber ich will es nicht, dachte sie, dann übermannte sie die Müdigkeit. Sie hatte einen langen Tag hinter sich. Vierzehn Stunden stand sie am Herd in der heiβen Küche des Restaurants Porcão. Erschöpft war sie längst eingeschlafen. Träume holten sie, der Lärm in der Küche vermischte sich mit den Schüssen drauβen.


Mehrere Polizeieinheiten waren eingetroffen. Rodrigues Eustáquio Brito, Bubu genannt, war endgültig umzingelt. Bubu war ein harter Gegner und gab nicht so einfach auf. Er und seine Männer verteidigten sich mit Maschinenpistolen. Die Polizei der BOB Spezialeinheiten gehörte zu dem bestausgebildeten Antiterrorkommando der Welt. Nirgendwo sonst auf der Welt musste ein Stellungskampf zwischen den Wellblechhütten und dem Gewirr der Bruchbuden wie in Rio fast täglich praktiziert werden. Die Polizisten schwärmten in Zweierformation aus, einer dicht hinter dem anderen, mit den Maschinenpistolen im Anschlag. Wenn einer starb, hatte der hintere immer noch Deckung. In dieser Nacht kam ein junger Polizist um. Ahnungslos lief er in einen Hinterhalt. In dieser langen Nacht kamen auch vier Banditen um.


Armando gelang es, zusammen mit Bruno und seinen soldados hinauf in den Urwald zu entfliehen. (Soldados werden die Verteidiger einer Favela genannt. Soldado do morro ist ein Soldat des Berges oder der Favelas, die an den Berghängen von Rio aus Millionen Wellblechhütten bestehen. Diese Soldaten gehen immer zu zweit Wache. Vidigal besitzt hundert Soldaten.) Wie die Ratten hatten Bruno und Armando sich in eine der Hütten gerettet und waren dann aus dem Hinterausgang geflohen. Keuchend kletterten sie die steilen Berghänge hoch, wo sie ihre geheimen Schlupfwinkel hatten. Die Polizei wagte sich nicht so weit hinauf und mied die steilen Bergrücken, von denen nach unten geschossen werden konnte. Der Dschungel oben war eine uneinnehmbare Festung. Serginho und Jorge waren unten hinter den letzten Hütten als Wachposten zurückgeblieben. Weitere Posten, mit Kalashnikovs, waren rund an den Berghängen verteilt.

Die Schusswechsel schienen beendet, endlich war es still.

Seelenruhig rauchten Armando und Bruno ihre Zigaretten und blickten hinunter auf die

Blechhütten von Vidigal. Es begann bereits zu dämmern, als die Polizisten Bubu festnahmen

und den Berg hinunter zu den wartenden Polizeiwagen brachten. Mit heulender Sirene entfernte sich die Kolonne und die Bewohner wussten, es war endlich Ruhe. Vor der Polizei

und vor Bubu.

„Bubu kommt nach Bangú.“

„Es fragt sich nur wie lange!“, antwortete Armando.

Bruno blickte in das Gesicht seines Chefs und Freundes Armando. Seine hageren Züge wirkten eingefallen, und er war unrasiert. Kleine Augen hat er, wie die einer Ratte, aber

Ratten, das sind wir alle, dachte er und grinste in sich hinein. Comando Vermelho, nennen wir uns stolz. Bruno musste auf einmal an seinen Vater denken, wie er ihn schlug, immer und immer wieder.

Er versuchte sich vor seinen Hieben und Schlägen zu schützen und rollte sich zusammen wie ein Hund, aber vergeblich. „Warum machst du das?“, brüllte er ihn einmal an. Sein Vater schlug weiter und weiter auf ihn ein. Stundenlang weinte er, bis er auch nicht mehr weinen konnte. Maysa war seine einzige Hoffnung, seine Liebe und sein Trost. Eines Tages, er erinnerte sich, da war er sieben Jahre alt, war sein Vater verschwunden, er hatte nie mehr

etwas von ihm gehört und es interessierte ihn auch nicht. Armando war es, der sich seiner annahm und ihm Arbeit gab. Maysa war die Nächste, die ihn verlieβ, sie war weiterhin da, aber sie war nicht mehr für ihn da. Maysa liebte Diogo, seinen Cousin.


„Es ist nur eine Frage der Zeit, dass man Bubu erneut zur Flucht verhelfen wird.“ Armando spuckte aus. „Na, Bruno, was ist? Träumst du?“ Bruno zuckte zusammen. „Bangú, der Hochsicherheitstrakt wird für Bubu kein Hindernis sein“, entgegnete Bruno schnell und wischte seine düsteren Erinnerungen weg.

„Lange werden wir keine Ruhe vor ihm haben. Este filho da puta! Darauf kannst du einen Haufen Scheiβe wetten.“ Armando zog nachdenklich an seiner Zigarette und paffte den Rauch in den immer heller werdenden Himmel über Rio. Er kratzte sich am Kopf. „Wir müssen jetzt besonders vorsichtig sein.“

„Was meinst du damit?“

„Die Polizei hat uns bis jetzt noch nicht in Verdacht. Wir konnten im Schatten von Bubu ohne große Gefahr unsere Geschäfte machen.“ Er gähnte. „Das hört jetzt auf. Verstehst du?“

Über dem Meer ging die Sonne auf. Tauchte die Häuser und die Wellblechhütten in ein fast überirdisches, grelles Licht. Armando da Silva lächelte. Dort unten ist mein Reich, dachte er. Noch heute sollten zehn Kilogramm Kokain an ihn von verschiedenen Kurieren geliefert werden.

Die Menschen der Favela stehen hinter mir, die Kinder sind meine Spione und Laufburschen. Ich war derjenige, der für Vidigal sorgte, einen Teil des Drogengeldes habe ich in Kindergärten und in eine kleine medizinische Station investiert. Sie achten mich, ich bin hier wer, und die Polizei ist genauso bestechlich. Der einzige Mensch in dieser elenden Favela, der mich nicht respektiert, ist meine Frau, dachte er ärgerlich. Ich komme ihr ja nicht mal mit Prügel bei. Armando sah Bruno an.

„Heute bringen die vapores eine große Lieferung. Wir können an die Arbeit gehen, die BOB ist weg.“


Beide erhoben sich und kletterten halb rutschend den Berg hinunter.

„Die Handlanger von Bubu können wir schon lange in Schach halten“, stieβ Armando keuchend aus.

„Jorge und Mario werden sich nicht getrauen, gegen mich anzugehen. Ohne Bubu ist Jorge hilflos wie ein Baby.“ Bruno zog die Nase besonders laut hoch und spuckte den Schleim in hohem Bogen aus. „Jorge wird sowieso schon nené, das Baby, gerufen“, meinte er grinsend.

Armando blieb abrupt stehen. „Das ist nichts gegen das, was auf uns zukommt. Es geht um die Kontrolle der bocas de fumo, um unsere Hoheitsgebiete, kapiert?“ Armando sah Bruno direkt in die Augen, und da wusste Bruno, warum dieser kleine Mann so gefährlich war.

„Es wird Krieg geben.“ Armandos Stimme klang beängstigend leise. “Wir werden Waffen brauchen.“

„Noch mehr?“

„Viel mehr.“

Als sie bei ihren Hütten eintrafen, war der Tag endgültig in Vidigal angebrochen. Die Menschen strömten zur Arbeit. Es war Montagmorgen, und das Leben nahm wieder seinen gewohnten Lauf.
 
XIX

Das Training im Flamengo Club begann morgens um neun Uhr. Diogo war gerade noch rechtzeitig zum Joggen erschienen. Die Spieler umrundeten den Sportplatz, um sich aufzuwärmen.

Alô Didi”, begrüßte ihn Marcelo und reihte sich neben ihn ein. „Hat es geklappt?“, fragte er leise.

Diogo hob lächelnd den rechten Daumen. „Das war eine lange Nacht…“

„Wir haben heute volles Programm, Didi! Bei Paquetá ist es niemals leicht. Er ist trotzdem der beste Trainer, den man sich nur wünschen kann.“

„Ich habe einen starken Kaffee getrunken“, antwortete Diogo. „Wir hatten schon wieder Aufruhr bei uns in Vidigal. Als ich heute Morgen zu meiner Tante heimkehrte, führte die Polizei gerade Bubu ab.“

„Du lebst gefährlich, amigo.“

„Ich kann von Glück reden, dass ich eine Tante in Vidigal habe.“ Er schnaubte. „Was soll ich machen? Wenn ich um neun beim Training erscheinen soll, müsste ich um fünf Uhr den Zug von Nilópolis nehmen. Glaube mir, amigo, wir beide schaffen den Sprung nach oben. Dann können wir uns ein Apartment an der Barra leisten.“

„Gott erhöre dich!“, murmelte Marcelo. „Bei uns in der Rocinha ist es momentan ruhig, aber irgendwann geht es da auch wieder los mit den Drogen-Quadrillen. Auch ich träume davon, eines Tages da raus zu kommen.“

Der Pfiff des Trainers erklang. „Lass uns strategische Spielzüge üben und nochmals üben“, murmelte Marcelo.

„Und Standardsituationen!“ Diogo lachte


„Wo ist Paulinho?“, rief Carlos, der Co-Trainer. Niemand wusste es. Carlos schüttelte verärgert den Kopf. „Abgesehen, dass Paulinho öfters seinen Frust nach dem Spiel rausballert, kommt er am Montag neuerdings zu spät zum Training!“

„Pass auf mit Paulinho.“ Marcelo sah sich vorsichtig um, und da niemand sonst in Reichweite war, fuhr er leise fort: „Paulinho ist neidisch auf dich, Didi! – Er spielt schon jahrelang im Club, und jetzt kommst du und machst ihm seinen Platzt streitig…“

„Das glaube ich nicht!“, raunte ihm Diogo zu. „Der macht doch immer so 'ne finstere Miene…“

„Mag schon sein, aber in den letzten Tagen hat sie sich gewaltig verfinstert und hinter deinem Rücken lästert er über dich.“

„Was?“

Marcelo nickte nur, als sie auf dem Rasen ihre Positionen einnahmen. Sie begannen schweigsam mit dem Training. Mit gekreuzten Schüssen von einer Feldhälfte, dann von der anderen Seite aus. Kurzpass und Weitschüsse, sowie Schüsse mit dem linken Fuß und umgekehrt. "Intensive Grundarbeit" nannte Paquetá das.


Diogo sah zu Marcel rüber. Er ist mein Freund geworden, ihm vertraue ich. Im Spiel sind wir total aufeinander eingestimmt. Aber mit Paulinho? Ich hatte noch nie Angst vor meinem Gegner, und mit Neidern werde ich auch fertig werden. Am besten, wenn man nicht drauf achtet!


Paquetá pfiff erneut. „Ihr teilt euch in Fünfergruppen und beginnt mit Dribbeln und Verteidigung des Balls sowie Körperdrehungen.“

Endlich der Abpfiff von Paquetá, der Diogo genau im Auge behielt. Diogo gehörte zu den besonders Begabten.

Aus ihm mache ich einen Weltklassespieler, dachte Paquetá. Der Junge hat das Zeug dazu. Wenn ich Recht behalte, wird er bei der nächsten Weltmeisterschaft dabei sein.
 
XX



Heute ist ein Tag im Dezember, so wie die Tage nun einmal in Rio sind, dachte Angela und wischte sich den Schweiβ aus dem Gesicht. Vierzig Grad ist nichts Besonderes. Vierzig Grad im Schatten, aber nicht in dem Zug, in dem ich sitze, hier drinnen ist es der reinste Backofen. Sie seufzte. Aber ich habe es mir so ausgesucht und wollte unbedingt mit Diogo nach Nilópolis fahren. Die offenen Fenster sorgen für ein wenig Fahrtwind, trotzdem ist es stickig in den überfüllten Waggons.

Eine Fahrt durch nicht enden wollende Armenviertel. Der Zug hält an jeder Station und spuckt ein paar Menschen aus; langsam wird es leerer im Abteil. Wieder das einschläfernde Rattern der Waggons, während drauβen vorbeiziehende Industrieanlagen sich mit Fabriken und schmutzigen Lagern abwechseln; dann wieder dicht an dicht stehende Bretterbuden ohne Ende.

Angela entging es nicht, wie die Menschen sie neugierig anblickten. Da vorne, die dicke Frau in dem blauen Kleid starrt mich pausenlos an. Ich habe mir eine Jeans angezogen und ein einfaches T-Shirt, aber für die Menschen hier bin ich unverkennbar gringo.


Angela dachte an Montagabend zurück, wie sie mit Claudia im Flughafen auf die verspätete Maschine aus Frankfurt wartete. Claudia war ein wenig abwesend und fahrig, denn ihr Mann wurde an diesem Abend vom Detektiv beschattet:


„Manchmal habe ich das Gefühl, Rio ist ein riesiger Puff“, verkündete Claudia düster, während sie sich eine Zigarette anzündete. „Übermorgen erwarte ich eine Gruppe Ärzte. Sie kommen ins Intercontinental zu einem Kongress. Die kaufen immer beim Juwelier Schmuck für ihre Frauen ein.“ Sie zwinkerte ihr zu. „Das schlechte Gewissen.“

Claudia sah Angela an. „Und? –Was hast du wirklich auf dem Herzen, Angela?“

„Ich war mit Diogo Sonntagabend in einem Motel an der Barra.“

„Ich freue mich, Angela.“

„Deine Freude klingt nicht sehr überzeugend!“

„Meinst du?“ Claudia sah sie nachdenklich an. Es hilft dir, über Torstens Tod leichter weg zu kommen. Diogo ist inzwischen Fuβballprofi. Bist du dir im Klaren, was das bedeutet?“

„Schon.“

„Wirklich?“ Claudia blies den Rauch ihrer Zigarette nach oben. „Du wirst in seinem Leben nie an erster Stelle stehen…“

„Ich erzählte dir von dem Búzios-Orakel, wo ich mit Diogo war. Glaubst du daran?“

„Diese Frauen haben die Gabe.“ Claudia nickte nachdenklich. „Da gibt es unglaubliche Geschichten, und sie sind wahr. Von Liebeszaubern und bösen Verwünschungen, Puppen, in die abgeschnittene Fingernägel oder Haare eines Opfers, eingenäht werden und in welche mit Nadeln herein gestochen wird, was dann zum qualvollen Tode führen soll…“

„Wirklich?“

Claudia nickte. „Schwarze Magie.“

„Die alte Macumba-Priesterin hat uns eine große Liebe prophezeit. Und Diogo weissagte die Alte eine traumhafte Karriere.“

„Die Zukunft liegt in der Hand Gottes.“ Claudia lächelte vielsagend. „Was glaubst du?“

„Diogo ist erst zwanzig.“ Angela atmete hörbar ein. „Vier Jahre jünger als ich.“

Claudia schwieg. Als der Kellner kam, bestellten sie beide Banana Split.


Angela schüttelte den Kopf. „Ich habe mich verliebt, aber es gibt Probleme…“

„Jede Menge Probleme!" , meinte Claudia lakonisch dazu.

„Diogo verdient kaum etwas und kann nicht jedes Mal bezahlen, wenn wir ausgehen. Eine blöde Situation.“

Der Kellner brachte das Banana Split und lächelte ihnen zu.

„Heute Morgen, als ich ins Sheraton zurückkehrte, fuhr die Polizei mit lautem Sirenengeheul von Vidigal weg“, fuhr Angela leise fort. „Es waren mehrere Polizeiwagen.“ Angela schüttelte den Kopf. „Was da wohl wieder los war? Warum hatten sie die Sirenen an? Meine Kollegin sprach von Schusswechsel und Granatenexplosion. Mein Gott, dieses Rio wird immer gefährlicher.“

„Da könntest du sogar Recht behalten. Die Polizei hat immer die Sirenen an, wenn sie jemanden gefasst haben!“ Claudia lachte. „Bei uns ist es genau umgekehrt! – Das ist Imponiergehabe, um die Leute einzuschüchtern.“

„Ich habe ein Problem, aber da wirst du mir auch nicht helfen können.“ Angela zögerte. „Allein das Motel kostete über dreißig Reais. Diogo bestand darauf, es zu bezahlen.“ Angela schwieg und beschäftigte sich eingehend mit ihrer Eiscreme. „Allein Taxifahrten kosten ne

Menge“, fuhr sie fort und löffelte abwesend von ihrem Eis. „Es sind zwar die billigen Taxis, aber für Diogo unerschwinglich. Diogo verdient bis jetzt nur das salário minimum, also wie die meisten Fußballspieler nur das Mindestgehalt,das sind nicht mehr als 200 Euro im Monat. Mit den überfüllten Bussen hab ich keine Lust zu fahren.“

„Da holt man sich Flöhe.“ Beide lachten.

„Nein. Jetzt aber mal Spaß beiseite.“ Claudia überlegte. „Ich hätte da eine Idee...“

„Und? Was für eine Idee?“, wollte Angela wissen.

„Meine Schwester ist für drei Monate in Europa. Ihr Apartment liegt ganz in meiner Nähe, in der Rua Gomes Carneiro. Na, was sagst du? Wäre für eure Verabredungen damit gedient?“

„Ich weiß nicht.“ Angela zögerte. „Was würde deine Schwester dazu sagen?“

„Sie hätte dafür Verständnis. Ihr seid ja keine Vagabunden.“

„Wir sind keine Vagabunden“, wiederholte Angela leise, mehr zu sich selbst und lächelte dünn. „Danke, Claudia, für dein Angebot.“

„So ist es gut. Ich gebe dir morgen die Schlüssel. Kannst du nachmittags vorbeikommen?“

Angela nickte. „Danke nochmals.“

„Gerne geschehen. Ich krieg dann eine gratis Eintrittskarte, wenn dein Freund ein berühmter Fußballer ist.“

Beide kicherten herum. „Wer weiβ, wer weiβ!“, prustete Claudia.

Dann kam endlich die Ansage für den Flug aus Frankfurt.

„An die Arbeit“, meinte Claudia. „Und bitte freundlich lächeln, auch wenn es zwei Uhr nachts ist.“ Sie bezahlten und nahmen den Lift hinunter in den ersten Stock zur Ankunft A.
 
Der Zug hielt erneut an. Angela schreckte aus ihren Gedanken auf und bemerkte, wie sich das Abteil merklich leerte.

„Wie spät ist es Didi?“ Angela stieβ ihn sacht an.

„Es wird vier Uhr sein, wir kriegen Regen.“ Diogo deutete zu einem der hinteren Fenster. Angela drehte sich um und sah zum Himmel hinauf. Dunkle Wolken zogen auf. Als der Zug wieder anfuhr, stand plötzlich ein Schwarzer mitten im Abteil. „Ich bin Angelo!“ rief er. „Und bringe euch die frohe Botschaft aus dem Markusevangelium!“


Angela blickte amüsiert zu ihm herüber, dankbar für das willkommene Schauspiel.

Der Schwarze, in tadellos gebügelter dunkelblauer Hose und weiβem Hemd, legte seine Aktentasche auf eine Sitzbank ab.

Alles an ihm ist gepflegt, und er ist kräftig gebaut, dieser Angelo. Sie musste lächeln, er hatte mit seiner Predigt begonnen:


„Was wird das Zeichen sein für dein Kommen und für das Ende der Welt?, fragten seine Jünger. Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Seht zu, dass euch nicht jemand verführe. Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus!“


Wind war plötzlich aufgekommen und Blitze schlugen in immer kürzeren Abständen ein. Und schon krachte Donnerschlag auf Donnerschlag.


„Jesus sprach: Siehst du diese groβen Bauten? Nicht ein Stein wird auf dem anderen bleiben, der nicht zerbrochen werde“, fuhr der junge Mann ungerührt fort. Seine Stimme wetteiferte mit dem Krachen des Donners drauβen. Die Menschen bekreuzigten sich und die dicke Frau im blauen Kleid murmelte „Santa Barbara“, vor sich hin.


Das ist die reinste Weltuntergangstimmung! Soll ich lachen oder weinen?, fragte sich Angela, während der Wind den Regen in die Zugfenster peitschte, die schnell geschlossen wurden. Drauβen ist absolut nichts mehr zu sehen. Alles hinter dunklen Regenschleiern versteckt, und es ist stockfinster!


„Wenn ihr aber hören werdet von Kriegen und Kriegsgeschrei, so fürchtet euch nicht. Es muss so geschehen. Aber das Ende ist noch nicht da!“


Angela beobachtete inzwischen leicht irritiert den Prediger und wandte sich besorgt zu Diogo. „Wir werden nass werden“, sagte sie leise.

„Was hast du gesagt?“

„Wir werden nass werden!“, sagte sie lauter.

„Bis wir in Nilópolis sind, ist der Regen vorbei. Im Sommer haben wir das jeden Nachmittag.“ Er zwinkerte ihr zu. „Und den da vorne mit seinen weisen Sprüchen aus der Bibel, den kennen die meisten. Er kommt ab und zu mal und spricht über Jesus.“


Endlich! Der Regen hatte aufgehört. Der Schwarze hatte sich hingesetzt und schwieg. Anscheinend sind ihm seine Bibelsprüche ausgegangen, dachte Angela voll Ironie. Aha, das ist es! Er hat Hunger bekommen!


Der Prediger holte ein Sandwich aus seiner Aktentasche, entfernte das Papier, faltete es sorgfältig zusammen und begann zu essen.


Endlich das Schild der Bahnstation von Anchieta.

„Wir sind gleich da!“ Diogo nahm ihre Hand. „Die nächste Station ist Olinda, dann kommt Nilópolis.“


Da passierte es. Drei Vermummte Banditen stiegen in das Zugabteil. Sie waren bewaffnet und begannen los zu schreien: „malditos filhos da puta! - Das ist ein Überfall! – Habt ihr verstanden? Filhos da puta que os pariu!“

Angela schossen Gedanken wie: „Vorsicht! Die sind nervös, bleibe selber ruhig und dir passiert nichts und die wollen uns einschüchtern“, sekundenschnell durch den Kopf. Sie schielte zu Diogo. Ich sollte nicht einmal meine Swatchuhr tragen, kein Halskettchen, und bloβ keine Ohrringe, man kann sie dir vom Ohr abreiβen, warnte mich noch Didi. Bleib bloβ ruhig, hämmerten die Gedanken in ihr.


Zwei der Maskierten begannen im hinteren Waggon. „Geld und Schmuck raus! Sonst schieβe ich dir solch ein Loch in die Brust, dass eine Pizza reinpasst!“, schrie einer der Banditen. Der Andere begann mit dem Einsammeln der Wertgegenstände.

Angela holte ihre Geldtasche hervor. Genau hundert Reais und ein wenig Wechselgeld sind drin, dachte sie. Claudias Tipp, wie man in Rio überlebt. „Wenn du zuwenig dabei hast, lädst du dir nur ihren Zorn auf dich!“, warnte sie mich ein mal. Wer hätte gedacht, dass es mich heute erwischt? Aber in Rio erwischt es jeden! Bewahre mich Gott, dass sie sich mit hundert Reais zufrieden geben…

Puta merda! Ist das alles, was du hast?“ Der Bandit schlug schreiend auf einen Mann ein. „Runter! Baixa sua bunda suja! Und auf die Knie mit dir!“

„Ich habe nicht mehr“, wimmerte der Mann.

„Du schlieβt deine Augen und betest jetzt für deine Seele! Dann zählst du bis zehn, denn dann wird deine Geschichte beendet!“


Der Schwarze Prediger sprang auf und stellte sich dem Banditen entschlossen in den Weg. Den rechten Arm hoch erhoben, sprach er mit lauter Stimme zu ihm:

„Denn es wird sich ein Volk gegen das andere erheben und ein Königreich gegen das andere! Es werden Erdbeben geschehen hier und dort, es werden Hungersnöte sein. Das ist der Anfang…“ Der Bandit gaffte ihn mit offenem Mund an. Dann sprang er den Prediger an und wollte ihm eine reinhauen. Der Schwarze wich geschickt aus und schlug zurück. Blitzschnell landete seine geballte Faust mitten im Gesicht des Banditen.


„Ihr aber seht euch vor!“, rief ihm der Prediger triumphierend zu. „ Denn sie werden euch den Gerichten überantworten, und in der Synagoge werdet ihr gegeiβelt werden…“ Die beiden anderen Banditen begriffen erst jetzt die Kraft des Schwarzen. Sie kamen herüber und hielten ihre Revolver an seinen Kopf. Doch der Prediger lieβ sich nicht einschüchtern und schlug in Sekundenschnelle dem einen Banditen den Revolver aus der Hand, drehte sich blitzschnell herum, warf sich auf den anderen und zwang ihn zu Boden.


„Und vor Statthalter und Könige werdet ihr geführt werden um meinetwillen, ihnen zum Zeugnis!“ Lautes Beifallsklatschen und Rufe ertönten von den Passagieren. „Jesus!“, riefen die Menschen. Die dicke Frau im blauen Kleid bekreuzigte sich mehrmals.


“Und das Evangelium muss zuvor gepredigt werden unter den Völkern!“ Die Stimme des schwarzen Predigers war jetzt zu einem lauten Donnern angeschwollen. Da hielt der Zug in Olinda. Die Banditen flüchteten zur Tür heraus. „Dich kriegen wir noch! Filho da puta!“, riefen sie dem Prediger zu. Dann fuhr der Zug erneut an. Und die Passagiere lachten und klatschten. Endlich kamen die Schilder von Nilópolis. Angela atmete erleichtert auf.
 
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XXI


Senhor Marco Rabino war im Arbeitsstress. Auf seinem Schreibtisch herrschte Chaos, da türmten sich Aktenordner, Faxe und ausgedruckte Emails. Es war heiβ heute in Buenos Aires, die Temperaturen sollten auf vierzig Grad ansteigen. Morgen bin ich Gott sei Dank in Mexico City, dachte er grimmig. Hoffentlich ist es dort ein wenig kühler. Ich schwitze trotz der Klimaanlage, und der Stress bringt mich noch um, ich brauche ein wenig frische Luft. Schwerfällig erhob er seinen massigen Körper, wandte sich zum Fenster und öffnete es. Unten auf der Avenida 9 de Julio, herrschte wie immer dichter Verkehr, Busse und Autos auf der Prachtstrasse von Buenos Aires. Es wird immer schlimmer, dachte Rabino. Viel zu viel Autos. Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch zum Fenster hinaus in Richtung zum Obelisk. Das ist ein Witz! Der Obelisk im Nebel von Auspuffgasen eingehüllt. Meine Zigarette ist nicht schädlicher als die Auspuffgase dieser verdammten Stadt! Da muss ich gleich an den Rat meines Arztes denken: „Wenn Sie noch ein paar Jahre leben wollen, so verzichten Sie auf Zigaretten und befolgen meine Diätanweisungen, Senhor Rabino!“ Er seufzte. Die Luft, die zum Fenster hereinkommt, ist heiβer als die im Büro, aber sie gibt mir wenigsten die Illusion von Abkühlung.

Da klingelte das Telefon. Er eilte fluchend zum Schreibtisch und nahm den Hörer ab.

Si?“ meldete er sich.

Rabino hörte nur eine undeutliche Stimme.

„Hören Sie, ich schlieβe nur eben das Fenster, einen Moment!“, sagte er und ging zum Fenster.

„So, was kann ich für Sie tun?“, meldete er sich erneut.

„Ich will mit Senhor Marco Rabin sprechen.“

„Wer ist denn da?“, fragte Rabino unwillig. „Haben Sie keinen Namen? Und im Übrigen ist meine Name Rabino!“

„Bruno, aus Rio de Janeiro.“

„Bruno?“ Pause. "Und? Sollte ich Sie kennen?“

„Ja.“ Pause. „Ich habe Ihnen bereits zwei Emails gesendet, aber keine Antwort von Ihnen erhalten.“

„Hören sie, mein Schreibtisch ist überladen mit Korrespondenz!“ Verdammte Brasilianer, dachte Rabino ärgerlich. Die reinsten Parasiten sind die. Wie kommt meine Sekretärin dazu, diesen Menschen einfach durchzustellen?

„Ich will Ihnen ein Geschäft vorschlagen. Mein Cousin spielt sehr gut Fuβball…“

„Hören Sie, Bruno!“, schnaubte Rabino unwillig. „Ich werde mit solchen Angeboten wie dem Ihren täglich bombardiert. Wie kamen Sie überhaupt an meine Adresse?“

„Sie sind als Impresario überall bei uns bekannt, Senhor Rabino.“

„Und was ist an Ihrem Cousin nun so besonderes?“, fragte Rabino ungeduldig.

„Er ist erst sechs Wochen im Flamengo und spielte nach zwei Wochen bereits bei den Profis.“

„Ach, und da glauben Sie, Bruno, dass ich einfach mal deswegen nach Rio fliege?“, keifte er unwillig in den Telefonhörer.

„Ich glaube, dass es sich in diesem Fall lohnt.“

So, so. Aber morgen fliege ich nach Mexico City und Bogotá, verstanden?“ Da Bruno nicht antwortete, fuhr Rabino fort: “Wenn Ihr Cousin bis dahin immer noch so gut spielt, wie Sie behaupten, dann melden Sie sich in vierzehn Tagen wieder, wenn ich zurück bin.“

„Alles klar, keine Krise!“

Rabino überlegte kurz, dann: „In zwei Wochen haben wir fast Weihnachten, besser erst Anfang Januar. Vale?“

Vale“, antwortete Bruno und legte auf.

Rabin schüttelte den Kopf. Wenn er sich im Januar tatsächlich meldet, schauen wir mal, da ich sowieso nach Rio muss, überlegte er laut. Man sollte allen Hinweisen nachgehen. Aber jetzt brauche ich etwas Vernünftiges zu essen.
 
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