Seal144
Sehr aktives Mitglied
Was sind das für Menschen, diese jungen brasilianischen Fuβballprofis, die überall in Europa in den besten Clubs spielen? Wie leben sie und wie denken sie, wo kommen sie her?
Diese Frage wollte ich ein wenig mit meinem Roman beantworten.
„Fußball, das Ballett der Götter, die mit einem Ball spielen... Das ist Religion, das ist Magie!“
So wird Fuβball in Brasilien gesehen. Dort wo die Gene bereits in Vierjährigen Jungens zu tanzen beginnen, wie beim Protagonisten Diogo.
Fuβball ist Religion und zugleich Spiel. Spielerisch wird in Brasilien das Leben angegangen. Ein Volk, welches die Leichtigkeit des Seins wie kein anderes Volk besser beherrscht… in Brasilien tanzen die Gene der Menschen im Blut.
Maracanã
Der alte Mann zog das Bein ein wenig nach, als er mit Diogo an der Hand die Stufen hinabschritt. Es war still und ihre Schritte hallten unnatürlich laut. Das Maracanã Stadion war menschenleer. Unten angelangt, blieb er stehen, deutete zum Rasen.
„Das ist das Allerheiligste unseres großartigsten Tempels, mein Junge.“
Diogo nickte. Staunend blickte er auf das Grün vor ihm. Leuchtend und schier unendlich in seiner Ausdehnung.
„Hier haben alle unsere Götter gespielt.“
Der Alte betrat mit dem kleinen Diogo das Spielfeld.
„Diesen Rasen, mein Junge, pflege ich seit dreißig Jahren.“ Er bückte sich und strich liebevoll über die Gräser.
„Tio?“
Langsam wandte sich der Onkel zu ihm.
„Ja, mein Junge?“
„Tio, hier spielt auch Zico, nicht wahr?“
Sein Onkel lächelte. „Auch Zico. Komm, setzt dich zu mir“, forderte er ihn auf. „Ich habe dir etwas Wichtiges zu erzählen.“
„Wegen dem Geheimnis, nicht wahr, Tio?“
„Ja! Wegen dem Geheimnis!“ Er nickte.
Diogo setzte sich und blickte ihn erwartungsvoll an. Er schaute in das sorgenzerfurchte Gesicht des Mulatten. Seine ergrauten Haare verliehen ihm das Aussehen eines weisen Mannes.
„Es hat sich vor genau vierzig Jahren zugetragen“, begann sein Onkel. „Hier, auf diesem Rasen, fand 1950 die Fußballweltmeisterschaft statt. Damals befanden sich zweihunderttausend Menschen im Maracanã und ich spielte in unserer Nationalmannschaft als Mittelstürmer.“ Er machte eine Pause und lächelte. „Es war ein großes Fest und die Menschen jubelten uns zu. Wir überrollten alle Gegner. Drei Wochen war Karneval. Die Trommler waren im Maracanã und es gab Samba in Rio, und im ganzen Land. - Dann das Endspiel gegen Uruguay.“ Seine Stimme wurde heiser. „Wir führten mit einem Tor und Uruguay erzielte auch ein Tor. Doch dann kam die Schmach, als Uruguay das zweite Tor schoss!“
Betroffen hörte der kleine Diogo ihm zu.
„Es wurde plötzlich totenstill im Maracanã! – So still, dass man das Schluchzen einer Frau hörte“, fuhr sein Onkel fort. „Das Fest war zu Ende. Schweigend gingen die Menschen nach Hause. - Manche haben sich sogar das Leben genommen.“ Er lächelte traurig und nahm die Hand seines Neffen. „Ich habe damals einen Schwur abgelegt, mein Junge. Vor unseren afrikanischen Göttern. Einen Schwur, dass einer aus unserer Familie die Ehre zurückholen wird. Und das bist du, Diogo!“ Sein Onkel drückte seine Hand.
„Ich, Tio?“
„Ja!“ - Er nickte. „Du bist sieben Jahre alt und spielst jetzt schon herausragenden Fußball. Das ist ein Geschenk der Götter. Ein Geschenk von Xangô! Du wirst siegen. Hier auf diesem
Rasen und in der Welt. Xangô wird dich führen. Glaube immer daran.“ Sein Onkel schwieg und atmete schwer. „Das ist das Geheimnis, mein Junge!“
„Dass ich ein Sieger bin, Tio?“
„Ja! Du bist bereits zum Sieger geboren worden und stehst unter Xangôs Schutz! - Willst du versprechen, für den Ruhm Brasiliens zu kämpfen und zu siegen?“
„Ich verspreche es, Tio!“
„Glaube fest daran, immer. Und behalte dieses Geheimnis für dich.“
1. Buch
Angela saβ am Vidigal-Strand und blickte traurig hinaus über das Wasser. Sie nahm die Schönheit um sich herum nicht wirklich wahr, weder die kleinen Inseln, noch die üppige Vegetation an den Hängen der Steilküste, ihr Blick war starr nach vorne gerichtet, verlor sich irgendwo in weite Ferne.
Die Kulisse der Traumstadt Rio de Janeiro mit den verspiegelten Hochhäusern von Ipanema, sanft umspielt vom aufsteigenden Nachmittagsdunst des Ozeans, war nur noch belanglos wie ein Traum, so flüchtig und vergänglich wie das Leben. Seit Torstens Tod saβ Angela oft hier, ganz versunken in ihren Erinnerungen:
Sein plötzlicher Tod zwang mich in einen dunklen Tunnel, aus dem ich nicht mehr herauskomme, ich sehe die Bilder vor mir, als war es gestern.
Der Krankenwagen kam nach zehn Minuten. Mit heulender Sirene fuhren wir los, die Fahrt ging zu einem der besten Herznotfallkrankenhäuser.
„Du schaffst es“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Du schaffst es, Torsten. Nervös blickte ich immer wieder auf die Uhr.
Wir kamen schnell durch. Die Straβen waren Gott sei Dank leer. Dann aber sah ich nur noch zu Torsten. Ich fühlte, dass es mit ihm zu Ende ging.
Ich sehe immer noch seine Augen, wie das Leben langsam darin erlosch. Sie brachen und erstarrten. Er war auf einmal nicht mehr vorhanden. Wohin ging er? Welchen unsichtbaren Weg nahm er, auf dem ich ihm nicht folgen konnte?
Nur eine leblose Hülle blieb zurück, ich begleitete seinen toten Körper nach Deutschland und stand an seinem Grab. Neben mir fremde Menschen, und ich war mir selbst fremd. In mir war alles wie tot. Ich beobachtete, wie der Pfarrer predigte und auf das Jenseits hinwies mit seinen Versprechen. Erde fiel auf den Sarg, erst eine Hand voll und dann mehr und mehr, bis Torsten unter dem Erdboden verschwand. Ich nahm damals alles um mich herum besonders intensiv wahr, nur war es so, als ob es mich nicht betreffe. Ich konnte nicht einmal weinen. Aber ich roch den Duft der vielen Blumen. Die frische Erde. Ich hörte das Rascheln verdorrter Blätter, die der Wind wahllos herum blies. Sind wir nicht wie Blätter im Wind? Getrieben durch das Leben, sinnlos und ohne Ziel?
Ich weiβ, die Zeit wird die Wunde heilen, das Traurige daran ist, Torsten, dass du dich mir immer mehr entfernst. Jeden Tag wirst du ein wenig mehr hinüber gehen über dieses Meer und in der Unendlichkeit verschwinden. Du bist ja nicht mehr wirklich da… nur noch in meinen Erinnerungen, die eines Tages verblassen werden, Erinnerungen, die wie Sand durch meine Finger rieseln…
„Alô. Ist alles in Ordnung mit dir?“ Vor Angela stand ein kräftiger junger Mann, er war Mulatte und trug ein rotes T-Shirt und schwarze Shorts. Wie selbstverständlich hockte er sich neben sie in den Sand und sah sie aufmerksam an.
„Geht es dir gut?“
Sie nickte nur.
Er bemerkte ihre verweinten Augen, es waren blaue Augen. Sie ist eine Schönheit, dachte er, sogar mit geschwollenen Augen ist sie schön.
„Warum bist du traurig, kann ich dir helfen?“
Angela wendete sich dem jungen Mann zu.
„Mach dir keine Sorgen, mir geht’s gut.“
„Du sprichst Portugiesisch?“, fragte er neugierig.
„Ich habe es gelernt.“ Sie lächelte schwach. „Ich bin nicht im Urlaub, sondern arbeite oben im Hotel“, deutete sie hinauf zum Sheraton.
Eigentlich sollte ich nicht mit ihm reden, schoss es durch ihren Kopf. Man hat uns zur Genüge gewarnt. Rio gilt als eine der gefährlichsten Städte der Welt, wo Überfälle Tag und Nacht passieren…
„Ich weiβ ganz genau, was du denkst.“ Er lachte hell auf. „Nicht alle Menschen in unserem Land sind gefährlich. Meine Freunde und ich, wir spielen hier am Strand Fuβball und haben unseren Spaβ, mehr nicht.“
„Gut, ich glaube dir. Ich habe sowieso keine Wertsachen dabei.“
Die anderen Jungs riefen zu Diogo herüber, er winkte ab und bedeutete ihnen, dass sie ohne ihn gehen sollten.
„Woher kommst du?“, wollte er wissen.
„Aus Deutschland.“
„Deutschland? Oh, die spielen gut Fuβball!“
„Du denkst vor allem an Fuβball, oder? Was machst du sonst noch auβer Fuβball spielen?“
„Jetzt helfe ich ein wenig bei uns im Club aus. Mein Traum ist in den Flamengo Club aufgenommen zu werden. Zico ist mein groβes Vorbild.“
„Zico?“ Da kann ich doch nur drüber lächeln, sagte sich Angela. Wie selbstsicher er das von sich gibt. „Und du meinst, du hättest Chancen? Gibt es in Brasilien nicht noch einige Millionen, die den gleichen Traum haben wie du?“
Er nickte. „Ja, das stimmt. Ich bin aber ein guter Fuβballspieler. Morgen werde ich beim Flamengo vorspielen dürfen.“
„Na denn.“ Angela erhob sich. „Ich wünsch dir viel Glück.“ Sie sah ihn an. „Es wird schon dunkel, ich muss gehen.“
„Tchau“, rief er ihr noch zu. „Wir sehen uns bestimmt wieder. Ich komme öfters her.“