Lebensmitte

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Evatima

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16. Februar 2019
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Eigentlich nicht die Lebensmitte, sondern eher schon vor dem letzten Drittel steh ich nun mit vielen Plänen, wenig davon umgesetzt, vielen Wünschen, wenig davon erfüllt, angekommen in einer neuen Wohnung, allein. Es fühlt sich nicht schlecht an, aber auch nicht ganz gut, eben mittig, zwar reifer, aber auch mit kürzerem Weg vor einem, noch nicht am Gipfel, aber bereits die Baumgrenze überschritten, ein bisschen verloren, aber doch irgendwie neugierig, etwas müde und schwächlich, aber immer noch erhobenen Hauptes, den Wanderstock wie eine Waffe zückend, noch nicht ganz nur Krücke.

Ja, da stehe ich nun, schaue zum vollen Mond, der mich nicht schlafen lässt. Was nun, was muss ich loslassen für die dritte Etappe, nicht kurz, aber auch nicht mehr wirklich lang. Noch muss ich funktionieren, doch schweift mein Blick nach oben und will mehr, viel mehr.
 
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Was habe ich für schöne Wälder und Bäche gesehen, wie reich fühlen sich die Erinnerungen an! Wegbegleiter, die zu ihrem Gipfel loszogen, früher als ich, nun bereits am Ziel, während ich noch wandere. Die Last ist leichter geworden, die Wegzehrung in Energie umgewandelt, Ballast fortgeworfen, um die aufkommende Erschöpfung aufzufangen. Noch steht mir die Gipfelwand bevor, noch bin ich nicht am Ziel und muss meine Kraft erhalten und regenerieren.
 
Gerade war da noch eine diffuse düstere Wolke, die sich aufgelöst hat. Nun sehe ich den Gipfel klar vor mir. Mein Eispickel fest in der Hand, das Seil um die Hüfte geschwungen schreite ich fröhlich vorwärts. Ich sehe die klaren Konturen der Bergfelsen im gleißenden Abendlicht, kühle frische Luft, die ich einatme. Auf einmal ist alles so klar und einfach. Danke für dieses Geschenk, mein Gott, der mich führt! :thumbup:
 
Es ist Vollmond, wo das Halbe ganz wird und sich schließt mit den gegenläufigen Sichelenden, wo sich Fragmente zu einem vollen Bild verbinden und Sinn ergeben, wo vorher Ratlosigkeit und Widerspruch herrschte, der Moment, wo die Einseitigkeit aufhört und das Rund die spitzen Ecken glättet. Es braucht nichts künstlich abgetrennt zu werden, sondern darf integriert werden zu einer Schnittmenge im Kreis des Mondes, während das Überzählige sich im Dunkel verliert und loslassen darf ; in Frieden ziehen die Gedankenfetzen dahin, bis das Dunkel schweigt.
 
Eigentlich nicht die Lebensmitte, sondern eher schon vor dem letzten Drittel steh ich nun mit vielen Plänen, wenig davon umgesetzt, vielen Wünschen, wenig davon erfüllt, angekommen in einer neuen Wohnung, allein. Es fühlt sich nicht schlecht an, aber auch nicht ganz gut, eben mittig, zwar reifer, aber auch mit kürzerem Weg vor einem, noch nicht am Gipfel, aber bereits die Baumgrenze überschritten, ein bisschen verloren, aber doch irgendwie neugierig, etwas müde und schwächlich, aber immer noch erhobenen Hauptes, den Wanderstock wie eine Waffe zückend, noch nicht ganz nur Krücke.

Ja, da stehe ich nun, schaue zum vollen Mond, der mich nicht schlafen lässt. Was nun, was muss ich loslassen für die dritte Etappe, nicht kurz, aber auch nicht mehr wirklich lang. Noch muss ich funktionieren, doch schweift mein Blick nach oben und will mehr, viel mehr.


Wunderbar! Was für eine wunderschöne Ausgangssituation. Freiheit ....

:barefoot:
 
Nun bin ich hier und will für immer bleiben dürfen, obwohl ich immer nur weggehen wollte bisher. Der Kreis ist geschlossen, ich bin angekommen. Es fühlt sich so unwirklich an, jeden Tag schaue ich mich in meiner neuen Wohnung um und bin dankbar und fassungslos über dieses von oben zugedachte Glück, als wäre das abgerissene alte Haus meiner Kindheit wieder neu erstanden, für mich, voller Leben und einer 100-jährigen Geschichte, damit ich nicht in einem modernen Kaninchenstall hausen muss, was mich erstickt hätte. Ja, dann wäre ich immer unterwegs geblieben, aber jetzt auf einmal hat sich alles verändert. Es ist, als wäre ich wieder Kind, das zum Dachboden raufklettert, das glückliche Kind mit tropfendem Dachfenster, ein Haus, das noch atmet. Wie nur habe ich das verdient, ich bin sprachlos und voller Angst, dass mir so viel Glück nicht zustehen kann, obwohl ich davon träumte, ehe ich es erhielt. Danke, mein Gott, ich verdiene es nicht, danke, dass Du Dich meiner so annimmst, ich vertraue Dir weiterhin. Ich muss es, denn ohne Dich geht es nicht.
 
Es gibt sie, diese besonderen Tage, wo man sich freut, den "blinden Fleck" im eigenen Blickwinkel ein Stück weit gelichtet zu haben, sich zu erkennen, die eigenen Schwächen, der verdrängte Schmerz, Ersatzhandlungen, Kompensationen. Heute war ein solcher Tag und ich lachte breit und schallend über mich, verwundert, dass ich mich selbst wieder einmal so ausblenden konnte in meiner Selbstwahrnehmung, weil es weh tat und mich an ein schmerzhaftes Erlebnis erinnerte.

Dabei dachte ich, dass ich es nicht mehr tue, doch merke ich nun, dass da immer noch viele Anteile in mir sind, die sich mir entziehen wollen. Dessen muss ich mir bewusst bleiben. Fortan will ich es nicht mehr unterschätzen und noch achtsamer werden.

Ein bisschen bange wird mir dabei: Was bloß könnte ich noch verdrängt haben, wo ich doch immer so sehr glaube, alles detailgenau erinnert und reflektiert zu haben? Wäre es möglich, dass da doch noch mehr ist an schmerzhafter Erinnerung und ich es tief in mir vergraben konnte?
 
AN DIE FRAUEN
Ein Traum riss die Wunde auf, die so lange pochte in mir.
Ich als kleines Mädchen inmitten riesiger dominanter Brüder.
Wie sehr musste ich ankämpfen gegen ihre Dummheit und Rohheit.
Wie sehr musste ich ankämpfen gegen patriarchalische Entmündigung,
in der Familie, in der Schule, im Beruf, in der Gesellschaft.
Wie sehr hat es mich vereinnahmt und mich verstummen lassen.
Wie sehr begann ich mir diesen Schuh anzuziehen und merkte es nicht,
obwohl ich so lange dagegen ankämpfte und ein Junge sein wollte,
weil sie mir glauben machten, Junge zu sein sei besser .
Ich sah mich mit ihren Augen und nicht mehr mit meinen eigenen.
Wie lange brauchte es, eine eigenständige Frau zu werden,
die sich selbst wahrnimmt und sich abzugrenzen lernt,
die sich selbst definiert und ihren eigenen Weg sucht,
und das selbst-bewusst und erhobenen Hauptes,
und mit erhobenem Stinkefinger an die Männerwelt!
Und ja, es ist immer noch eine Männerwelt, unsere Gesellschaft,
machen wir uns und unseren Töchtern nichts vor, liebe Frauen,
die ihr bald ausgetauscht werdet gegen Jüngere und Dümmere,
die sich noch nicht erkannt haben, weil noch nicht befreit.
Doch jetzt hält mich kein Mann mehr auf - nie mehr!
Nie mehr werde ich mich begrenzen und definieren lassen -
schon gar nicht durch diese patriarchalische Gesellschaft,
wo Frauen nicht dieselben Chancen und Löhne haben,
auch dann nicht, wenn sie Jungs werden.
Wo Frauen doppelt so viel arbeiten wie ehedem,
um die Kinder nicht hängen zu lassen.
Es war nie gerecht und wird es noch lange nicht werden,
aber scheißdrauf - ich bin frei - das kann mir niemand mehr nehmen!
 
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@Evatima :)

Eigentlich nicht die Lebensmitte, sondern eher schon vor dem letzten Drittel steh ich nun mit vielen Plänen, wenig davon umgesetzt, vielen Wünschen, wenig davon erfüllt, angekommen in einer neuen Wohnung, allein. Es fühlt sich nicht schlecht an, aber auch nicht ganz gut, eben mittig, zwar reifer, aber auch mit kürzerem Weg vor einem, noch nicht am Gipfel, aber bereits die Baumgrenze überschritten, ein bisschen verloren, aber doch irgendwie neugierig, etwas müde und schwächlich, aber immer noch erhobenen Hauptes, den Wanderstock wie eine Waffe zückend, noch nicht ganz nur Krücke.

Ja, da stehe ich nun, schaue zum vollen Mond, der mich nicht schlafen lässt. Was nun, was muss ich loslassen für die dritte Etappe, nicht kurz, aber auch nicht mehr wirklich lang. Noch muss ich funktionieren, doch schweift mein Blick nach oben und will mehr, viel mehr.


Gut geschrieben und reflektiert, danke für das Thema, lässt mich auch wiedermal nachdenken.


Marabout
 
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