Kameltreiber Ali beim Psychiater

20.

„Bei allen Dschinns der Hölle! Ihr sagt uns sofort, wo ihr den Sprengstoff versteckt habt!“, schrie der Polizeibeamte Ali an und drohte wütend mit der Faust.

Ali und der Shrenk saβen im Polizeipräsidium von Al-Madina. Der Shrenk verstand von dem Verhör kein einziges Wort, konnte sich aber seinen Teil gut denken.

„Hören sie, wir sind nicht das, was sie glauben. Wir sind einfache Pilger auf der Hadsch.“ Ali rang nach Atem. Immerhin versuchte sie das den beiden Vernehmungsbeamten seit drei Stunden klarzumachen und hatte einen trockenen Mund vom vielen reden.

„Ach, erzählt das jemand anderem, aber nicht uns.“ Der Beamte stand auf und schlug vor Ali mit der Faust auf den Tisch. „Ihr seid Terroristen. Ihr seid westliche Agenten. Euer Auftrag war, die heilige Prophetenmoschee in die Luft zu jagen. Ihr wart gerade dabei, in der heiligen Masdschid an-Nabawi Moschee den Sprengstoffanschlag zu planen. Dank Allah, dem Allmächtigen, ist euch die Mutawa zuvorgekommen!“ Die Mutawa, dachte Ali, ein Schauder lief ihr über den Rücken, bei dem Gedanken. Dank Allah hatte man der Mutawa seit einigen Jahren das Recht auf Verhör entzogen.

„Ich frage euch nochmals geduldig, aber es wird nicht mehr lange dauern und meine Geduld ist zu Ende“, drohte der Beamte. „ Wer sind eure Auftraggeber?“

„Wir haben keine Auftraggeber“, antwortete Ali.

„Keine Auftraggeber?“ Der Beamte lachte. „Entweder der Mossad oder der CIA! Das finden wir schon heraus. Die Peitsche wird euch gesprächiger machen, glaubt mir!“

„Wir haben keine Auftraggeber“, versuchte es Ali erneut.

„Ach ja? Dann verratet mir mal, was habt ihr im Keller der Madschid an-Nabawi Moschee gesucht?“

„Wir sind Freunde von Karim Bin Awad und waren mit Doktor Hans Omar Pasch, seinem Architekten hier in Al-Madina. Warum erkundigt ihr euch nicht bei Karim Bin Awad oder Doktor Hans Omar Pasch?“

„Beantwortet mir die Frage, was ihr dort unten im Keller der Moschee gesucht habt!“

„Doktor Hans Omar Pasch, wollte uns das hydraulische System für die Kuppeln der Moschee zeigen. Er wurde aber von jemandem angerufen und musste kurz weg. Pasch wollte uns nur zehn Minuten allein lassen, wie er sagte. Da er aber nicht zurückkam, und es meinem Freund, dem Doktor Shrenk schlecht ging, waren wir auf der Suche nach frischer Luft.“

„Frische Luft, oder einem Versteck für den Sprengstoff?“

„Haben wir denn kein Recht auf einen Anwalt?“, erkundigte sich der Shrenk leise bei Ali.

„Mein Freund bittet um einen Anwalt“, gab Ali die Frage vom Shrenk weiter.

„Anwalt?“ Der Beamte lachte. „Das Königreich Saudi-Arabien ist ein souveräner arabisch-islamischer Staat. Seine Religion ist der Islam. Seine Verfassung ist die des Buches, des Allmächtigen Gottes, dem Heiligen Koran und der Sunna. Ihr braucht keinen Anwalt, denn der heilige Koran wird darüber entscheiden, was mit euch zu geschehen hat.“

Worauf er zum Telefon griff: „Abführen!“

„Wir sind unschuldig“, versuchte Ali die Beamten zu überzeugen. „Habt ihr denn keine Anwälte für Ausländer?“ versuchte sie es nochmals.

„Ihr werdet, wenn es soweit ist dem Richter übergeben. Und jetzt schweigt, sonst beginnen wir sofort mit der Bestrafung durch Peitschenhiebe.“

Ali beschloss sich besser an die Aufforderung zu halten und schwieg.

Peitschenhiebe? Vielleicht hätte ich besser im Al-Gharb bleiben sollen statt diese lange Kette von Abenteuern durchzustehen, fragte sich Ali.

Es betraten zwei weitere Beamte den Raum und forderten Ali und dem Shrenk auf, ihnen zu folgen. Während es durch ein Wirrwarr von Gängen und Treppen, ein Stockwerk hinunter ging, wollte der Shrenk wissen was los sei. „Schweigen sie“, flüsterte Ali. „Ich erzähle es ihnen später.“ Dem Shrenk schauderte, als drauβen auf dem Gefängnishof plötzlich gellende Schreie erklangen. Auch Ali zuckte zusammen. Dann wurden sie in eine Zelle hineingestoβen und hörten, wie die Tür mit lautem Krach zu fiel und von auβen verriegelt wurde.

„Oh Ali, was sollen wir tun?“ Der Shrenk war in einem jammervollen Zustand. Sein Atem ging schwer und ihm war übel. Ali ging es auch nicht besser. Sie hielt sich die Nase zu, die Zelle, in die man sie eingesperrt hatte, strotzte vor Dreck, es stank nach Schweiβ, Erbrochenem, Fäulnis und Urin.

„Das war einfach zu viel!“, entfuhr es Ali. „Der heutige Tag eine einzige Katastrophe!“ Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Gesicht. „Wie spät mag es jetzt sein?“, fragte

sie den Shrenk, der dies natürlich auch nicht wissen konnte, denn ihre Uhren hatte man ihnen abgenommen.

Wenigstens durften wir unsere Pilgerkittel anbehalten, sonst wäre es aufgeflogen, dass ich eine Frau bin, dachte Ali mit Schaudern.

Eine einzige Kette von unglücklichen Ereignissen, zählte Ali auf:

„Heute am Morgen die Geiselnahme in der Al-Haram Moschee in Makka durch Mohamed und seine Dschihadhis. Dann die Fahrt nach Al-Madina und unsere gelungene Flucht vor Mohamed.“ Ali schluchzte. „Aber nun, Shrenk, sind wir vom Regen in die Traufe, gekommen. Wir sitzen im Gefängnis, und man verdächtigt uns des Terrorismus.“

„Beruhigen sie sich, lieber Ali“, versuchte es der Doktor mit einer Stimme, die ihm fast versagte.

„Beruhigen? Wisst ihr was uns blüht?“

Der Shrenk schüttelte verneinend den Kopf, ja eigentlich schüttelte er sich am ganzen Körper, denn er ahnte, was Ali nun sagen würde.

„Die Todesstrafe! Wir werden geköpft.“

„Hm“ murmelte der Shrenk und rang nach Atem.

„Hm? Das ist alles was euch dazu einfällt? - Bei Allah dem Allmächtigen! So tun sie was Shrenk. Ihre ganze Psychoanalyse, wem nutzt sie überhaupt? Wir sitzen hier fest und es ist ihre Aufgabe etwas dagegen zu unternehmen!“

„Hm.“ Der Doktor räusperte sich und zwirbelte nachdenklich seinen Bart. „Wir kennen die psychische und psychosoziale Bedeutung von Macht aus der eigenen Kindheit. Hm. Dort war sie uns vertraut aufgrund unserer existentiellen Angewiesenheit auf versorgende, schützende und kontrollierende Elternfiguren, die uns in die Welt einführten und uns lehrten, was gut und böse ist.“

„Shrenk! Es geht hier nicht um unsere Eltern!“

„In der Tat geht es darum. So lasst mich doch ausreden.“

Ali nickte, ein wenig ungeduldig zwar, aber sie schwieg. Schlieβlich hoffte sie auf ein Wunder vom Shrenk.

„Also“, begann der Shrenk erneut:

„Elterliche Kontrolle und Steuerung waren überlebenswichtig, weil wir noch nicht über Autonomie und Urteilskraft verfügten. Die Verbindung der Macht mit kindlichen Tarnmanövern kam immer dann zustande, wenn wir als Kinder selbst zu Lüge und Abwehrmaβnahmen griffen, um uns elterlichem Zugriff und elterlichen Kontrolle zu entziehen. Versteht ihr, was ich sagen will?“

„Ja, schon. Wenn wir sagten, das war nicht ich, das war der Junge vom Nachbarn, aber was hat das mit dem Gefängnis zu tun?“

„Auch wir sind hier, wie in unsere Kindheit damals, wo wir elterlichen Abwehr- und Manipulationsstrategien ausgesetzt waren. Genau wie damals, wenn sie unsere unterlegene Position nutzten, um verzerrte Wahrnehmungen auf unserer Seite zu begünstigen.“

„Was?“

„Es ist nun einmal so, dass Sicherheit, Selbstachtung und Respekt, Gewissen, Wohlbefinden und Verantwortung diejenigen Funktionen sind, die beachtet werden müssen, wenn es um Machtkonflikte geht.“

Der Doktor schwieg und blickte angestrengt an die Decke. Ali beobachtete ihn kopfschüttelnd. Womöglich kam oben von der Decke doch noch das Wundermittel?

„Wer unten ist, kann von unten dirigieren. Man kann herrschen durch Leiden. Man kann herrschen durch aggressive Gefügigkeit oder durch fordernde Abhängigkeit. Man kann durch Zuschreibung von Verantwortung an die Autoritäten sich selbst entlasten.“

„Doktor! - Beim Barte des Propheten, Allah habe ihn selig, aber was hat das in irgendeiner Weise mit uns zu tun, oder wollen sie mit Selbstachtung, Respekt und Verantwortung zum Schafott schreiten und dabei herrschen durch Leiden während das Schwert auf unseren Hals niedersaust? Wem hilft euer theoretisierender Wissenschaftsdunk? Aber fahren sie fort, fahren sie ruhig fort Doktor Shrenk, so vertreiben wir uns wenigstens die kostbare Zeit, die uns von unserem Leben noch bleibt. Sobald der Ramadan zu Ende geht, werden wir geköpft, mit einem Schwert, werter Shrenk. Und falls sie es rauskriegen, dass ich eine Frau bin, bekomme ich einen Sack übergestülpt und werde mit dem Revolver erschossen und zwar inmitten auf dem Richtplatz vor einer versammelten Schar Neugieriger!“

„Wirklich?“ Der Doktor war mal wieder blass geworden, währenddessen Ali in ihrer Aufregung, ein gerötetes Gesicht bekommen hatte, sich die eigene Hinrichtung bildlich vorzustellen. „Unser Blut wird anschlieβend mit dem Schlauch abgespritzt. Und wissen sie, werter Doktor, wie oft das in Saudi Arabien passiert? Nein? Letztes Jahr waren es neunundsiebzig Hinrichtungen.“

„Wir sollten nicht so negativ denken, werter Ali“, antwortete der Doktor, wurde aber von Schreien aus dem Hof unterbrochen. Es war eindeutig ein Mann der schrie, und man hörte den Knall der Peitsche. Der Mann schrie im Rhythmus einer niedersausenden Peitsche, die im genauen Takt auf ihn einschlug. Ali und der Doktor begannen zu zählen. Dann endlich Stille gefolgt von leisem Stöhnen.
 
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„Wir sollten nicht so negativ denken, werter Ali“, antwortete der Doktor, wurde aber von Schreien aus dem Hof unterbrochen. Es war eindeutig ein Mann der schrie, und man hörte den Knall der Peitsche. Der Mann schrie im Rhythmus einer niedersausenden Peitsche, die im genauen Takt auf ihn einschlug. Ali und der Doktor begannen zu zählen. Dann endlich Stille gefolgt von leisem Stöhnen.

„Es waren neunzehn Hiebe“, flüsterte der Shrenk.

„Stimmt doch gar nicht, es waren zwanzig.“

„Ali, geht das schon wieder los?“

„Natürlich waren es zwanzig!“ Unwillig sah Ali den Doktor an. „Erstens gibt es als Strafe nie und nimmer neunzehn Peitschenhiebe, sondern zwanzig. Und zweitens seid ihr nicht mehr in der Lage zu zählen, ihr seid zu sehr befangen durch eure Angst.“

„Statt zu streiten, sollten wir besser uns an ein lösungsorientiertes Gespräch halten“, versuchte es der Shrenk seufzend.

„Na gut, dann sprecht, aber schnell, bevor das Wehgeschrei da drauβen erneut losgeht. Oder sie uns auch auf den Hof zum Auspeitschen zerren.

„Man kann wirksam den Mächtigen disqualifizieren und diffamieren, indem man sich als sein armes Opfer zur Schau stellt. Das ist Machtkampf. Waffen gibt es auf beiden Seiten. Macht und Ohnmacht gehören zusammen.“ Der Shrenk schwieg kurz und begann seine Gedanken weiter darzulegen: „Ohne asymmetrische Beziehungen können wir nicht glücklich und produktiv zusammenleben und wir könnten nicht voneinander lernen, wachsen und reifer werden. Wir könnten uns nicht sicher und geschützt fühlen.“

Erneut wurde des Doktors Monolog durch gellende Schreie auf dem Gefängnishof unterbrochen.

„Sicher und geschützt fühlen?“ Ali konnte nicht anders, aber sie fragte: „Fühlt ihr euch hier sicher und geschützt, Doktor?“

„Gar nicht übel, werter Ali. Denn liegt der Problemfokus im Bereich des Befindens durch den Eindruck, manipuliert oder fehlinformiert zu werden, durch einschränkendes Kontrolliertwerden und dementsprechender Verschlechterung des Klimas. Ähm, ja. Durch Entmutigung und mangelnde Anerkennung, sind vor allem Ressourcen der Kreativität, des Humors, der inneren Distanzierung angezeigt. Also euer Humor ist da durchaus angebracht.“

„Es waren diesmal fünfzig Peitschenhiebe“, antwortet ihm Ali. Drauβen auf dem Hof war wieder Ruhe eingekehrt. „Womöglich ist das arme Opfer in Ohnmacht gefallen!“ Ali starrte abwesend auf einen Schmutzfleck an der Wand. „Aber fahrt ruhig fort, Doktor. Wir sollten ja auf alle verfügbaren Ressourcen zurückgreifen.“

„Diese Verhältnisse, die sich durch asymmetrische Zuständigkeiten, Machtbefugnisse und Kompetenzen auszeichnen, bedürfen jedoch stets der Legitimation und der Infragestellung, nach auβen wie nach innen. Macht muss sich verpflichten, ihre Legitimation auf eine Basis

des Respekts vor dem andern zu stellen.“

„Also Doktor! Begreift ihr nicht? In Saudi-Arabien hat das religiöse Recht von den Religionsgelehrten der Ulama Gültigkeit. Die Rechtsprechung im Königreich orientiert sich strikt am religiösen Recht in der hanbalitischen Interpretation. Das bedeutete dass dieses Recht in Fragen der öffentlichen Moral besonders strikt ist. Und was das zu bedeuten hat, bekommen wir ja alle paar Minuten von drauβen auf dem Hof, anschaulich zu hören.“

„Ja, gewiss Ali“, seufzte der Shrenk. „Es geht aber um Respekt und darum, dass die Wahrheit zugemutet wird. Das macht wach und verschafft Bewegungsraum.“

„Bewegungsraum? Hier in dieser stinkigen Zelle haben wir keinen Bewegungsraum.“

Ali stöhnte und hätte sich am liebsten die Haare gerauft, da fiel ihr ein, dass sie kaum noch Haare auf dem Kopf hatte, so strich sie sich nervös über ihre paar Haarstoppeln.

„Wo immer der Problemfokus im Machtkampf liegt, es gibt eine Empfehlung, lieber Ali: „Jede Person, wo immer sie steht, verfügt über Ressourcen der Macht und Talente. Das bedeutet Macht auszuüben, gegen innen oder gegen auβen. Diese Talente sind zu entdecken und zu entfalten.“

„Diesen ganzen Schmarren glaubt nicht mal ihr selbst!“

Ali schritt wütend die Ausmaβe der Zelle auf und ab.“ Bewegungsraum? Genau vier Schritte haben wir in dieser elenden Zelle Bewegungsraum.“

„Ali“, versuchte es der Shrenk nochmals. „Es geht darum, eigene Machtressourcen zu erkennen und zu mobilisieren. Man nutze sie nicht blind, sondern auf der Basis von Selbst- und Fremdlegitimation.“

„Fremdlegitimation?“ Ali stutzte. „Das könnte die Lösung sein. Die Justiz wird in Saudi Arabien nach den Regeln der Scharia ausgeübt“, dachte Ali laut nach und blieb vor dem Fleck an der Wand stehen. „Die Richter werden vom König auf Vorschlag des Hohen Rates ernannt.“

„Ali, was nützen uns die Gesetze Saudi Arabiens?“

„Yes we can!”, rief Ali und ballte ihre rechte Faust. „Allein der König ist von den Gesetzen ausgenommen. Versteht ihr, Doktor? Der König kann Gerichtsurteile ändern, aufheben und er kann Urteile sprechen. Er ist der oberste Richter seines Königreiches mit unbegrenzten Befugnissen. Na was sagt ihr jetzt?“

„Jetzt? Sagen? Was soll ich sagen?“ Der Doktor blickte misstrauisch. „Ich kann ihnen einmal wieder nicht folgen, Ali.“

„Der König, Doktor. Der König versteht ihr denn immer noch nicht? König Abdullah Al-Saud wird uns helfen, wird uns helfen müssen.“

In diesem Augenblick öffnete sich die Luke in der Tür und ein Krug mit Wasser und etwas Undefinierbarem, was wohl essbar sein sollte, wurde hinein geschoben. Ali rannte zur Tür. „Ich muss mit den Beamten sprechen!“ Die Luke schloss sich.

Ali brachte den Krug und stellte ihn vor dem Shrenk auf den Fuβboden. Die undefinierbare Speise entpuppte sich als Reiskugeln. Erschöpft sank sie zu Boden. Beide tranken durstig.

„Werter Shrenk. Allah meint es gut mit uns. Wir haben zu trinken, wir haben zu essen, für den Rest werden wir schon sorgen. Inshallah!“

„Inshallah“, murmelte auch der Shrenk und probierte eine der suspekten Reiskugeln.
 
21.

„Mister Ali, da wir noch immer kein Geständnis von euch haben, ist euch die Todesstrafe so gut wie sicher.“ Der Kommissar seufzte und schritt bemessenen Schrittes vor Ali auf und ab. Heute werde ich ohne den Shrenk verhört, dachte Ali. Diesmal ist der kleine runde Beamte an der Reihe, er wirkt sogar gemütlich mit seinen treuherzigen Augen und dem überdimensionalen Schnäuzer. Wie er hier vor mir hin und her watschelt, macht er einen fast harmlosen Eindruck. Im Gegensatz zu dem anderen Mann, dieser hagere mit dem stechenden Blick. Aber ich lasse mich von dem Gemütlichen hier nicht täuschen.

Ali wusste, dass jetzt die Tricks und Täuschungen dran kommen. Es war ihr bekannt, Verurteilungen in Saudi Arabien waren auf der Basis von Zwang oder Täuschung zulässig, um Geständnisse zu erzielen.

„Es sei denn ihr gesteht jetzt, dann können wir eventuell über mildernde Umstände nachdenken.“

Aha, so geht das, folgerte Ali und schwieg. Der Kommissar möchte mir wohl mit seinem bemessenen Schritt imponieren, er erinnert mich dabei aber eher an eine watschelnde Ente. Wollen wir doch mal sehen was als nächstes kommt. Und siehe da war es:

„Als Terroristen die nicht gestehen, droht euch die Todesstrafe durch das Schwert!“

Die Watschelente blieb vor Ali stehen und blickte ihr fest in die Augen. Ali senkte den Blick und schwieg. Wie lange sie hier beim Verhör saβ, wusste sie nicht, nur, dass man sie mitten in der Nacht aus der Zelle geholt hatte. Vielleicht war sie zwei Stunden hier, oder länger?

Wo bin ich, frage ich mich. Ich war einmal eine glückliche Hausfrau, die gerne damit kokettierte, ein wenig naiv zu sein, aber das war nur Farce. Eine geballte Ladung Abenteuerlust habe ich intus und komme dadurch in manche Schwierigkeiten. Ali atmete schwer. Da wird wieder so einiges verwechselt, wenn Frauen als Rebellinnen auftreten. Wie oft habe ich das mit dem Shrenk ausdiskutiert, dass es mir darum geht: Um Freiheit geistig und physisch. Als der Shrenk noch immer nicht begreifen wollte, da habe ich ihm seine ganze Psycho-Workshop-Kultur vorgeworfen. Das saβ! Darauf brachen wir Hals über Kopf in die Rub-Al-Kahli auf...

„Habt ihr das begriffen?“, schimpfte der Beamte. Ali schrak hoch und nickte höflich. Unwillkürlich musste sie an eine Sure aus dem Koran denken, die ein Dschihadhi nun im Geiste vor sich hinsagen würde:

«Und du darfst ja nicht meinen, dass diejenigen, die um Gottes willen getötet worden sind, wirklich tot sind. Nein, sie sind lebendig im Jenseits, und ihnen wird bei ihrem Herrn himmlische Speise beschert.»

Was ist das alles für eine Gehirnwäsche in unserer Welt? Ich frage mich, wie kann man sich davor bewahren? Ich frage mich vor allem, wie komme ich hier wieder heil raus?

Die Ente vor ihr aber fuhr mit schneidender Stimme fort:

„Aber das ist noch nicht alles. Denn da ihr kein Geständnis ablegen wollt, werdet ihr anschlieβend gekreuzigt!“

„Groβer Gott!“, entfuhr es Ali. Sie hatte von solche Hinrichtungen gehört und wusste, dass es sie wirklich gab.

„Allahu Akhbar.“ Der Beamte wurde lauter.

Ali dachte an den Sandsturm und an Mohammed und seine Dschihadhis. Und nun werde ich selbst als Dschihadhi verdächtigt. Das ist der reinste Irrsinn!

“In unserem Land werden Kreuzigungen nach der Enthauptung vorgenommen.“ Diesen und den folgenden Satz, lieβ sich der Beamte genieβerisch auf der Zunge zergehen:

„Der Körper wird zusammen mit dem abgetrennten Kopf auf einem Pfahl befestigt und zur Abschreckung auf einem öffentlichen Platz ausgestellt.“

Ali blickte den Beamten entgeistert an und assoziierte damit sofort Inquisition. Was ist furchteinflöβender? - Das Mittelalter mit seinen Machenschaften und grausamen Folterungen zum Erzwingen eines Geständnisses, dieses Gefängnis in Saudi Arabien, oder Guantanamo und die CIA? - Durch Folter würde ich sogar zugeben ein Schimpanse zu sein, aber das behalte ich besser für mich.

„Bedauerlicherweise habe ich absolut nichts zu gestehen“, sprach Ali brav ihr Sprüchlein auf. „Ich sagte, dass wir Gäste bei Karim Bin Awad in Dschidda sind und uns auf der Hadj befinden. Wie ihr sicherlich wisst, ist Karim Bin Awad ein guter Freund vom König. Abgesehen davon habe ich als deutscher Staatsbürger das Recht mit meiner Botschaft zu telefonieren.“ Wie oft und wie lange Ali dies als Antwort gab, wusste sie nicht mehr, aber wie ein Automat wiederholte sie stur immer und immer wieder dieselben Sätze. Das hatte sie mit dem Shrenk vorher so abgesprochen gehabt und da es der Wahrheit entsprach, hoffte sie, der Shrenk würde bei seinem Verhör durchhalten. Immerhin war er es, der über noch verfügbare Ressourcen redete.

Die Ente hatte aufgehört, im Raum vor Ali auf und ab zu watscheln, starrte Ali minutenlang an. Durch das Fenster brach die Dämmerung herein. Es ist bereits morgens, ein neuer Tag bricht an. Was er wohl bringen wird, fragte sich Ali und atmete einmal kräftig ein und wieder aus.
 
22.

„Doktor, da seid ihr ja endlich!“ Ali richtete sich auf um den hereinkommenden Shrenk zu begrüβen. „Und ?“

„Hm.“ Der Doktor wischte sich erschöpft den Schweiβ von der Stirn. „Ich habe mich tapfer gehalten und unser Sprüchlein aufgesagt.“ In diesem Augenblick wurde die Zellentür erneut aufgestoβen und ein Wärter befahl mit barscher Stimme: „Mitkommen!“

„Au weh“, flüsterte Ali und erhob sich. Der Shrenk war einmal wieder erblasst, aber das war nun völlig unwesentlich.

Wesentlich ist es, überlegte der Shrenk, wie wir der drohenden Strafe mit den Peitschenhieben entgehen können. An Flucht ist nicht zu denken. Seufzend machte er sich mit hängenden Schultern hinter Ali und dem Wärter auf den Weg.

Bei jeder Treppenstufe, die der Shrenk hinaufstieg, vertiefte er sich mehr und mehr in sein Thema Aggression und Regression. Seine Seufzer wurden immer lauter über so viel Trieblust, die in diesem Thema verborgen war.

Ich frage mich nun ernstlich, was hier eigentlich vorgeht, grübelte er. Es könnte sich ja um eine ganz gemeine Projektion handeln Hm. Aggressive Regungen und Erregungen entstammen bekanntlich einer Abwehrmaβnahme. Der Impuls, den Gegner anzugreifen und zu bedrohen, imponiert seit der Kindheit. Es handelt sich offensichtlich um einen gebieterischen Drang. Genau so ist es!

Der Doktor hatte es erkannt. Triumphierend blieb er stehen und kratzte sich hinter dem rechten Ohr, immer ein Zeichen allerhöchster Konzentration.

Das Kind muss die eigene Angriffslust unkenntlich machen, da sich ihm Stärkere entgegenstellen. Dies geschieht mithilfe des Abwehrmechanismus der Projektion!

„Shrenk?“, hörte er Ali flüstern. „Bei Allah und seinem Propheten, so kommen sie.“ Aber der Doktor hörte nur mit halbem Ohr zu. Galt es doch zu einer wissenschaftlichen Schlussfolgerung zu gelangen. Dem wahren Grund der Misshandlung drauβen auf dem Hof, die ihnen nun blühte. Egal ob neunzehn, zwanzig. Ähm, oder fünfzig Peitschenhiebe. Geschwind nahm er die fehlenden Treppenstufen hinauf und konzentrierte sich erneut auf sein Thema: Das ist es! Ähm. Hm. Es ist eine Projektion die wir hier gleich erfahren werden, beziehungsweise der Vollstrecker erfährt sie. Oder erfahre ich sie? Der Doktor wurde ein wenig unschlüssig, darüber eine klare Antwort zu finden. Immerhin hatte er sich die halbe Nacht im Verhörraum um die Ohren geschlagen. 81

„Nicht ich habe den aggressiven Impuls, sondern das mächtige Objekt. Das Subjekt steht so im Zentrum eines Angriffs und wird eingeholt von Rache, Verfolgung, Strafe!“, murmelte er siegesgewiss.

„Shrenk? Haltet den Mund oder wollt ihr auffallen?“

„Auffallen?“ Der Doktor blickte Ali verständnislos an, wurde aber leiser:

„Es geht um Aneignung von Strategien der Besänftigung, Beschwichtigung.“

Aufgeregt kratzte er sich hinter dem linken Ohr, denn nun wurde es erst richtig spannend: „Der destruktive Impuls wird verhüllt! Der destruktive Impuls besteht darin, dass ein Ich die Anerkennung des Anspruchs des Objekts verweigert!“

Um den Unmut des Gefängniswärters zu vermeiden, setzte der Shrenk seine Gedanken flüsternd fort. So bekamen damit weder der Wärter noch Ali, etwas von seinen wichtigen Reden mitbekamen. Leise lachte er in sich hinein, über die Lage in der er sich hier befand. Er war kein Pferdeflüsterer. Nein. Ein Shrenkflüsterer! Und das im Gefängnis der heiligen Stadt Al-Madina, auf dem Weg zum Auspeitschen!

„Wie ist das nun mit der psychischen Organisation und Intersubjektivität?“, fragte sich der Shrenk. Nach kurzer Pause fuhr er fort:

.„Hier verhüllt das Ich den Blick auf die Realität. Dies geschieht mithilfe des Abwehrmechanismus der Verleugnung. Verleugnung!“, wiederholte er nochmals. „Groβartig, groβartig. Ich wiederhole also: Hier verhüllt das Ich den Blick auf die Realität. Dies geschieht mithilfe des Abwehrmechanismus der Verleugnung. Das Individuum verfällt der Wahnbildung, der Verkennung. Die Verleugnungsleistung ermöglicht eine archaische Befreiung des Trieblebens bei Auslieferung des Individuums an äuβere Gewalten, da die Selbsterhaltungsfunktionen degenerieren…“

Des Doktors Gedanken über Aggression und Destruktion, wurden vom Wärter gestört, der Ali und den Shrenk in einen Büroraum hinein stieβ. So fanden sich Ali und der Doktor, bei dem Vernehmungsbeamten wieder, der sie letzte Nacht verhörte.

„Was passiert jetzt mit uns, Shrenk?“ fragte Ali leise. „Nochmals stundenlange Psychofolter halte ich nicht aus, aber wenigstens kriegen wir keine Peitschenhiebe.“

„Bei Allah, dem Allmächtigen“, was wollt ihr noch alles von uns wissen?“, fragte Ali. 82

„Wir haben doch alles gesagt“, flüsterte der Shrenk, da er sich inzwischen an das Flüstern gewöhnt hatte.

„Es ist wegen dem Telefonat mit euren Botschaften“, klärte sie der Polizist auf.

„Oh!“, riefen Ali und der Shrenk wie aus einem Mund, plötzlich munter.

„Ihr erhaltet die Möglichkeit, ein kurzes Gespräch mit euren Botschaften in Riad zu führen.“

„Allahu Akhbar! Allah meint es gut mit uns“, murmelte Ali.

Das Gespräch dauerte keine fünf Minuten. Ali informierte den Botschaftssekretär von ihrer Gefangennahme in der Moschee in Al-Madina. „Hören sie!“, sprach sie aufgeregt ins Telefon. „Nur Doktor Hans Omar Pasch kann uns noch helfen, er ist ein Freund von Karim Bin Awad.“ Dann gab sie dem Botschaftssekretär die Handynummer von Pasch. Auch der Shrenk durfte mit seiner Botschaft sprechen und gab dem dortigen Sekretär die gleichen Anweisungen und das in normaler Lautstärke.

„Und nun hinaus mit euch!“, befahl der Beamte barsch. Mit einem Nicken bedeutete er dem Wärter, die beiden gefährlichen Terroristen Ali und Doktor Shrenk in ihre Zelle zurückzubringen.
 
23.

„Shrenk?“ Ali rüttelte den Doktor heftig an den Schultern. „Was ist los mit euch? Seid ihr endgültig durchgedreht?“ Ali seufzte. „Es kann sich nur um den Supergau eines wahnsinnigen Psychiaters handeln. Seit Minuten versuche ich euch zu stoppen mit eurem automatisiertem Auf und Abgehen, aber ihr nehmt mich gar nicht wahr. Stattdessen flüstert ihr vor euch hin und kratzt euch abwechselnd am rechten und linken Ohr!“

Ali stellte sich entschlossen dem Shrenk in den Weg, aber der Doktor wich ihr mit schlafwandlerischer Sicherheit aus und nahm seinen Gang erneut flüsternd auf.

„Doktor, so hört mich doch, oder redet wenigstens so laut, dass ich es hören kann.“

Ali rüttelte an seinem Pilgerkittel. Vergeblich. Da fiel ihr Akhbar ein und sie rief laut seinen Namen.

„Akhbar?“ Der Doktor stoppte und blickte erstaunt um sich. „Wo ist Akhbar und warum sind unsere Kamele nicht gesattelt? Wir wollten doch los reiten.“

Wenn ich mich nur mit diesem ganzen Psychokram auskennen würde, dachte Ali. Dann könnte ich die richtigen Maβnahmen ergreifen. Ein durch geknallter Shrenk in einem Gefängnis in Saudi Arabien, da hilft nur Selbsthilfe!

„Akhbar?“, fragte der Shrenk erneut.

„Akhbar kommt gleich, werter Shrenk. Akhbar ist Miriam hinterher gejagt. Ihr wisst doch, diese leidige Seelenverbundenheit der beiden Kamele!“

„Ach ja“, nickte der Doktor und lächelte, als ginge ihm gerade ein Licht auf.

„Wir erörterten ja das Thema der Seele und ihres Herabsteigens, im Hause Al-Rashid, wo Salim Al-Rashid über, ähm, dieses Gedicht von Ibn Sinna sprach.“

„Genau, aber das ist eine Weile her und viel ist inzwischen passiert, Doktor.“

Und ihr verdrängt gewaltig unsere Anwesenheit in diesem Gefängnis, dachte Ali. Aber das durfte sie ihm nicht sagen, sonst würde er womöglich noch weiter abstürzen. Also hieβ es langsam vorgehen.

„Ja, lieber Ali, viel ist mit unseren Seelen inzwischen passiert. Wobei ich mir noch immer nicht wirklich darüber im Klaren bin, ob es eine Seele wirklich gibt, geschweige denn bei Kamelen. Und so bleibt diese Frage nach einer Kamelseele noch völlig im Dunkeln. Aber ich verstehe Miriam sehr gut. Das ödipale Werben um den Vater, das aus dieser Haltung erwächst, oszilliert zwischen Ernst und Spiel, Phantasie und Realität, Nähe und Distanz, Hingabe und Kontrolle. Vielleicht sollten wir da mehr Licht hereinbringen?“

„Ach, ich glaube nicht, Doktor. Unsere Kamele sind in Sicherheit und wir sind es auch. Erinnert ihr euch? Unsere Kamele sind in Dschidda, in den Stallungen von Karim Bin Awad. Wir dagegen befinden uns in einer Gefängniszelle in Al-Madina und sind somit in Sicherheit.“

„Gefängniszelle und in Sicherheit?“ Der Doktor hatte sich auf den Boden gekauert und putzte verwirrt seine Brille, was Ali als Fortschritt ansah. Hatte sie ihn doch von diesem auf und abgehen und dem Flüstern abgebracht.

„Ja, wir sind in Sicherheit, Doktor. Wer im Gefängnis sitzt, kann nicht mehr eingesperrt werden. Also beruhigt euch, die Botschaft wird ihr Bestes tun. Die Botschaft wird Pasch unterrichten.“

Nachdem der Shrenk zufrieden mit der Transparenz der Brillengläser schien, setzte er die Brille auf seine Nase und sah erwartungsvoll zu Ali. Sein Anblick ist nicht gerade Vertrauen erweckend, stellte Ali nüchtern fest. Aber nach eineinhalb Tagen Haft in diesem Loch, wie sollte man da sonst aussehen? Ich werde sicher auch kein besseres Bild abgeben.

„Ach!“ Der Shrenk strahlte. „Jetzt erinnere ich mich erneut an mein Thema, über dass ich vorhin intensivst nachdachte, aber dann kam plötzlich Akhbar dazwischen. Es ist, ähm, offensichtlich, wer eine Machtposition innehat, bestimmt andere und unterdrückt ihren Gegenwillen. Wer eine Machtposition innehat, ist in Erklärungsnot.“ Des Doktors Stimme erhob sich und er blitzte Ali an. „Er muss sich legitimieren. Er muss den Gegenwillen unwirksam machen. Versteht ihr Ali?“

Ali nickte und schwieg besser.

„Ein Mittel der Wahl ist Vorenthaltung von Informationen. Der Machtinhaber verhüllt so seine Absichten. Er muss vor allem jene Absichten verstecken, die er nicht offenlegen kann, ohne Opposition zu begünstigen.“

Jetzt geht es wieder mit dem Doktor los, dachte Ali und pustete die Luft energisch aus. Wenn ich ihn nicht weiterreden lasse, dreht er noch mehr durch und beginnt womöglich laut zu schreien oder begeht andere unkontrollierte Handlungen!

In diesem Augenblick erklangen Sirenen, Bombendetonationen und Schüsse.

Der Doktor stutzte, lieβ sich aber durch den höllischen Lärm nicht beirren und fuhr mit erhobener Stimme fort:

„Richtig! Die Absichten werden nicht offen gelegt. Eine Camouflage der Macht bietet aber dem Mächtigen nicht nur strategische Vorteile, sondern könnte sich durchaus als ein falscher Schritt erweisen. Denn Macht reduziert Vertrauen!“

„Heilige Scheiβe“, entfuhr es Ali. „Da drauβen findet womöglich gerade die islamische Revolution der Wahhabiten gegen die Schiiten, Hanibaliten oder Sunniten statt und ihr redet seelenruhig über eure Machtstrategien weiter?“

Ali war zur Tür gestürzt und horchte. Auf dem Flur musste der Teufel los sein. Lautes Stimmengewirr und immer wieder entfernte Schüsse waren zu hören. Das schrille Pfeifen der Querschläger, hallte wieder.

„Die Botschaften aus dem Zentrum der Macht werden mit Misstrauen aufgenommen.“ Der Shrenk hatte sich inzwischen erhoben und schnupperte zum Fenster heraus. „Hm.“, hörte Ali ihn hüsteln. „Drauβen riecht es so merkwürdig nach Schießpulver!“ Worauf er fort fuhr mit seinem wichtigen Referat:

„Und das bedeutet, dass wer die Macht hat, darf Intransparenz nicht strapazieren!“

„Intransparenz?“ Ali hörte nur noch mit halbem Ohr zu, denn oben am Himmel über dem Gefängnis, war der knatternde Motor eines Helikopters zu hören.

„Wir können es auch Undurchsichtigkeit nennen oder Vernebelungstaktik, Desinformation!“

„Shrenk! Hört ihr nicht den Helikopter?“ Ali bekam einen Lachanfall und prustete los. „Verneblung? Vernebelung werden wir auch gleich erfahren. Vernebelung von den Spezialeinheiten die gerade mit dem Hubschrauber anrücken und uns mit Sicherheit ausräuchern wollen!“

Die Motorengeräusche nahmen zu und ein leichter Luftzug, vermischt mit Rauchschwaden wurde durch das Fenster in die Zelle von Ali und dem Shrenk gedrückt. Drauβen auf dem Flur erklangen laute Rufe und Maschinengewehrsalven.

„Ach werter Ali“, hüstelte der Doktor. „Wer der Macht ausgesetzt ist, hat einen eingeschränkten Bewegungsradius.“

„Seid ihr noch zu retten? Gestern habt ihr das genaue Gegenteil behauptet! Ihr spracht von Respekt und darum, dass die Wahrheit zugemutet wird. Das mache wach und verschaffe Bewegungsraum. – Heute wiederum redet ihr eingeschränktem Bewegungsradius!“

In der Nähe detonierte eine Bombe mit solch einer Wucht, dass Ali und der Shrenk sich ängstlich aneinander kauerten.

Der Doktor aber, auf sein Thema fixiert, lieβ sich nicht beirren und sprach weiter:

„Wer der Macht ausgesetzt ist braucht der Tarnung als Schutzmaßnahme und wird dazu das Mittel der Lüge verwenden!“

„Oder der Bomben, Shrenk!“

„Hm. Macht ist eine explosive Beziehungsstruktur, asymmetrisch, feindlich und instrumentalisierend. So unterläuft man eine unabhängige und kritische Beurteilung von Informationen und Daten einfach. Wenn sich die Macht der Tarnung bedient, fördert sie Intransparenz bei jenen, die der Macht ausgesetzt sind.“

„Das hilft uns hier keinen Schritt weiter Doktor. Das ist alles Theorie. Die Wirklichkeit hier ist auch explosiv, aber eben anders explosiv.“

„Nein, Ali. Wir können genau diese Situation in der wir uns befinden als Modell nehmen und aufmerksam studieren.“ Der Shrenk seufzte schwer. „Ihr erwähntet doch gerade die Revolution. Denn Macht muss sich legitimieren: durch Verantwortung, aufrichtige Kommunikation und Kompetenz, sonst wird sie unweigerlich zu Aufstand, Terror und Revolution führen.“

Mit lautem Krach wurden Maschinengewehrsalven gegen die Gefängnistür geschossen. Diese sprang plötzlich auf, gefolgt von beiβenden Qualmwolken die sich in der Zelle ausbreiteten. Ali und der Doktor bekamen einen Hustenanfall. Zwei schwarz vermummte Gestalten tauchten aus dem Nebel auf. Ihre Maschinengewehre im Anschlag schrien sie laut gestikulierend herum. Der Shrenk verstand einmal wieder rein gar nichts. Plötzlich änderte sich die Tonlage des einen Mannes, und Ali verstand so viel wie: „Was macht ihr denn schon wieder hier, Ali?“ Wobei der Mann sich die Gesichtsmaske abriss und Ali anstrahlte. „Salam Aleikum“, grinste Mohammed. Ja, es war Mohammed, das hatte inzwischen sogar der Shrenk mitbekommen, blass war er sowieso schon, aber nun schlotterte er wie Espenlaub.
 
„Wir müssen uns beeilen“, rief Mohammed ihnen vergnügt zu. „Dank Allah, sind wir gerade dabei, unseren wichtigsten Dschihadhi hier raus zu holen. Ihr wisst doch: Achmed Al-Sirri?“ Mohammed sah Ali und den Shrenk bedeutsam an und sagte: Dschidda!“

„Dschidda!“, wiederholte Ali und auch der Doktor und nickten verständnislos.

„Das Bombenattentat im Hotel Marriott. Erinnert ihr euch? Und jetzt holen wir ihn nach zwei Monaten endlich raus. Oh Allah, du bist der Gröβte! Allah führte unsere Wege erneut auf geheimnisvolle Weise zusammen.“

Mohammed war gerührt über das ungeahnte Zusammentreffen und rezitierte aus dem Koran:

„O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Gott und sucht ein Mittel, zu Ihm zu gelangen, und setzt euch auf seinem Weg ein, auf dass es euch wohl ergehe.“

Ali blickte Mohammed entgeistert an. Das war ihr alles ein bisschen zu viel.

„Na kommt schon, wir sind mit dem Hubschrauber da, sobald wir Achmed ausfindig gemacht haben, fliegen wir los.“

„Bei Allah dem Allmächtigen, dem Erbarmungsvollen und seinem Propheten. Aber wir ziehen es vor hier im Gefängnis zu bleiben“, antwortete Ali. Der Shrenk nickte dazu eifrig bejahend mit dem Kopf.

„Edler Mohammed“, krächzte der Shrenk. „Unser Kismet ist es hier in dieser Zelle den Willen von Allah und die Worte des heiligen Propheten aus dem Koran zu erfahren. Der Koran soll über unser Leben entscheiden. Und darum bevorzuge auch ich hier in dieser Zelle zu bleiben!“, kam es nun geradezu pathetisch.

Alles besser als die Höhlen von Wasiristan, Afgahnistan oder Pakistan, dachte der Doktor mit grimmigem Gesicht. Hier haben wir ein Beispiel von Macht und der Legitimierung des Schwächeren, sich gewisser Vernebelungstaktiken zu bedienen. Abgesehen von dem Nebel hier im Raum, aber das ist ein ganz anderer Nebel! Obwohl, Nebel ist nun mal Nebel, bedachte der Shrenk und putzte sich umständlich die Nase am Zipfel seines Pilgerkittels.

„Ihr wollt nicht mit uns kommen?“ Jetzt war es an der Reihe von Mohammed entgeistert dreinzublicken. „Was habt ihr überhaupt verbrochen?“, fragte er und blickte auf die Uhr. „Wir müssen los, wollt ihr wirklich hier bleiben? Wir fliegen mit dem Hubschrauber in den Jemen und von dort mit dem Flugzeug nach Wasiristan.“

Als der Doktor das Wort Wasiristan hörte, begann er sich erneut am ganzen Körper zu schütteln. Um seine Panik zu vertuschen, schüttelte er besonders heftig mit dem Kopf. Er wusste, dass solche Beziehungsstrukturen von Macht und Ohnmacht der absoluten Tarnung bedurften: der Intransparenz.

„Wasiristan?“, fragte Ali. Auch sie schüttelte sich wie der Shrenk. Beziehungsweise ihren Kopf, um so, wie der Shrenk auch, die Intransparenz zu wahren.

„Bei Allah dem Erbarmungsvollen, ich bin unfähig mit dem Hubschrauber zu fliegen“, log sie.

Sie bediente sich nun auch skrupellos einer Lüge aus dem wissenschaftlichen Arsenal des Shrenk seiner Machtstrategien.

„Ich habe das so genannte Hubschraubertraumasyndrom.“

Der Doktor sah Mohammed bedeutsam an. „Ihr wisst doch wenn man unter ununterbrochenem Brechreiz leidet?“

„Auch wenn ich mich aus dem Hubschrauber hinauslehnen würde“, fügte Ali schnell hinzu. „Aber ich wollte nicht die heilige Stadt Al-Madina von oben mit meinem, na ihr wisst schon, beschmutzen. Da nehme ich lieber die Strafe der Peitschenhiebe und weitere Urteile aus dem heiligen Koran in Kauf!“

„Es geht nicht anders, wir müssen mit dem Hubschrauber fliegen. Al-Madina wird inzwischen mit Straßensperren abgeriegelt sein.“

Laute Rufe ertönten im Gang. Mohammed rief eine kurze Antwort und wandte sich erneut dem Doktor und Ali zu.

„Wir haben Achmed Al-Sirri und fliegen los und ihr kommt mit. Das ist Kismet! Ob mit oder ohne Syndrom. Einen Eimer oder Plastikbeutel werden wir schon auftreiben. Bei der nächsten Wüstenoase laden wir euch ab. Von dort kommt ihr mit Kamelen in den Jemen nach.“

„Jemen?“, fragte Ali. Mohammed nickte.

„Vom Jemen werdet ihr nach Wasiristan geflogen. Bei Allah dem Allmächtigen. Allahu Akhbar! Das ist die beste Lösung!“

„Nein“, sah sich Ali gezwungen endlich Farbe zu bekennen.“

„Ihr kommt jetzt mit uns, das hat Allah entschieden“, antwortete Mohammed und zerrte seine potenziellen Dschihadhis, zusammen mit seinem vermummten Freund zur Tür hinaus.

Der Doktor fasste sich plötzlich an die Gurgel. Er schien keine Luft zubekommen. Lautlos sackte er zusammen und wand sich in Krämpfen am Boden. Unzählige vermummte Polizisten stürmten plötzlich auf den Flur. Ali war nicht mehr zu halten und stürzte zum Shrenk.

„Doktor, was ist mit euch?“, fragte sie erschrocken, und bearbeitete seinen Brustkorb. Die Polizisten schossen auf alles, was sich bewegte.

Mohammed war mit seinem Freund längst zum Hubschrauber geflüchtet, der sich schnellstens in die Lüfte erhob und von dannen machte.

Ali hatte sich über den Shrenk geworfen und versuchte Mund zu Mund Atmung.

„Shrenk, so kommt doch endlich wieder zu euch!“

Da öffnete der Doktor vorsichtig blinzelnd, erst ein Auge und dann das andere. „Sind sie weg?“, fragte er leise. Ali nickte stumm.

„Intransparenz“, flüsterte er und schloss zufrieden die Augen.
 
24.

„Allah meint es gut mit uns allen, wenn ich das nicht wüsste, würde ich glatt durchdrehen!“, sprach Pasch einmal wieder und geleitete seine Schützlinge zum Auto.

„Diesmal hat es uns fast erwischt“, antwortete Ali. „Ich kann es immer noch nicht richtig glauben, dass wir hier heil raus kommen.“

„Ich habe euch neue Pilgerkittel mitgebracht“, klang es in vertrautem Schwäbisch. „Beim Auto könnt ihr euch umziehen und dann fahren wir nach Dschidda, wo ihr euch richtig waschen könnt.“

„Wie habt ihr es nur geschafft, werter Hans Omar, uns innerhalb von drei Tagen aus dem Gefängnis zu holen“, fragte der Shrenk.

„Durch Karim und der Intervention von König Abdullah Al Saud! Karim Bin Awad hat sich mächtig ins Zeug gelegt und seine Verbindungen spielen lassen. Was euch auch auβerdem entlastet hat, war eure Weigerung mit den Terroristen mitzugehen, dafür gab es Zeugen.“

Wenn die wüssten, welcher Terrorist uns da wirklich seinen Besuch abgestattet hat, dachte Ali und schwieg besser.

„Ich habe alle nötigen Papiere dabei, ab jetzt seid ihr in Sicherheit. Karim Bin Awad legt groβen Wert darauf, schlieβlich seid ihr seine Gäste.“

„Dschidda?“, krächzte der Doktor. „Wir waren immer noch nicht am Grab des Propheten und ohne den Besuch seines Grabes…“ “Ach so!“ Pasch sah auf die Uhr. Es war vier Uhr Nachmittags. Er öffnete den Kofferraum von seinem Porsche. „Erst mal umziehen“, meinte er gelassen. „ Vorher eine Kurzwaschung.“ Lachend reichte er Ali und dem Shrenk eine Wasserflasche. „Und dann steht einem Besuch der Prophetenmoschee nichts mehr im Wege.

Ein wenig später befanden sich Ali und der Shrenk zusammen mit Pasch, im Herzen der Moschee, erneut umgeben von über einer Millionen Pilgern. Es war, als sei die Zeit, die sie im Gefängnis verbracht hatten, solange stehen geblieben.

Voller Andacht blickten sie zu dem riesigen grünen Kuppeldach hinauf.

„Das ist das Herz der Moschee“, erklärte Pasch. „ Dieser Platz wird auch der grüne Dom Mohammeds genannt.“

Sie näherten sich dem grünen Zaun, auf den Pasch nun deutete: „Hier liegt unser Prophet Mohammed, und auch die beiden "rechtgeleiteten" Kalifen Abu Karim und Umar Ibn Al-Khattab begraben“, erklärte Pasch und hielt vor der Umzäunung die von wahhabitischen Freiwilligen bewacht wurde. „Sie achten darauf, dass die Gläubigen den Zaun nicht berühren“, erklärte Pasch leise. „Für die Pilger ist diese Berührung ein Zeichen der Ehre und der Demut. Die Wahhabiten aber sehen darin einen Akt des "Shirk", des Götzendienstes.“

Alle drei knieten nieder und beteten. Dann drängte Pasch aufzubrechen und führte sie hinaus auf den groβen Hof der Moschee.

„Oh Allah!“, rief der Shrenk, über den Anblick, den man nur als märchenhaft beschreiben konnte: Die Abendsonne brachte das Blattgold der vielen Kuppeln zum
gleiβen und spiegelte sich rosagolden auf dem weiβen, blank poliertem Marmor des Hofes.
 
25.

„Doktor! Seit einer guten Stunde bewundert ihr die Fontaine von Dschidda mit diesem verklärten Lächeln.“ Der Shrenk schwieg.

„Nur weil sie so immens hoch ist, müsst ihr sie nicht wie einen Ölgötzen anstarren.“

„Hm.“

„Was ist mit euch los, Shrenk? Der Sonnenuntergang ist wirklich beeindruckend und das Rote Meer schimmert Perlmuttfarben. Die kleine Moschee vorne auf den Klippen ist wunderschön. Die schwebende Moschee, wird sie glaube ich genannt. Was genau Doktor, hat euch so die Sprache verschlagen und in diesen schwebenden Zustand versetzt, wie die Moschee dort unten?“

Ali saβ mit dem Shrenk im obersten Stock des Hilton und nippte an ihrem Fruchtcocktail.

„Wir sind weder konsistent, noch kohärent. Wir entscheiden Dinge nicht vernünftig. Wir verstehen nicht, wie wir entscheiden, und wer in uns entscheidet“, tönte es plötzlich aus dem Mund des Doktors. Ali wendete ihren Blick vom endlosen Verkehr der Autos unten auf der Corniche ab und blickte den Doktor verdutzt an.

„Beim Barte des Propheten, Shrenk! Im Gefängnis hattet ihr Redezwang, oder besser Flüsterzwang und jetzt schweigt ihr euch aus, lächelt als sei über euch die Erleuchtung herab gerieselt und spuckt einmal in der Stunde einen Orakelspruch aus. Was ist los, Shrenk? Habt ihr das Post Gefängnistrauma?“

„Ach, werteste“, seufzte der Shrenk.

„Ihr sollt mich in diesem Land nicht werteste, sondern wertester nennen!“

„Hm, aber ihr seid nun einmal eine Frau. Eure Mund zu Mund Beatmung im Gefängnis hat mich erneut daran erinnert und ich muss immer wieder daran denken.“

„Also doch Post Gefängnis Trauma!“

„Ist das nicht eher Liebe?“

„Ihr wisst genau, warum ich zu euch damals in die Praxis kam. Es war wegen der unglücklichen Liebe zu einem Mann. Also erspart mir so was und kommt wieder zu euch.“

In diesem Augenblick erschien Pasch und setzte sich zu Ali und dem Shrenk.

„Allah meint es gut mit uns allen…“

„Wenn ich das nicht wüsste, würde ich glatt durchdrehen!“, sprachen Ali und der Doktor sofort mit.

Pasch begann zu lachen und winkte dem Kellner herbei. „Für mich auch so was mit Früchten“, bestellte er. „Und ein bisschen was Salziges zum Knabbern.“

Pasch strahlte. „Es ist alles geklärt mit euch und den Kamelen.“

„Ah!“, sagte Ali.

Sie hatte ihren Blick erneut zur Corniche hingewendet. Es war bereits dunkel und die über zweihundert Meter hohe Wasserfontäne erstrahlte durch Scheinwerfer in allen Farben des Regenbogens. Nun heiβt es Abschied nehmen, dachte sie ein wenig traurig.

„Da eure Kamele ungern fliegen und ihr lieber mit einem Schiff nach Hause zurückkehren wollt, haben wir die Ramlah für euch ausgewählt. Die Ramlah ist das nächste Schiff, das ausläuft. Auf euer Drängen, schnellstens abreisen zu wollen, haben ich mit der SASC und dem Kapitän der Ramlah bereits alles geklärt.“

„Ramlah?“, fragte der Doktor. „SASC?“

Pasch nickte. „ Die Ramlah gehört der SASC, der Saudi Arabian Shipping Company. Sie läuft morgen am späten Nachmittag von Yanbu Al-Bar aus. Eure Kamele sind bereits an Bord.“

„Warum Yanbu Al-Bahr und nicht Dschidda? Hm. Und wo ist Yanbu Al-Bahr?“, wollte der Shrenk wissen.

„Yanbu Al-Bahr, ist der groβe Erdöl Terminal der Aramco, und befindet sich dreihundertfünfzig Kilometer nördlich von Dschidda. Ihr werdet nach Rotterdam auf einem VLCC fahren. Die können nämlich nicht nach Dschidda hinein.“

„ Bei Allah, was bedeutet VLCC?“, fragte der Shrenk.

„Very Large Crude Carrier.“

„Die Ramlah ist ein Öltanker?“ Der Shrenk blickte Pasch entsetzt an. „Ein Supertanker. Wie groβ ist das Schiff?“

„Oh, ich glaube 300.000 Tonnen Ladekapazität.“

„Ladekapazität?“, fragte der Doktor beklommen. Pasch nickte. „2,1 Millionen Barrels.“

„Nein, nicht das“, seufzte der Shrenk. „Wie groβ ist sie, also wie lang ist die Ramlah? Ich frage wegen der Kamele.“

„Wegen der Kamele?“ Der Doktor nickte eifrig.

„Dreihundertsechzig Meter wird sie wohl lang sein. Die Fahrrille von Dschidda ist nicht tief genug für so einen Supertanker. So genau weiβ ich das auch nicht. Jedenfalls dauert eure Reise gute fünfzehn Tage.“

„Ich will nicht noch mal entführt werden, meldete sich nun Ali besorgt. „Bei Somalia warten die Piraten womöglich schon auf uns. Nach dem Gefängnis von Al-Madina und unserer Entführung in der heiligen Al-Haram Moschee in Makka ist mein Bedarf an Abenteuer voll und ganz gedeckt.“

Der Kellner brachte den Fruchtcocktail und verbeugte sich höflich vor Pasch.

„Zum Wohl!“ Pasch erhob sein Glas und prostete Ali und dem Doktor zu.

„Ihr könnt beruhigt sein, auf der Ramlah seid ihr in Sicherheit. Die Reise geht nicht über den Indischen Ozean, sondern durch den Suez Kanal. Dort wird das Öl zum Groβteil gelöscht und auf die Mittelmeerseite gepumpt. In Port Said kommt die Ladung erneut zurück an Bord.“

„ Bei Allah, klingt das kompliziert! Aber ich bin nur ein einfacher Kameltreiber und verstehe nichts von Erdöl“, warf Ali ein.

„Die umständliche Passage durch den Sueskanal kommt trotz der hohen Gebühren pro Durchfahrt billiger als eine monatelange Reise um die Südspitze von Afrika. So ein Schiff kostet pro Tag zirka 20.000 Dollar. Knapp eine halbe Million, bis Rotterdam.“

„Eine halbe Million. Hm. Und was kostet die Überfahrt für uns?“, erkundigte sich besorgt der Doktor.

„Ihr seid Karim Bin Awads Gäste. Das ist für ihn Ehrensache. Von Rotterdam geht es glaube ich, mit einem Containerschiff nach Lissabon.“

„Oh Allah!“ Ali war es nicht sehr behaglich zumute an die Ramlah zu denken. Andererseits war es ratsam, so schnell wie möglich Saudi Arabien zu verlassen. Ja, Gastfreundschaft und märchenhafter Luxus lagen hier nahe beieinander mit Gefängnis und Entführungen. Da sollten wir besser die Herausforderung annehmen und die Ramlah für die nächsten zwei Wochen als unser Heim betrachten. Ali nickte ergeben in ihr Schicksal und trank ihren Cocktail leer.

„Wie kommen wir nach Yabun, ähm?“ Der Shrenk war sichtlich beunruhigt.

„Yabun Al-Bahr.“

„Und unsere Kamele, wie kamen die nach Yabun Al…“

„Yabun Al-Bahr“, vervollständigte Pasch. „Ich bringe euch an Bord. Alles Autobahn.“

„Oh, danke Hans Omar.“

„Übermorgen fliege ich nach Malaysia. - Dort läuft mein groβes Projekt für die Moschee.“

„Ihr seid einfach der Gröβte“, entfuhr es Ali.

„Der Gröβte ist Allah. Ich finde nur die Gestalt.“

„Wie meint ihr das?“

„Nur Gott schafft richtige Bilder, wir können keine machen, wir können sie nur finden. Wir können die Formen der Dinge suchen, und wenn wir Glück haben auch finden.“

„Ja, das ist Gnade.“

Pasch überlegte. „Notwendige Formen sind meistens auch schöne Formen. Nehmt als Beispiel ein Schiff. Schiffe sind schön, weil nichts Überflüssiges an ihnen ist. Allah ist schön und er liebt die Schönheit, sagt ein oft zitierter Hadith. Da Allah alle Seelen aus nur einer gemacht hat, müssen wir nur aufrichtig versuchen, die Formen, die Allah uns in Seiner Gnade finden lässt, ohne Willkür richtig zu bauen, dann werden sie mit Seiner Hilfe auch schön. Das ist die Brücke zwischen Ethik und Ästhetik.“

„Oh Pasch, wisst ihr, dass ihr mir fehlen werdet?“ Ali sah ihn an. „Ich denke gerne an den Abend zurück, bei eurem Freund Al-Rashid, wo wir gemeinsam philosophierten.“

„Ihr habt uns sehr geholfen“, bekräftige auch der Shrenk. „Bei Allah dem Allmächtigen. Ich möchte nicht wissen was ohne euch, aus uns geworden wäre.“

„Es ist alles in der Hand Allahs“, antwortete Pasch. „Allah meint es gut mit uns allen, wenn ich das nicht wüsste, würde ich glatt durchdrehen!“
 
26.

Diesmal ging es nicht die Prince-Abduhl-Aziz-Street hinunter, die hatten der Shrenk und Ali, längst hinter sich gelassen. Hans Omar Pasch preschte mit seinem Porsche in hoher Geschwindigkeit über die Autobahn in Richtung Yanbu Al-Bahr.

„Oh, bei Allah!“, klang des Doktors Stimme. Er deutete nach vorne. Im späten Nachmittagsdunst erglänzten die Raffinerien und Industrieanlagen von Yanbu Al-Bahr. „Wir sind bald da, nicht wahr Hans Omar?“

„Ja, Dank Allah“, rief Pasch aus. Was ihn aber nicht davon abhielt, noch schnell einen anderen Porsche zu überholen, der damit nicht einverstanden war und mit Pasch in einen Wettlauf geriet.

„Könnt ihr bei dieser Geschwindigkeit noch rechtzeitig in Yanbu Al-Bahr bremsen?“, fragte Ali. „Oder fahren wir gleich nach Syrien weiter?“

Pasch kicherte, endlich schaffte er es, den anderen Porsche abzuhängen und winkte wie üblich dem erbosten Fahrer lässig zu.

„Wir sind in wenigen Minuten da. Aber ihr habt Recht, diese Autobahn geht nach Jordanien und Syrien. Vor einigen hundert Jahren führte die alte Weihrauchstraβe aus dem Oman und Jemen kommend, hier durch. Unser heiliger Prophet, Gott habe ihn selig, zog auch mit einer Karawane bis nach Syrien.“ Pasch drosselte die Geschwindigkeit und lenkte den Wagen in Richtung Yanbu Al-Sina'iya.

„Syrien?“, fragte der Shrenk. Man merkte es ihm an, dass er erschrak. Pasch nickte und fuhr an kilometerlangen Raffinerien und chemischen Industrieanlagen vorbei. Es folgten mehrmalige Kontrollen, die sie allesamt schnell passieren durften.

Pasch deutete nach vorne. „Da ist sie, die Ramlah! Und wie es aussieht, ist sie fertig mit dem Beladen.“

„Woran erkennt ihr das?“, wollte der Shrenk wissen.

„Weil sie bereits tief im Wasser liegt. Der Schiffbauch ist Grün, der untere Bauch aber Rot und wenn nur noch der grüne Teil zu sehen ist, so ist die gesamte Ladung an Bord.“

„Aha.“ Der Doktor zwirbelte seinen Bart. „Wie aber kommen wir da rüber, werter Hans Omar?“

„Mein Gott, Shrenk!“, entfuhr es Ali. „Mit dem Boot natürlich, oder wollt ihr lieber hin schwimmen?“ Der Doktor seufzte. „Und das Öl? Wie kommt das Öl, wie kam es an Bord?“

„Durch die Überlandpipelines die vom Festland zu den Terminals führen. Die sind unterirdisch, so wie auch die groβen Tanks. Ah! Da ist unsere Barkasse, und wenn Allah es will, bringt sie uns hinaus zum Terminal der Ramlah.“

27.

Es war kurz nach sieben, als die Sonne im Westen über dem Roten Meer unterging und sich dort bald darauf eine schmale Mondsichel zeigte. Die Ramlah legte von der Boje ab und begann langsam Fahrt aufzunehmen.

Ali nahm Abschied von Saudi Arabien und beobachtete wie der Himmel dunkler wurde. Yanbu Al-Bahr war längst in der Ferne verschwunden. Die Silhouette der Wüstenlandschaft und der Berge des Festlands von Saudi Arabien, erschienen gestochen klar vor dem Nachhimmel. Der Supertanker fuhr mit 15 Knoten in Richtung Suez Kanal. Die Turbinen summten leise und irgendwie Vertrauen erweckend.

„Heute ist der Ramadan zu Ende, Doktor.“ Ali atmete die frische Meeresbrise ein und schmeckte das Salz auf ihren Lippen.

Der Shrenk schaute fünfunddreiβig Meter in die Tiefe zum Bug der Ramlah, fasziniert davon wie der Schiffskörper das Wasser kraftvoll teilte und die weiβe Gischt zu beiden Seiten hoch aufspritzten lieβ. Ein durchaus ästhetischer Anblick. Majestätisch, so ein Supertanker…

„Doktor, habt ihr gehört?“

„In der Tat, Ali. Geradezu majestätisch. Ähm. Wir haben viel erlebt in diesem Land. Ich danke Allah. Wir durften die heiligen Orte besuchen und Busse tun. Habt ihr Busse getan, Ali?“

Ali nickte. „Ich glaube mehr als genug!“

„Ein märchenhaftes Land. Ich werde es nie mehr vergessen können. Ich danke Allah für dieses Geschenk“, sagte der Shrenk geradezu feierlich, so dass sogar die Ramlah darüber lächeln musste.

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„Ich wusste es! Ich wusste es!“ Ali fasste sich an den Kopf. „Wenn man noch kein Idiot war, so wird man garantiert beim Psychiater einer!“ Worauf sie den Kessel im Stich lieβ und zu Akhbar eilte und sich vor ihm hin stellte. „Jetzt hörst du mir mal zu“, brüllte sie ihn an. „Ich werde dir nun den 4. Teil des achtfachen Pfades aus dem Buddhismus vorsprechen, hast du das kapiert? Und wehe du befolgst das nicht, dann gibt es Hiebe: Rechtes Handeln heiβt Liebe und Gewaltlosigkeit zu entwickeln und niemandem Schaden zuzufügen. Dies führt zu heilsamem Handeln. Achtsames Handeln ermöglicht rechtes Handeln!“

Akhbar stutzte. Er verstand in etwa was Ali da sagte, aber viel wichtiger, er sah den groβen Kochlöffel, den Ali in ihrem Eifer in der Hand behalten hatte. Womöglich war es von ihr ein unbewusster, bewusster Sicherheitsmechanismus, reiner Selbsterhaltungstrieb? Jedenfalls lieβ der Löffel, mit dem Ali vor seiner Nase herumfuchtelte, das Blut in seinen Adern merklich abkühlen.

„Hast du das verstanden, Akhbar? Es geht um unseren Linseneintopf. Und hier gleich noch der 6. Teil des achtfachen Pfades:

Rechte Achtsamkeit bedeutet in den gegenwärtigen Augenblick zurückzukehren und alles zu akzeptieren ohne zu urteilen oder zu reagieren!“

Akhbar war nicht damit einverstanden, aber es blieb ihm keine andere Wahl, als Alis Rat zu befolgen. So kehrte er ihr ostentativ den Rücken zu und legte sich am Boden. Die Vorderläufe zog er brav ein, dann legte er seinen Kopf darauf und schloss lächelnd die Augen. Warte nur bis wir in der Wüste sind, dachte Akhbar, dort bin ich der Herr!

Der Shrenk war erleichtert, aber hatte nicht Ali was von Idioten verlauten lassen? Und das durfte er nicht auf der Gilde seines Berufes sitzen lassen, und sein Schienbein tat ihm weh.

„So! Das hätten wir!“, sagte Ali sichtlich zufrieden, und verteilte die Linsen auf die Teller. „Es geht nichts über den Buddhismus. Haben sie gesehen, was für eine durchdringende Kraft, Buddhas Worte auf Akhbar ausübten? Das war eine friedliche Lösung, ich bin immer wieder fasziniert über die Kraft Buddhas. Nicht einmal Akhbar konnte der Milde eines Buddhas widerstehen. - Hier, nehmen sie, Doktor.“

„Ich habe keinen Hunger, und auβerdem haben sie die Psychiater als Idiotenproduzenten beschimpft!“

„Ach Doktor! Es war ja auch eine höchst dramatische Situation. Das war doch gar nicht ich.“ Ali grinste den Shrenk unschuldig an. „Das war mein Zwilling. Jener tragische Troubadour.“

Der Shrenk rieb sich stöhnend sein rechtes Schienbein und meinte: „Na gut, dann will ich dieser tragischen Figur, die ja für sie unsichtbar ist, in ihnen vergeben.“ Hungrig nahm er seinen Teller entgegen und erfreute sich am Linsengericht.

„Wie war das noch mal mit Plato? - Plato und seine Ideenwelt, darüber können wir uns nach dem Essen unterhalten. Ich werde auch gleich einmal meinen Kopf zur Höhle herausstrecken um zu sehen, was der Sturm noch so alles vor hat und wie es ihm geht.“

Die Kamele waren müde nach dem Kampf und schliefen friedlich. Es war Ruhe eingekehrt. Akhbar träumte von der Wüste und der Freiheit. Miriam träumte von Akhbar, dass sie sich liebten, drauβen in den Weiten der Rub-Al Khali.
Was hat es mit dem Zwilling auf sich? Er der "böse", ich das "gute"?
 
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