Größenwahn und Untergang - Warum die Titanic sank

Tommy

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Größenwahn und Untergang - Warum die Titanic sank

Am 15.April des Jahres 1912, versank "das größte und schönste Schiff der Welt" (Werbeplakat der White Star Line ) um 2:20 Uhr im Nordatlantik und nahm dabei über 1500 Menschen mit in die Tiefe. Seitdem ist die Geschichte der Titanic und ihrer Passagiere in zahllosen Bildern, Verfilmungen und Büchern festgehalten worden. Die Forschungsliteratur umfasst jetzt bereits über 1000 Werke allein im deutsch/englischsprachigen Raum, und ein Ende dieser Expansion scheint nicht absehbar. Im Internet haben sich Titanic-groups und Titanic-Foren gebildet, in denen sich die Mitglieder die Geschichte in allen Einzelheiten erzählen und ausdiskutieren und so die Erinnerung wach halten; das ehrgeizigste Projekt stellt die "enzyklopedia titanica" dar. Sie bemüht sich um eine authentische Erfassung des Geschehens sowie der Einzelschicksale der Umgekommenen und Überlebenden.

Was aber ist der Brennstoff dieser eigenartigen Faszination? Schiffsunglücke gab und gibt es zu allen Zeiten, darunter etliche, die weit mehr Tote forderten als der Untergang der Titanic (z.B.1987 die Dona Paz mit knapp 4000 Opfern, 1945 die Wilhelm Gustloff mit über 5000 Toten).Warum die Titanic? Was macht sie zu einem derartig hartnäckigen, die Zeiten überdauernden Bild?

Darauf gibt eine These von Joachim Kahl die Antwort. Sie lautet: Die Titanic ist als Archetyp ins kollektive Gedächtnis der Menschheit eingegangen.

"In außerordentlicher ikonischer Verdichtung auf das Drama eines Schiffes steht am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein Mythos von Größenwahn und Untergang, freilich auch von der Rettung einiger. Dieser Gründungsmythos des zwanzigsten Jahrhunderts schlägt Leitmotive an, die die späteren Jahrzehnte erfüllt haben. Seither gehört die Geschichte vom Untergang der Titanic zum Gedächtnis der Völker und Individuen, die die archetypische Bedeutung des Geschehens in Büchern und Filmen, in Clubs und Ausstellungen festhalten."

(1)

Der Untergang der Titanic kommt mir vor wie ein philosophisches Lehrstück - nur mit dem Unterschied, dass er wirklich stattfand und nicht bloß auf dem Papier. Dem archetypischen Gehalt, von dem Kahl redet, kommen wir möglicherweise auf die Schliche, wenn wir uns das Besondere näher anschauen - das, was diesen Untergang von allen anderen Untergängen unterscheidet; das, was dieses Schiff zu einem Symbol werden ließ.






Es fängt alles an wie ein Märchen und endet wie ein Albtraum: An einem lauen Sommerabend des Jahres 1907 treffen sich der Präsident der mächtigen White Star Line, Bruce Ismay und sein Geschäftspartner Lord James Pirrie, Eigentümer der Belfaster Werften Harland&*****, zu einem idyllischen Dinner und hecken einen Plan aus. Ismay gibt Pirrie den Auftrag, ihm drei Schiffe zu bauen, die alles an Größe, Luxuriösität und Vollkommenheit in den Schatten stellen sollen, was bisher dagewesen ist. Und es stehen auch schon die Namen fest für dieses Trio: "Olympic", "Titanic " und "Gigantic".

Wer sich in griechischer Mythologie auskennt, wird Anlass haben, sich über die Namensgebung dieser Schiffe zu wundern. Denn Titanen und Giganten sind dort wie kein anderes aufsässiges Göttergeschlecht mit den Bedeutungen: "Tod", "Niederlage", "Verlust" verknüpft. Nur einem einzigen Journalisten fiel das beim Stapellauf der Titanic auf, während sich die übrige Presse in Jubelgesang und Kniefällen vor diesem Meisterwerk der Wissenschaft und Technik erging. Am nächsten Morgen wies die Irish News in einem Leitartikel darauf hin, daß es sich bei den Titanen und den Giganten um ein riesenhaftes Göttergeschlecht gehandelt habe, das gegen den Göttervater Zeus antrat und vernichtend geschlagen wurde. Für ihre Auflehnung wurden sie strafweise in den Tartarus, den tiefstgelegenen Ort der griechischen Unterwelt (Hades), geworfen. Beunruhigt stellt die Irish News fest, daß die Titanic ihren eigenen Untergang im Namen trägt. Und tief liegt sie jetzt allemal - nämlich 3740 Meter unter dem Meeresspiegel.

"Not even God himself could sink this ship."

Warum denn ausgerechnet dieser Name? Darauf findet man in der gesamten Titanic-Literatur keine Antwort. Bruce Ismay und Lord Pirrie äußerten sich nie dazu, ebensowenig wie zu der bemerkenswerten Auffälligkeit, daß auf das Zeremoniell einer Schiffstaufe verzichtet wurde - und zwar exakt nur bei diesen drei Schiffen der "olympischen Klasse", nämlich der "Olympic", "Titanic" und der "Gigantic". Dem eigentlichen Stapelllauf geht traditionell seit Jahrhunderten die Schiffstaufe voraus, mit den ebenso traditionellen Worten: "Gott segne sie und alle, die mit ihr fahren." Auf diesen symbolischen Beistand meinte man offenbar verzichten zu können, im Gegenteil. Statt der Taufformel gab man die Parole der Unbesiegbarkeit einer erstaunten Weltöffentlichkeit bekannt: "Nicht einmal Gott könnte dieses Schiff versenken." (2)

Wie wir inzwischen wissen, bedurfte es dazu eines Gottes nicht; ein lausiger Eisberg tat diesen Job, und es fällt auf, mit welcher spielerischen Leichtigkeit er es tat.

Nur flüchtig streift ihn die Titanic, kein Frontal-Crash, keine ohrenbetäubende Erschütterung, kein sicht- und hörbares Katastrophen-Szenario. Kate Buss verglich das Kollisionsgeräusch mit dem Kratzen eines Schlittschuhs auf dem Eis (3) Millie Brown hatte den Eindruck, "als wären wir in einen Haufen Kies reingefahren" (4) und Lady Duff Gordon fühlte sich an "einen gigantischen Finger, der die Schiffsseite entlangfuhr" (5) erinnert. Die knirschende Kollision von Natur und Technik fand zwanzig Minuten vor Mitternacht statt, und am sechsten Tag ihrer Jungfernfahrt, um 2:20 in der Früh, versank nicht nur dieses Schiff, sondern eine neue, säkulare Religion: Der Glaube an die Allmacht menschlichen Geistes, der mit Hilfe perfekter Technologien sowohl die Naturgewalten als auch die kontingenten Bedingungen der menschlichen Existenz unter Kontrolle bringt.

(Das, was ich da eingefettet habe, dazu möchte ich später noch was sagen. Duff Gordon hat das natürlich metaphorisch gemeint. Ich finde es aber gar nicht metaphorisch. Sagen wir mal so: der Finger des Schicksals, um die Argumentation nicht zu frühzeitig einer naheliegenden Kritik auszusetzen).

Das folgende ist ein Zitat aus den Gerichtsakten:

Zitat:
Senator Bourne: Sind Sie selbst zu dem Schluß gekommen, daß es ein Individuum gibt, das in irgendeiner Weise für diese Katastrophe verantwortlich gemacht werden kann? Franklin: Ich sehe nicht, wie man irgend jemand beschuldigen könnte. Man hatte den besten Kommandeur, man hatte nur Menschen an Bord, die an dem Schiff interessiert waren. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß nicht jede Vorsichtsmaßnahme getroffen worden war. Es gab keine Anordnungen, das Schiff zu jagen. Es gab nichts, für das man sich hätte schämen können. Senator Bourne: Den einzigen Schluß, den Sie gezogen haben, ist die Tatsache, daß es kein unsinkbares Schiff gibt? Franklin: So sieht es heute, nach dieser Erfahrung, aus. Hätten Sie mich vor einer Woche gefragt, ich hätte nein gesagt. Ich hätte gesagt, wir haben es.

(6)

(Ich mache jetzt hier mal eine klitzekleine Pause, weil ich Angst habe, durch irgendeine technische Panne oder Unachtsamkeit von mir geht der Text verloren. Teil 2 gleich. Das beste kommt noch)
 
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Teil 2

Aus heutiger Sicht scheint es nahezu unverständlich, wie verhext die damalige Öffentlichkeit von der Idee "Unsinkbarkeit" war. Sie scheint als unumstößliche Glaubensgewißheit in den Köpfen der Betreiber, der Crew, der Passagiere, der Presse und der Zuschauer eingebrannt gewesen zu sein. Für die White Star Line stand es bereits zu einem Zeitpunkt fest, an dem sich die Olympic und die Titanic noch im Bau befanden.

Über 100.000 (!) Menschen waren beim Stapellauf der Titanic anwesend. Es war der Tag der großen Worte und der Andacht; eine Art Gottesdienst ohne Gott, die Selbsternennung des homo sapiens zum Herrscher über die Elemente und der Anbetung eines Kolosses aus Eisen und Stahl.
Die Presse befand sich - anders kann man es nicht nennen- in einem Zustand hochgradigen Siegesrausches. "Ein Triumpf des menschlichen Geistes, ein Sieg über die Materie" (Generalanzeiger) hieß es und "das großartigste Schiff, das die Welt je gekannt hat, des Menschen größte Herausforderung der Naturgewalten" (Daily Mail). Später klang es dann aber anders. Bedient schreibt die Daily Graphic:

"Wir glaubten, die Menschheit habe ihren Kampf mit dem Ozean ausgetragen und gewonnen. Dann erfahren wir, daß wir verloren haben."
(Daily Graphic, 20.April 1912)

Wahre Lobeshymnen sonderte der Journalist William T. Stead ab auf den Miterfinder der titanischen Idee, Lord Pirrie,
"den größte Schiffsbauer, den die Welt jemals gesehen hat. Er baute mehr Schiffe und größere Schiffe als irgendein anderer seit den Tagen Noahs. Und er baut nicht nur Schiffe, er besitzt, managt und kontrolliert sie auf allen Meeren der Welt." (7)

Nun ist ein derartiger journalistischer Kniefall vor einem imperialen Großunternehmer noch nichts Ungewöhnliches für die damalige Zeit. Stead ging aber in die Titanic-Saga ein. Nicht nur, weil er selbst Titanic-Passagier wurde und damit - im wahrsten Sinne des Wortes - die *einmalige* Gelegenheit erhielt, sich von der Grandiosität dieser "Arche Noah" zu überzeugen. Sondern auch, weil er sechzehn Jahre vor dem Untergang zwei Novellen veröffentlichte, in denen er genau das beschrieb, was er später erlebte. Die erste heißt: "How the Mail Steamer went down in the Mid Atlantic, by a survivor" und erschien 1886 in der März-Ausgabe der Pall Mall Gazette. Sie endet mit den Worten: "Das ist exakt das, was stattfinden könnte und stattfinden wird, wenn man Dampfer mit zu wenig Rettungsbooten auf das Meer schickt." Hätte sich Stead an seine eigenen Erkenntnisse gehalten und sich das Schiff, auf dem er buchte, näher angeschaut, so wäre ihm aufgegangen, daß es mit einer Bestückung von 16 Nußschalen und 4 Faltbooten nur etwa für ein Drittel der Passagiere Rettungsplätze vorsah. Bruce Ismay hatte die ursprüngliche Idee, die Titanic mit 64 Rettungsbooten auszustatten, mit dem Hinweis verworfen, es störe die Ästhetik der Promenadendecks und behindere die freie Sicht aufs Meer. Und wozu überhaupt Rettungsboote? Wurde den Passagieren doch, so erinnert sich der Überlebende Beesley, von den Offizieren pausenlos mitgeteilt, "das Schiff selbst wäre das Rettungsboot und könne nicht sinken." (8)

Wir werden später noch analysieren, welche verheerenden Auswirkungen dieser Glaubenssatz auf die Beladung der Rettungsboote hatte. Er kostete mit Sicherheit einigen weiteren Hundert Menschen das Leben, die sich hätten retten können, es aber nicht taten. Diese sonderbare Ideologie verfügt offenbar über eine derartige Kraft, daß sie selbst Informationen der Sinneswahrnehmung zugunsten einer Aufrechterhaltung dieses Paradigmas zu verdrängen vermag.

Am 15.April 1912 liefen die Telefonleitungen und Newsticker der Zeitungsredaktionen heiß. Die Virginian und die Olympic übermittelten Funksprüche, die die Titanic abgesetzt hatte und aus denen klar hervorging, daß sie im Sinken begriffen war. Als sich diese Informationen im Laufe des Tages allmählich verdichteten, trat gegen Mittag der Vize-Präsident der White Star Line, Philip A.S. Franklin, vor die Presse und erklärte:

"There is no danger that Titanic will sink. We place absolute confidence in the Titanic. We believe that the boat is unsinkable." Zu diesem Zeitpunkt lag die Titanic bereits seit zehn Stunden auf dem Meeresgrund.

Zitat:
Vor allem sollte ich erwähnen, Sie können an Bord der Titanic gar nicht nervös werden. Das Schiff ist absolut unsinkbar. Seine wasserdichten Abteilungen befähigen es, der grimmisten See zu trotzen, die Sie sich vorstellen können. Und sie ist das letzte Wort in Sachen Komfort und Luxus. Diese erste Reise wird in die Geschichte der Ozeanreisen eingehen.


(9)
Mit diesen Worten beruhigte man im Reisebüro der White Star Line eine Passagierin, die Bedenken gegen brandneue Schiffe und erst recht gegen Jungfernfahrten angemeldet hatte.Es lohnt, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, worauf sich eigentlich das allseits geglaubte Unsinkbarkeitsdogma technisch stützte. Die renommierte Fachzeitschrift "The Shipbuilder" gab 1911 die Details vor; etliche Tageszeitungen übernahmen diese Darstellung.

a) Kollisionsschott im Bug. Damit waren bereits gute Erfahrungen gemacht worden. Die "Arizona" hatte einen 20 Meter hohen Eisberg gerammt und war mit völlig zerfetztem Bug in den Hafen von St.John eingelaufen. Statt dies als einen Hinweis auf die Gefährlichkeit von Eisbergen zu werten, zog die White Star Line aus diesem Vorgang ein Argument für den Erfolg von Kollisionsschotts.

b) Doppelter Boden. Auf die Unterseite der Titanic richteten die Konstrukteure die allergrößte Aufmerksamkeit. Eine halbe Million vierfach geschlagener Nieten sollten die sich überlappenden Panzerplatten zum Garant für unüberwindliche Stabilität machen.Sollte die äußere "Haut" der Titanic dennoch beschädigt werden, so verhinderte die zweite Wand ein Eindringen von Wasser ins Schiff - so zumindest die Theorie

c) Wasserdichte Schotten. Das Herzstück des Unsinkbarkeitsmythos. Die sechzehn Abteilungen des Schiffsrumpfes waren durch 15 wasserdichte Schotts voneinander getrennt und sollten im Falle einer Kollision die Überflutung der Nebenkammern ausschließen. "The Shipbuilder" berauschte sich an der Vorstellung einer Sicherheit auf Knopfdruck, am Topos eines Schiffskapitäns, der in Sekundenbruchteilen technische Totalkontrolle von der Brücke her ausübt:

Zitat:
Jedes Schott wird in geöffneter Position gehalten durch eine entsprechende Reibungskupplung, welche augenblicklich freigegeben werden kann mit Hilfe eines mächtigen Elektromagneten, von der Kapitänsbrücke aus kontrolliert. Im Falle eines Unfalls oder zu jedem beliebigen Zeitpunkt, wenn es ratsam erscheint, ist der Kapitän in der Lage, die Schotten durch einen einfachen Knopfdruck zu schließen und dadurch das Schiff praktisch unsinkbar zu machen.


(10)

Auch die Schiffskapitäne machten sich diese technische Begründung des Glaubensdogmas zueigen. Im selben Jahr, September 1911, spricht ein Kapitän der White Star Line folgende Sätze:

Zitat:
Die Olympic ist unsinkbar und die Titanic wird es sein, wenn sie in Betrieb geht. Warum? Jedes dieser Schiffe könnte in Hälften geschnitten werden und jede Hälfte würde nahezu unbegrenzte Zeit über Wasser bleiben. Ich möchte noch hinzufügen, daß selbst wenn die Maschinen und Kessel dieser Dampfer durch den Boden fielen, die Schiffe oben blieben.


(11)

Diese Worte stammen vom damaligen Kapitän der Olympic, Edward John Smith, der ein Jahr später als Titanic-Kapitän in die Geschichte einging. Interessanterweise wiederholt er dieses Gedankenszenario auf der Jungfernfahrt der Titanic, und zwar zu einem nicht ganz unpikanten Zeitpunkt.

Wir machen nun einen Sprung in die Schicksalsnacht der Titanic. Es ist der 14.April 1912, 21:30, knapp zwei Stunden vor der Kollision. Kapitän Smith feiert mit einer Handvoll von Multimillionären im A-la-carte-Restaurant des Schiffes- ein Restaurant, das es in Sachen Ausstattung und Verschwendungssucht mit jedem Ritz-Hotel der damaligen Zeit aufnehmen konnte. Während oben in der Funkkabine eine Eiswarnung nach der anderen eingeht, setzt zwei Etagen tiefer der Kapitän seiner erlauchten Zuhörerschaft seine Unsinkbarkeitstheorie auseinander. Elmer Taylor und Fletcher Lambert Williams, die am Nebentisch sitzen, erinnern sich:

Zitat:
Wir waren nahe genug, um zu hören, wie Captain Smith seiner Tischgesellschaft erzählte, daß das Schiff kreuzweise in drei Stücke geschnitten werden könnte, und jedes Stück würde über Wasser bleiben. Diese Bemerkung bestätigte meinen Glauben an die Sicherheit des Schiffes.
(12)

nochmal kurze Pause, dann Teil 3
 
Die Zahlen in Klammern verweisen auf die Quellen, die ich zitiere, sog. "Fußnoten", die ich am Ende des Aufsatzes bringe.
Bitte nicht schlapp machen, das beste kommt noch. :)
 
Teil 3

Zu diesem Zeitpunkt ahnte Smith noch nicht, daß schon wenige Stunden später seine Zwei-bzw.Drei-Scheiben-Theorie einer empirischen Überprüfung unterzogen werden sollte. Denn die Titanic brach tatsächlich in zwei Stücke auseinander.Während der bereits vollgelaufene Bug wie ein Stein in die Tiefe rauschte, hielt sich das Heck noch über Wasser - in diesem Punkt greift seine These - allerdings keineswegs "almost indefinitely", wie er in Aussicht stellte, sondern nur für etwa dreißig Sekunden. Eine Augenzeugin berichtet:

Zitat:
Dann zerbrach das Schiff in zwei Hälften, als würde es mit einem Messer durchgeschnitten. Als der Bug versank, erloschen die Lichter; das Heck stand einige Minuten senkrecht, schwarz vor dem Hintergrund der Sterne, und tauchte dann ebenfalls unter. Einen Moment lang,.der uns wie Stunden vorkam, herrschte absolute Stille, und dann begannen die Hilferufe der ertrinkenden Menschen, die nicht aufzuhören schienen.


(Emily Bosen Ryerson, zitiert nach Stephen Spignesi, Titanic. Das Schiff, das niemals sank. Chronik einer Jahrhundertlegende, München 2000, S.153)

Was war eigentlich schief gelaufen? Daß man nach einer Katastrophe stets schlauer ist als vorher, mag ja richtig sein. Dennoch verwundert es in außerordentlichem Maße, warum selbst den Technik-Experten nie die Idee kam, ein Kollisionsobjekt könne die verwundbare Flanke des Schiffs "aufschlitzen wie ein verdammt großer Dosenöffner" (13), um es in den Worten eines damaligen Schiffsexperten zu sagen. Offenbar bewies sich die Kraft des Unsinkbarkeitsdogmas gerade darin, daß es ein derartige Szenario vollständig aus der Gedankenwelt der Schiffsbauer, der Schiffscrew, der Passagiere und der zuschauenden Öffentlichkeit ausblenden konnte. Und doch fand es statt und wies die drei Säulen dieses Dogmas als belanglos aus:

Zitat:
Der Eisberg schrammte an der Titanic entlang, riß im Vorderschiff die doppelten Böden und die Steuerbordseite in einer Länge von 90 Metern auf. Das Schiff, was noch schwimmfähig gewesen wäre, wenn nur vier der vorderen Kammern voll Wasser gestanden hätten - jetzt waren es aber sechs -, begann, burgvorn zu sinken.

(14)

Dabei hätte das Schiff durchaus nicht sinken brauchen, einige wenige Sekunden vor der Kollision entschieden über sein Schicksal. Wir begeben uns auf die Brücke der Titanic. Es ist 23:39, eine Minute vor dem Big bang, der Kapitän schläft bereits den Schlaf des Gerechten, nachdem er unten ausreichend abgefeiert hat. Die Verantwortung trägt zu diesem Zeitpunkt der 1.Offizier Murdoch. Der Mann im Krähennest, Matrose Fleet, macht eine "dunkle Masse" auf Kollisonskurs aus, schlägt die Schiffsglocke dreimal und übermittelt via Telefon der Brücke die Information "Iceberg right ahead". Murdoch erteilt dem Maschinenraum das Kommando "Maschinen stop", unmittelbar danach ergeht der Befehl "Hart Steuerbord" an Steuermann Hitchens. Dies erweist sich im Nachhinein als eine folgenschwere Fehlentscheidung, die das Schicksal der Titanic besiegelt, denn damit gibt er dem Eisberg die Breitseite des Schiffsbugs preis. Die Alternative, direkt auf den Eisberg zuzuhalten, wäre, so absurd es klingt, die vermutlich einzige Chance gewesen, das Schiff zu retten.(15)

Eine solche Handlungsalternative dürfte aber mit gutem Grund sowohl "kontraintuitiv" als auch "kontrarational" genannt werden. Jeder Autofahrer weiß um den spontanen Impuls, einem Hindernis auszuweichen und gegenzusteuern, ungeachtet der Tatsache, daß es Situationen gibt, in denen dies tödlich sein kann. Derartige Entscheidungen werden in Sekundenbruchteilen gefällt; für rationale Überlegungen bleibt kaum Raum. Aber selbst unter rationalen Gesichtspunkten erscheint die Alternative: "Kollisionskurs beibehalten" als widersinnig. Murdoch wäre vermutlich wegen grober Fahrlässigkeit für etliche Jahre hinter Gittern verschwunden, wenn er das getan hätte, erst recht, wenn es bei diesem Frontalcrash zu Verletzten oder gar Toten gekommen wäre. Denn die Rechtfertigung, daß bei einem Ausweichmanöver die Schiffsseite aufgeschlitzt und das Schiff möglicherweise gesunken wäre, hätte man unter dem Paradigma eines "unsinkbaren Schiffs" wohl nur mit Gelächter quittiert.Wir dürfen nicht von dem ausgehen, was wir heute wissen. Fairerweise hat der britische Untersuchungsausschuß genau dies eingeräumt und zugegeben, daß man ihm den Prozess gemacht hätte.(16)

Damit wird Murdoch zu einer tragischen Figur, die zwar aus heutiger Sicht gesehen falsch gehandelt hat, aber zum damaligen Zeitpunkt gar nicht anders handeln konnte, als sie es tat. Man sieht ihn später noch von allen Offizieren am Härtesten arbeiten beim Abfieren der Rettungsboote, wobei er zuweilen sogar leichte Gewalt anwendet, um die Frauen in die Rettungsboote zu zwingen. Nachdem das letzte Boot abgefiert ist, greift Murdoch zur Waffe und erschießt sich.

Aber da ist noch einer an Bord, der die prompte Widerlegung eines allgemeinen Glaubensdogmas mit Haut und Haar zu spüren bekommt. Es ist der Schiffskonstrukteur Thomas Andrews, der ebenso wie der Reederei-Präsident J.Bruce Ismay an der Jungfernfahrt der Titanic teilnimmt, um diesen Triumpf der menschlichen Vernunft voll auszukosten. Sein Lieblingswort ist "perfekt". Es findet, ebenso wie des Kapitäns Unsinkbarkeitsszenario, auch in jener Schicksalsnacht seine großspurige Anwendung:

"I believe the ship to be as nearly perfect as human brains can make her." (17)

Andrews ist der Prototyp der technikverliebten Wissenschaftsintelligenz - oder vielleicht sollte man sagen: die Karrikatur davon. Auf den Decks sieht man ihn während der Überfahrt kaum; er verbringt die meiste Zeit in seiner Kabine, wo er über den ausgebreiteten Konstruktionsplänen des Schiffes brütet und über weitere Perfektionierungsmaßnahmen nachsinnt. Selbst als Smith ihn kurz vor Mitternacht auf die Brücke ruft, um eine Schadensinspektion und Lagebeurteilung durchzuführen, findet man ihn über Blaupausen und Zeichnungen des Promenadendecks gebeugt - er hatte die Kollision überhaupt nicht bemerkt.(18)

Andrews ist noch in einer anderen Hinsicht bemerkenswert. Obwohl dieser Mann unermüdlich mitstrickt am Mythos des perfekten, unsinkbaren Schiffes, überkommt ihn kurz vor Antritt seiner Reise eine seltsame Ahnung:

"I know this isn’t scientific, but this ship’s warning me she’s gonna die and take a lot of people with her." (19)

Eine Vorahnung und Warnung, die möglicherweise aus der Tiefe des Unterbewußtseins an die Oberfläche des Bewußtseins dringt, aber offenbar nicht ausreicht, um den Unsinkbarkeitsglauben zu erschüttern (Überhaupt kann die Explosion paranormaler Phänomen anhand der Titanic-Katastrophe zwingend dargelegt werden und scheint die alte Volksweisheit "Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus" zu bestätigen.). Butler beschreibt, mit welcher Obsession Andrews Schiffsführungen vornahm und dabei "vor Stolz nahezu platzte" (20) Vieles deutet darauf hin, daß er das große Schiff als eine gewaltige Erweiterung seines Ichs ansah - charakteristischerweise macht er auch keinen Versuch, in ein Rettungsboot zu kommen. Er legt nicht einmal eine Schwimmweste an. Vermutlich hätte man ihn nicht einmal mit einer vorgehaltenen Waffe dazu bewegen können, das sinkende Schiff zu verlassen. Sein Ende ist bekannt:

Zitat:
02.10 Uhr - Kapitän Smith entbindet die Funker Bride und Phillips von ihren Pflichten. 02.17 Uhr - Phillips arbeitet weiter und versucht, einen letzten Funkspruch abzusetzen. Kapitän Smith teilt den Besatzungsmitgliedern mit: >Jetzt muß jeder für sich sorgen.< Er kehrt auf die Brücke zurück und erwartet dort das Ende. Thomas Andrews, der Erbauer der Schiffs, wird zum letzten Mal allein im Rauchersalon der Ersten Klasse gesehen, wo er ins Leere starrt.


(21)

Unnötig zu erwähnen, daß auch die *Gigantic*, das dritte Schiff der Baureihe "Olympic", die ebenso wie die *Titanic* in ihrem Namen die symbolische Herausforderung der Götter trug, vier Jahre später sank. Und zwar noch schneller als die Titanic, nämlich innerhalb einer einzigen Stunde. Die Titanen und Giganten waren ein zweites Mal vernichtend geschlagen worden - ganz so, wie es die griechische Göttersage vorgemacht hatte.
--------

Zitierte Literatur:

(1) Joachim Kahl: Faszination Titanic. Philosophische Anmerkungen zu einem Jahrhundertmythos, in: Aufklärung und Kritik 1/1999 (S. 135 ff.)
(2} http://www.archives.gov/exhibit_hall/american_originals/titanic.html
(3) Donald Lynch/ Ken Marshall: Titanic - Königin der Meere. Das Schiff und seine Geschichte, München 1997, S.91
(4) Alan Husk: Titanic - The Canadian Story, Montreal, Quebec 1998, S. 85
(5) Walter Lord: Die Titanic-Katastrophe, München 1998, S.16
(6) Titanic Protokolle. Die Berichte der Überlebenden, Königswinter 1998, S.67
(7) Alan Husk, a.a.O.,S.28
(8) Lawrence Beesley: Titanic - Wie ich den Untergang überlebte, München 2002, S.110
(9) Lady Duff Gordon: Discretions and Indiscretions, New York 1932
(10) http://ourworld.compuserve.com/homepages/Carpathia/page2.htm
(11) http://ourworld.compuserve.com/homepages/Carpathia/page2.htm
(12) http://ourworld.compuserve.com/homepages/Carpathia/page2.htm
(13) Geoff Tiballs: Titanic. Der Mythos des unsinkbaren Luxusliners, Blindlach 1997,S.24
(14)] H.Ley/C.Wetterholm: Expedition Titanic, Stuttgart 1997, S.72
(15) vgl. Walter Lord: Titanic - Wie es wirklich war, München 1998, S.81f.
(16) vgl.Susanne Störmer: Titanic-Mythos und Wirklichkeit, Berlin 1998, S.185
(17) Alan Husk: Titanic - The Canadian Story, Montreal, Quebec 1998, S.40
(18) Daniel Allen Butler: Unsinkbar, Bielefeld 2000, S.97
(19) http://www.webtitanic.net/framequotes.html
(20) Butler, a.a..O., S.28
(21) Robert Ballard: Das Geheimnis der Titanic, Berlin 1998, S.323f.
 
1907 treffen sich der Präsident der mächtigen White Star Line, Bruce Ismay und sein Geschäftspartner Lord James Pirrie, Eigentümer der Belfaster Werften Harland&*****, zu einem idyllischen Dinner und hecken einen Plan aus. Ismay gibt Pirrie den Auftrag, ihm drei Schiffe zu bauen, die alles an Größe, Luxuriösität und Vollkommenheit in den Schatten stellen sollen, was bisher dagewesen ist. Und es stehen auch schon die Namen fest für dieses Trio: "Olympic", "Titanic " und "Gigantic".

Wer sich in griechischer Mythologie auskennt, wird Anlass haben, sich über die Namensgebung dieser Schiffe zu wundern. Denn Titanen und Giganten sind dort wie kein anderes aufsässiges Göttergeschlecht mit den Bedeutungen: "Tod", "Niederlage", "Verlust" verknüpft. Nur einem einzigen Journalisten fiel das beim Stapellauf der Titanic auf, während sich die übrige Presse in Jubelgesang und Kniefällen vor diesem Meisterwerk der Wissenschaft und Technik erging. Am nächsten Morgen wies die Irish News in einem Leitartikel darauf hin, daß es sich bei den Titanen und den Giganten um ein riesenhaftes Göttergeschlecht gehandelt habe, das gegen den Göttervater Zeus antrat und vernichtend geschlagen wurde. Für ihre Auflehnung wurden sie strafweise in den Tartarus, den tiefstgelegenen Ort der griechischen Unterwelt (Hades), geworfen. Beunruhigt stellt die Irish News fest, daß die Titanic ihren eigenen Untergang im Namen trägt. Und tief liegt sie jetzt allemal - nämlich 3740 Meter unter dem Meeresspiegel.

"Not even God himself could sink this ship."

Warum denn ausgerechnet dieser Name? Darauf findet man in der gesamten Titanic-Literatur keine Antwort. Bruce Ismay und Lord Pirrie äußerten sich nie dazu, ebensowenig wie zu der bemerkenswerten Auffälligkeit, daß auf das Zeremoniell einer Schiffstaufe verzichtet wurde - und zwar exakt nur bei diesen drei Schiffen der "olympischen Klasse", nämlich der "Olympic", "Titanic" und der "Gigantic". Dem eigentlichen Stapelllauf geht traditionell seit Jahrhunderten die Schiffstaufe voraus, mit den ebenso traditionellen Worten: "Gott segne sie und alle, die mit ihr fahren." Auf diesen symbolischen Beistand meinte man offenbar verzichten zu können, im Gegenteil. Statt der Taufformel gab man die Parole der Unbesiegbarkeit einer erstaunten Weltöffentlichkeit bekannt: "Nicht einmal Gott könnte dieses Schiff versenken." (2)

Wie wir inzwischen wissen, bedurfte es dazu eines Gottes nicht; ein lausiger Eisberg tat diesen Job, und es fällt auf, mit welcher spielerischen Leichtigkeit er es tat.

Nur flüchtig streift ihn die Titanic, kein Frontal-Crash, keine ohrenbetäubende Erschütterung, kein sicht- und hörbares Katastrophen-Szenario. Kate Buss verglich das Kollisionsgeräusch mit dem Kratzen eines Schlittschuhs auf dem Eis (3) Millie Brown hatte den Eindruck, "als wären wir in einen Haufen Kies reingefahren" (4) und Lady Duff Gordon fühlte sich an "einen gigantischen Finger, der die Schiffsseite entlangfuhr" (5) erinnert. Die knirschende Kollision von Natur und Technik fand zwanzig Minuten vor Mitternacht statt, und am sechsten Tag ihrer Jungfernfahrt, um 2:20 in der Früh, versank nicht nur dieses Schiff, sondern eine neue, säkulare Religion: Der Glaube an die Allmacht menschlichen Geistes, der mit Hilfe perfekter Technologien sowohl die Naturgewalten als auch die kontingenten Bedingungen der menschlichen Existenz unter Kontrolle bringt.

(Das, was ich da eingefettet habe, dazu möchte ich später noch was sagen. Duff Gordon hat das natürlich metaphorisch gemeint. Ich finde es aber gar nicht metaphorisch. Sagen wir mal so: der Finger des Schicksals, um die Argumentation nicht zu frühzeitig einer naheliegenden Kritik auszusetzen).

Das folgende ist ein Zitat aus den Gerichtsakten:

Zitat:
Senator Bourne: Sind Sie selbst zu dem Schluß gekommen, daß es ein Individuum gibt, das in irgendeiner Weise für diese Katastrophe verantwortlich gemacht werden kann? Franklin: Ich sehe nicht, wie man irgend jemand beschuldigen könnte. Man hatte den besten Kommandeur, man hatte nur Menschen an Bord, die an dem Schiff interessiert waren. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß nicht jede Vorsichtsmaßnahme getroffen worden war. Es gab keine Anordnungen, das Schiff zu jagen. Es gab nichts, für das man sich hätte schämen können. Senator Bourne: Den einzigen Schluß, den Sie gezogen haben, ist die Tatsache, daß es kein unsinkbares Schiff gibt? Franklin: So sieht es heute, nach dieser Erfahrung, aus. Hätten Sie mich vor einer Woche gefragt, ich hätte nein gesagt. Ich hätte gesagt, wir haben es.

(6)

(Ich mache jetzt hier mal eine klitzekleine Pause, weil ich Angst habe, durch irgendeine technische Panne oder Unachtsamkeit von mir geht der Text verloren. Teil 2 gleich. Das beste kommt noch)
Das waren bestimmt dieselben, die damals (in ihren früheren fleischlichen Verkörperungen) beim Turmbau zu Babel den „Zement“ gemischt haben, denke ich. :eek:
 
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2004 - und dann ausführlicher ab Jan. 2017 (einige Artikel auf Google)
 
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