Die Geschichte ist zwar schon älter, aber für mich nach wie vor eine meiner Lieblingsgeschichten. Über jemanden mit Problemen...
Zweifler
Ein Mann in einer Art Garten, eigentlich ein baumbestücktes Grundstück, Olivenbäume hauptsächlich. Es ist bereits dunkel.
Es sitzt an einen der Bäume gelehnt, in Gedanken versunken, etwas abseits ein paar weitere Männer, eine Frau, einige unterhalten sich miteinander, essen etwas, die meisten sitzen stumm um die zwei Feuer, die etwas Licht und Wärme verbreiten, ebenso wie Rauch. Manchmal hustet einer.
Der Mann, der alleine im Schatten, abseits der anderen sitzt, wirkt eher unscheinbar. Nichts besonderes, könnte man meinen, wenn man ihm einfach so irgendwo auf der Straße begegnen würde.
Wenn man ihn so sieht, wie er jetzt da sitzt, unter dem Baum, den Ästen, so würde man unschwer erkennen, dass ihn etwas zu quälen scheint. Manchmal wirkt es, als ob er auf etwas zu lauschen scheint, dann hebt er etwas den Kopf, die Augen ohne Richtung in eine Art unsichtbare Ferne gerichtet. Die anderen lassen ihn in Ruhe, nur die Frau sieht manchmal leicht beunruhigt zu ihm hinüber, sie scheint ihn gut genug zu kennen, um ihn dennoch bei dem, das in ihm vorzugehen scheint, in Ruhe zu lassen.
"Wozu?"
"Warum?"
Er hat es ja versucht, ihnen, den Menschen das, was er wusste, nahezubringen, was war davon geblieben? Kunststücke, Wunder, Sensationen. Die wollte die anderen, waren gierig nach ihnen. Und jede Erzählung über sie veränderte ihren Inhalt, bis außer seltsam unverständlichen aber wundersamen Schaustücken nichts davon mehr übriggeblieben war.
Und jetzt war er hier, saß in diesem Garten, selbst langsam randvoll mit Zweifel an dem was er vor nicht allzulanger Zeit begonnen hatte.
Er war, ja was? Wütend, traurig, enttäuscht? Der Mensch, der er war, war es auf jeden Fall. Und dieser Mensch haderte mit dem, das er eben auch noch war, dem, das da auch in ihm war, wirkte, manchmal sogar Wunder wirkte, bewirkte. Zumindest erschien es anderen oft so.
Drei Jahre voll mühseliger Anstrengungen, kleiner Erfolge, von all der Zeit davor ganz zu schweigen, und jetzt? Wie sollte es weitergehen?
Sie verstanden ihn nicht, nicht einmal sie, die dort am Feuer saßen, nicht ein sie, die dort am Feuer saß, auch wenn sie doch im Vergleich zu den anderen eine durchaus wohltuend intelligente Ausnahme war. Nicht wirklich.
Er liebte sie alle, dennoch, sie dienten bestimmten Zwecken, nahmen ganz bestimmte Plätze ein, aber trotzdem, es war so mühselig, so schwierig, ihnen auch nur irgendetwas klarzumachen. Sie liebte er auch etwas anders, sie zumindest vermochte auch sein Menschenherz ein wenig zu berühren. Er sollte vorsichtig sein, sie küsste zu gut, und doch, auch ihr fehlte dieser kleine Funke, das Verständnis des Ganzen.
Niemand war da, der wie er war. Wie fühlt sich ein Sehender unter lauter Blinden?
Noch schlimmer, wie fühlt er sich, wenn alle so gerne auch blind bleiben wollten? Was erwarteten sie von ihm?
Schnelle Lösungen, kleine oder auch größere Wunder, für ihre, im Grunde genommen, eben genau durch diese, ihre eigene Blindheit erschaffenen Probleme.Sie litten an sich selbst, quälten sich selbst und sich miteinander ab, Linderung verschaffte lediglich, den eigenen Schmerz an andere ebenso weiterzugeben, wie er in ihnen selbst auch nunmal für sie unlösbar existent war.
Diese Welt war die Hölle. Für alle, und diese Hölle waren zugleich immer auch alle anderen, füreinander. Er verstand es nicht. Warum taten sie das? Sich, anderen an? Was lief schief? Was ließ sie nicht erkennen, was möglich wäre, gewesen wäre? Denn langsam begann er selbst nicht mehr daran zu glauben, dass hier irgendetwas
anders möglich wäre.
Er hatte einmal gehofft, er könnte daran etwas ändern, sogar helfen, etwas Positives bewirken, stattdessen himmelten ihn ein paar weitgehend ebenso Blinde wie der Rest als neuen Befreier, Retter an, andere hassten ihn.
Hatte er das jemals so gewollt? Sogar das schien hier nicht zu funktionieren. Warum nicht?
Das war doch auch Teil dieses so großen, anderen Ganzen, das zugleich doch in allem, das er davon kannte, in seiner Erinnerung, zugleich so ganz anders war als dieses Hier. Was wirkte hier noch, gegen das was eigentlich hätte wirken sollen?
"Halte ihnen den Spiegel vor!"
Er wusste, was die Stimme in Inneren meinte. Konnte er, vermochte er das? Es würde wehtun. Ihm selbst, davor war auch er nicht gefeit.
Und was würde es tatsächlich bringen, bewirken? Vermutlich jede Menge neuer Irrtümer, Missdeutungen, Fehlentwicklungen. Andererseits, wenn er so weitermachte wie bisher, brachte das wohl auch wenig.
Leiden, selbst, für die? Nein, das nicht, nur ihnen ihr Leid, das er andauernd sah, spürte, wahrnahm, auch wenn es ihn nicht wirklich zu berühren vermochte, noch einmal klar zeigen, zurückgeben. Und dann, nichts wie raus, weg von hier. Er stand einfach an, mit sich selbst, den anderen.
Das überstieg seine Kräfte, in dieser Form, als Mensch.
Sie kam langsam auf ihn zu, strich vorsichtig und doch so vertraut über seine Hand, sie sahen einander an. Alle anderen schliefen bereits.
"Pass auf sie auf! Sie werden sich sonst verlaufen. Und auf dich auch! Ich werde nicht mehr lange hier sein."
Sie wusste bereits, was er da zu ihr sagte. Ein wenig kannte sie ihn doch, spürte ihn. Liebe, diese so seltsam andere als die, die sie hier alle für Liebe hielten. Die auch sie selbst so lange dafür gehalten hatte. Er war anders, und sie auch, seit sie ihm begegnet war. Nicht, wie er, aber doch sehr verändert. Sie nickte nur. Wusste bei ihm nie, was sie eigentlich tun sollte, tun wollte. Er verwirrte sie. Brachte sie immer noch durcheinander. Und doch war es schön.
Er zog sie zu sich heran, sah sie an, küsste sie, so vorsichtig, wie er es immer tat, keine Forderung, eben, weil ihm danach war, sein im Moment, kein vorher, kein nachher. Manchmal wurde sie darüber wirklich wütend.
Spielte er? Und doch wusste sie tief in sich selbst, dass genau das nicht zutraf. Er war dennoch manchmal ganz schön schwierig. Er, es, das Ganze hier. Für sie. Ein Grenzgang täuschbar, und glasklar.
Sie schwiegen wieder, sahen sich nur an, sie legte ihren Kopf an seine Brust, ein wenig Wärme in der Kälte der Nacht, er strich über ihr Haar, küsste sie auf die Stirn. Das tat er oft. Sie verstand es nicht wirklich. Verwirrend war er, immer noch, für sie.
"Verzeih mir, aber ich kann nicht anders."
Was sollten jetzt diese Worte zu ihr? Sie wollte sie gar nicht verstehen. Und tat es doch. Die Wahrheit tut weh, mitunter. Und er tat ihr weh. Ausgerechnet jetzt. Ihr wurde plötzlich kalt, ganz tief in ihrem eigenen Inneren.
Er lächelte trotzdem. Konnte sie ihn auch hassen, dafür? Durfte sie das auch?
Plötzlich Geräusche, Lärm. Fremde Menschen, Soldaten kamen den Abhang herauf. Und ihnen voran einer, den sie beide nur allzugut kannten, einer von ihnen. Er schickte sie weg, zu den anderen, ein letzter Kuss, auf die Stirn, klar, blieb stehen, und erwartete, was da auf ihn zukam.
Noch ein Kuss, nur galt der einem anderen, dann führten ihn die Soldaten weg.
Judas lächelte, noch.
Mirjam war eher nach weinen zumute.
Es tat weh.
Alles.