Eine ganz andere Geschichte

Serenade

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Warum kann Einiges nicht für immer so bleiben wie es ist? – fragt sich die kleine Hexe und blickt traurig aus dem kleinen Fenster ihrer kleinen Hütte.

Nebenan ziehen sie wieder einmal aus. Schon das dritte Mal. Oder ist es bereits das vierte oder gar fünfte Mal? Diesmal trauert die kleine Hexe ganz besonders, da es ihren kleinen Freund betrifft. Es war schon traurig genug als sich das Menschenpaar trennte und nur mehr die Frau und der kleine Freund der kleinen Hexe zurück blieben. Der kleine Freund ist ein Kater. Ein kleiner, rauchgrauschwarzer, langhaariger Kater. Die kleine Hexe liebt Langhaariges. Hatte sie doch selbst langes und auch lockiges Haar. Einst war es fast schwarz, das lange und auch lockige Haar. Jetzt ist es mit grauen bis weißen Fäden durchzogen, wobei die Fäden natürlich auch Haare sind.

Sie lernten sich sehr langsam kennen, die kleine Hexe und der kleine Kater. In den ersten Morgenstunden schritt er im Abstand von einigen Metern an ihrer kleinen Hütte vorbei und beachtete sie überhaupt nicht, als sie die Balken und das kleine Fenster öffnete. Sie aber sah das pelzige Wollknäuel mit den leuchtend gelborangen Augen, die so stolz an ihr vorbei zu blicken schienen. Katzen haben überhaupt eine seltsame Blickweise. Man meint, sie starren gerade aus, aber mit ihrem für Beobachter kaum wahrnehmbaren Seitenblick haben sie alles unter Kontrolle. Das wusste die kleine Hexe natürlich, sonst wäre sie ja keine Hexe, wenn sie auch nur eine kleine Hexe war.

Es gibt auch große Hexen, was jedoch nichts mit der Körpergröße zu tun hat. Große Hexen sind nicht nur älter, sie sind auch erfahrener und haben mehr Magiekraft. Die kleine Hexe jedoch ist erst 300 Jahre alt (sie wurde am 21. 7. 1717 geboren) und ihre Magiekraft lässt eigentlich zu wünschen übrig. Aber das macht ihr nichts aus. Sie vergleicht sich ohnehin mit niemandem. Weder mit anderen Zweibeinern, und am allerwenigsten mit anderen Hexen, die sich ohnehin stets nur streiten, wer denn nun die Mächtigste unter ihnen ist. Anscheinend besteht die einzige Magiekraft der kleinen Hexe daraus, dass sie die Sprache der Tiere versteht. Und das ist ihr mehr als genug.

Mittags drehte der kleine Kater abermals seine Runde, die stets dieselbe war. Aus dem Zypressenzaun seines Gartens schlüpft er heraus, schreitet geradeaus weiter zum alten Nussbaum, den er beharrlich markiert, dann scharf nach links am kleinen Hexenhäuschen vorbei (wie es allgemein von den Zweibeinern genannt wurde, ohne zu wissen, wie nahe dran sie damit waren) bis zur Trauerweide, die natürlich auch markiert werden muss und schließlich zur großen Wiese, wo er meist nicht mehr gesehen wird, wenn das Gras sehr hoch ist, was es meistens auch ist.

Man lebt hier in einer sonnigen, südlichen Gegend, wo es nur sehr selten, wenn überhaupt, kalt, dürr und grau ist. Es gibt schon Tage, an denen keine Sonne scheint, wo es sanft aus den plötzlich auftauchenden Wolken herab regnet, damit die Pflanzen, Tiere und Menschen wieder genug Wasser haben und es auch ein wenig kühler wird. Aber kalt wird es nie und Schnee gibt es auch keinen in dieser Gegend.

Manchmal rief die kleine Hexe nach dem Kater, wenn er an ihrem kleinen Fenster der kleinen Hütte vorbei kam. Sie wusste, wie man Katzen anspricht und wunderte sich über den Stolz dieses Katers. Die meisten blicken fast entsetzt auf, wenn sie bemerken, dass da jemand ist, der sie versteht. Dieser Kater jedoch nicht. Ist er taub? – dachte die kleine Hexe damals. Aber das dachte sie nur kurz, denn sie spürte die zarte Regung im Innern des kleinen Pelztigers. Er zuckte kurz, wirklich nur ganz kurz, zusammen. Menschen hätten das nicht gespürt. Nicht mal die sensibelsten unter ihnen.

Erst am dritten Tag blieb der Kater stehen und blickte zur kleinen Hexe hoch, die ihn, wie immer, in der Katzensprache gegrüßt hatte. Zum ersten Mal trafen sich ihre Blicke. Wenn einem eine Katze voll und ganz in die Augen blickt, bedeutet das sehr viel. Es ist nicht nur Vertrauen, es ist fast so, als würde die Katze dich als Verwandten anerkennen. Leider verstehen das die wenigstens. Die kleine Hexe war gerührt. Na ja, und so begann diese Freundschaft, die heute, gerade an ihrem Geburtstag, einem 21. 7. enden sollte.


Menschen sagen, Katzen würden an ihrer Umgebung hängen und nie an den Menschen, die sie füttern und sich um sie sorgen. Das stimmt so gar nicht. Sie hängen an gar nichts und an allem. Katzen sind auch keine Autisten. Weder mit noch ohne Berührungsängste. Sie sind ihnen vielleicht ähnlich, weil sie ebenso viele Rituale haben und diese sehr gerne einhalten. Wenn Rituale nicht mehr eingehalten werden können, drehen Katzen deswegen nicht durch, aber sie versuchen alles, um sie einzuhalten, was ja ganz etwas anderes ist. Oder etwa nicht?

Heute, am 21. 7. 2017, an dem Tag, an dem die kleine Hexe genau 300 Jahre alt ist, parkt ein riesiger Möbelabholwagen vor dem Nachbarhaus, um die privaten Möbel der Frau abzuholen. Die Frau selbst würde mit ihrem Auto zur neuen Wohnung fahren und neben ihrem Sitz würde der Käfig mit Jamie darin, so der Name des kleinen Katers, stehen. Die kleine Hexe schluckte, als sie die Möbelpacker und die Frau hörten, wie sie Befehle gaben, nicht hier und nicht dort mit den Möbeln an die Mauern zu stoßen.

Warum kann Einiges nicht für immer so bleiben wie es ist? – fragt sich die kleine Hexe abermals und dachte an ihr langes Leben zurück, in dem sie schon sehr viele Freunde verloren hatte. Meistens waren es Tiere. Menschen gab es kaum, die sie zu ihren Freunden zählen konnte. Einmal ein kleiner Junge, als sie selbst noch jung war und in eine Menschenschule ging, bis ihre Onkel und Tanten (die sich nur so nannten) sie abholten und nie wieder zu ihren Eltern zurück brachten. Hexen werden einfach so geboren. Ganz gewöhnliche Menschen können Hexen als Kinder bekommen. Und meist wissen sie es gar nicht und wundern sich nur sehr, warum ausgerechnet in ihrer Umgebung seltsame Dinge passieren. Es gibt aber die so genannte Hexenpolizei, die ab und zu Stichproben macht. Heute ist es einfacher als zu Sybilles Kinderzeit, da Geräte entwickeln wurden, die kaum anders als die tragbaren Telefone (die kleine Hexe kann sich all die unterschiedlichen Namen nicht mehr merken, die man diesen unterschiedlichen Dingen heute gibt) aussehen. Sie zeigen sofort auf dem Display an, wenn sich eine Hexe in der Nähe befindet. Und je näher man kommt, umso dunkler wird die Anzeigeschrift, bis die Hexenpolizisten (immer sind es mindestens zwei) schließlich vor dem Hexenkind stehen und es packen und mit sich schleppen. Damals schloss die kleine Hexe, deren leibliche Eltern sie Sybille nannten, Freundschaft mit einem Jungen aus ihrer Klasse. Sie trafen sich täglich auf dem Schulweg und gingen auch zusammen nach Hause. Manchmal besuchten sie sich gegenseitig, um zusammen Hausaufgaben zu machen. Fast zwei Jahre lang ging das so, bis die Hexenpolizisten kamen (wie diese damals feststellten, dass das kleine Mädchen eine Hexe ist, wurde nie festgestellt) und Sybille mit sich in eine große Stadt nahmen. Irgendwo abseits dieser großen Stadt gab es ein ziemlich großes Haus, das fast wie ein Schloss aussah und vielleicht auch eines war, denn es leben sehr viele Menschen darin. Bald stellte Sybille fest, dass es keine Menschen, sondern Hexen waren und sie auch eine Hexe ist, die zwar keine magischen Kräfte hatte, aber Tiere verstehen konnte. Sybille war wertlos für die Hexengemeinschaft, auch wenn sie in der Hexenschule (es gab kaum einen Unterschied zur Menschenschule, da auch hier schreiben, rechnen, lesen, Naturwissenschaften und Erdkunde unterrichtet wurde) gut lernte. Sie lernte sogar sehr gut, aber eben nur die Fächer, die es auch in der Menschenschule gab. In Zauberei und Zaubertränke herstellen, oder anderen Fächern für Hexen und Hexer, scheiterte sie kläglich, dass man sich fragte, ob man sich nicht doch bei ihr geirrt habe und sie nicht doch ein ganz normaler Mensch ist. Bis, ja bis man Sybille im Kellergewölbe des riesigen Hauses mit Ratten sprechen hörte. Es war eigentlich keine Sprache und nur selten ein Pfeifen, wie Ratten es tun. Es war eher eine seltsame Bewegung mit dem Mund, was Sybille selbst wie eine Ratte aussehen ließ. Ja, Sybille bekam, als sie sich mit den Ratten unterhielt, selbst eine Art Rattengesicht. Es war aber nicht so eindeutig, dass man sagen könnte, Sybilles Kopf wurde zum Rattenkopf, während ihr restlicher Körper menschlich blieb. Es war viel mehr eine Art Überlagerung, als würde sich ein Rattenkopf über Sybilles Kopf stülpen und dann wieder Sybilles Kopf über den Rattenkopf. Man konnte dieses Geschehen nicht lange beobachten, ohne schwindlig zu werden. Aber nur so konnte und kann sich Sybille in das Wesen der jeweiligen Tiere hineinfühlen und ihre „Sprache“ (wenn man es so nennen will) verstehen.

Die Oberhexen und Oberhexer nannten es eine Gabe. Sybille war nicht die einzige, auch wenn dies bei Hexen selten war. Hexen haben Magie, magische Kräfte, mit denen sie Menschen und andere Lebewesen beeinflussen können. Im Guten wie im Bösen. Es gab noch ein Mädchen und einen Jungen mit einer so genannten Gabe, aber Sybille kann sich nicht mehr genau erinnern, welche Gaben die beiden hatten. Vielleicht hatte das Mädchen die Gabe, durch Wände zu blicken oder gar durch Wände zu gehen und der Junge vielleicht die Gabe, mit Pflanzen zu sprechen? Irgend so etwas in der Art musste es gewesen sein, denn so viele Gaben gab es gar nicht. Hexen mit Gaben waren unterste Stufe. Meist wurden sie von den anderen Hexen und Hexern nicht beachtet und wie Luft behandelt. Es gab übrigens auch die Gabe zu fliegen, wo gerade von Luft die Rede war. Sybille hätte diese Gabe damals als Kind gerne gehabt. Dann wäre sie davon geflogen. Weit, weit weg, wo es keine Hexen oder Menschen gab. Nur Tiere. Tiere, mit denen sie sich unterhalten kann.

Vor Menschen hatte Sybille nie Angst. Die anderen Hexen übrigens auch nicht, denn sie wurden nie verfolgt oder verbrannt. Es erwischte stets Menschen, die bezichtigt wurden, Hexen zu sein. Meist waren es Menschen, die anderen Menschen nur im Wege waren. Sybille erinnert sich nicht gerne an diese alten Zeiten, wovon die Menschen sagen, die Kinderzeit sei die schönste Zeit. Erst, als sie in die Reife kam (Hexen nennen es so), wurde für Sybille das Leben etwas einfacher. Sie war 20 Jahre alt, als sie die Hexenschule verlassen durfte und sich im Hexenamt registrieren musste. Das Hexenamt waren eine wichtige Einrichtung, denn von ihm bekommen alle Hexen und Hexer Ausweise, Pässe und anderes Zeug, was Menschen üblicherweise so haben und brauchen. Immerhin werden Hexen und Hexer durchschnittlich 300 Jahre alt. Manche können 500 Jahre alt werden, da sie nur selten krankheitsanfällig sind. Hexen und Hexer sterben meist an Altersschwäche. So war es wichtig, sich beizeiten an den jeweiligen Hexenämtern registrieren zu lassen.

Sybille hat schon fast überall auf der Welt gelebt, außer auf den beiden Polen. Da war es ihr zu kalt. Sybille lebte am liebsten im Süden, wo es meistens warm war, obwohl es ihr in den Sommermonaten sehr oft viel zu heiß war. Besonders in den letzten Jahren war ihr die Hitze unangenehm. Hexen, wie auch Hexer altern plötzlich. Sie sehen fast 100 Jahre lang wie Teenager aus, dann sehen sie von einem Tag auf den anderen plötzlich wie 40 oder 50jährige aus, bleiben dies die nächsten 100 Jahre und schließlich kommt wieder ein Tag, nach dem sie gute 20 Jahre älter aussehen. Sybille würde man ungefähr 60, höchstens 65 Jahre alt schätzen. Sie hielt nie viel von Kosmetik und Mode, wie andere Hexen, denen man nachsagt, sie seien sehr, sehr eitel. Auch die meisten Hexer halten viel auf ihr Aussehen. Sybille liebt schwarz. Schwarze Kleider, schwarze Röcke, schwarze Blusen, schwarze Pullover, schwarze Hosen, schwarze Schuhe und sogar einheitlich schwarze Unterwäsche. In Sybilles Kleiderschränken findet man ausnahmslos schwarze Kleidung.


Schwarz kam nie aus der Mode und war zu vielen Zeiten sogar elegant. Heute nannten manch boshafte Menschen Sybille „Gruftie“ oder auch „Oldgoth“, da sie bereits graue Strähnen in ihren hüftlangen Zotteln hatte.

Aber noch einmal zurück zur Hexenschule. Übrigens waren Schulen damals um 1720 noch keine Pflicht. Die meisten Kinder wurden zu Hause von Hauslehrern unterrichtet. Für Sybille, ihren Freund und noch einigen anderen Kindern in der Gegend, war die Schule eine ganz besondere Ausnahme, die für die kleine Hexe leider durch die Hexenpolizei unterbunden wurde.

Als eine der Hexen Sybilles „Gabe“ zufällig erkannte, als sie in den Keller ging, um Holz und Kohlen zu holen, war man irgendwie erleichtert, da die kleine Hexe kaum Fähigkeiten in den üblichen Fächern zeigte und man befürchtete, sich geirrt zu haben, was schließlich noch nie vorgekommen war. Dennoch war man nicht wirklich glücklich darüber, da viele gewöhnliche Menschen auch so genannten „Gaben“ hatten. Es war also nichts Ungewöhnliches, dennoch wurde die kleine Hexe nach langen Diskussionen behalten. Zurück schicken war unmöglich und das Mädchen zu töten noch unmöglicher. Wenn manche Hexen oder Hexer auch fies waren, aber so weit gingen sie dann doch nicht.

Sybille schloss in der Hexenschule Freundschaft mit den Ratten. Mit sonst niemandem. Manchmal übernachtete sie sogar im Keller bei den Ratten. Eine Rattenfamilie wollte sie sogar aufnehmen, sozusagen adoptieren. Ratten sind sehr familiär und halten zusammen wie Pech und Schwefel. Meist sind es sehr große Familien, mit Tanten, Onkel, Cousins, Cousinen und sogar Cousins zweiten, wie auch dritten Grades. So eine Sippschaft bestand oftmals aus mehr als 100 Ratten. Und wenn eine andere Sippschaft Ärger machte, gab es Krieg. Irgendwie erinnern sie an die frühe menschliche Mafia. Es gab Blutrache und die konnte tatsächlich sehr brutal sein. Jedoch untereinander waren sie liebevoll, sanft und zu den Kindern antiautoritär. Kinder, aber auch nur die eigenen (!), durften alles tun und hatten alle Rechte. Zuerst die Kinder, dann lang nichts und dann erst die Alten und schließlich die Älteren. Bei den Ratten ging es also nicht so zu, wie man oft behauptet, dass in der Natur die Schwachen das Nachsehen haben. Ganz im Gegenteil! Kinder und Greise hatten alle Vorteile im Clan. Man ehrte die Alten sogar und hatte Respekt vor ihnen. Es war jedoch keine aufgezwungener, sondern eine vollkommen natürliche Ehrerbietung.

Sybille hatte es später auch öfters mit Ratten zu tun und erkannte stets dieselbe Lebensweise. Noch heute denkt sie, dass sich Menschen von diesen Tieren, die sie eklig und schmutzig nennen, einiges abschauen könnten, wenn sie sie nur verstehen würden. Dass Ratten ziemlich klug sind, wurde immerhin schon von den Menschen festgestellt.

Nachdem Sybille die Hexenschule verlassen hatte, bekam sie einen Ausweis (diesmal noch mit ihrem wahren Voramen Sybille), ein Zeugnis und musste sich in der Menschenwelt eine Arbeit und auch eine Wohnung suchen. Diesmal klappte es auf Anhieb, da zwei Hexer, die Sybille ziemlich süß fanden, ihr dabei halfen.

Hexen und Hexer lassen sich übrigens nur sehr selten mit Menschen ein. Es gab auch untereinander kaum Paare, die zusammen lebten. Es scheint als würde dieser menschlichen Mutation (immerhin sind Hexen und Hexer nichts anderes, da ihre Eltern stets menschlich sind) der Fortpflanzungstrieb fehlen. Man hatte sich vielleicht untereinander gern (passierte sehr selten, da das Konkurrenzdenken die Oberhand hatte), fand sich eventuell auch „süß“, aber sonst passierte nichts.

Sybille hatte sich schon öfters verliebt, aber nur in Tiere und das auch nur platonisch, wie man das so nennt. Zuerst war es die Rattenfamilie, allen voran Rattenomi, die als erste vorschlug, Sybille offiziell in ihren Clan aufzunehmen. Es brach beiden fast das Herz, als sie sich verabschieden mussten.

Und doch war die Zeit damals schön. Es gab sowieso zu jeder Zeit etwas Schönes. Vor allem gab es damals noch Könige, sogar Königinnen und Prinzen, wie auch Prinzessinnen. Einmal arbeitete Sybille als Hauslehrerin in einem Schloss für eine Königsfamilie. Dort hatte sie ein eigenes Zimmer. Es war damals wohl das größte Zimmer, das sie je bewohnte und wohl auch das größte Bett (ein bezauberndes Himmelbett), in dem sie je schlief. Und schließlich verliebte sich der Schüler, der Kronprinz, in seine Hauslehrerin, was fast einen Skandal ausgelöst hätte.

Fortsetzung folgt...
 
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Die kleine Hexe könnte aus ihrem 300jährigen Leben Geschichten erzählen, die die gesamte Geschichte der Menschheit umschreiben würde. Man würde ihr jedoch niemals glauben und Beweise, wirklich handfeste Beweise, hatte sie keine. Es würde auch keine Rolle spielen, wenn die Menschen heute wüssten, dass die so genannten Bösen nicht immer (eigentlich selten) die Bösen und die Guten nicht immer (wobei es nur selten Gute gab, die das Sagen hatten) die Guten waren.

Sybille hielt sich mehr an den Tieren. Die Kommunikation verlief mit ihnen viel einfacher und vor allem ehrlicher. Und erwischt konnte sie auch nie werden, da nur Hexen und Hexer die Überlagerungen in ihrem Gesicht sehen konnten. Es sah nur seltsam aus, wenn sie vor einer Katze (das waren ihren speziellen Lieblinge) oder gar mehreren Katzen gleichzeitig hockte und verwunderliche Grimassen zog und ihren Kopf manchmal etwas zu schräg hielt. Na ja, und manchmal kamen auch eigenartige Geräusche aus ihrer Kehle. Man hielt sie dann nur für etwas merkwürdig, aber das war schon alles.

Man muss den Hexen und Hexern gratulieren. Das muss an dieser Stelle (wegen dem „Erwischtwerden“) gesagt werden. Sybille war selbst sehr stolz auf diese geheime Organisation, die sich bis heute verdeckt halten konnte und niemals, wirklich niemals, aufgekommen wäre, dass es Menschen mit besonderen Fähigkeiten gibt. Ja klar gab es so etwas wie Vermutungen, dass es Menschen mit besonderen Fähigkeiten gibt, aber die hatten nie, wirklich niemals, nicht im Geringsten etwas mit den wahren Hexen und wahren Hexern zu tun.

Die kleine Hexe liebt alle Tiere. Nicht mal vor Spinnen oder Schlangen hat sie Scheu, obwohl ihr so genannte Wildtiere nicht immer geheuer sind. Manche greifen an, ohne sich vorher zu vergewissern, ob man ihnen Bösen oder Gutes tun will. Eigentlich verständlich, wenn man bedenkt, wie sehr der Mensch in ihre Lebensbereiche eingedrungen ist und sie heute kaum mehr wild lebende Tiere genannt werden können, da sie wie manche Naturvölker in Reservate (Wildgehege, Zoos) untergebracht werden.

Domestizierte Tiere etwa, wie Kühe, Schweine, Hühner, Gänse – mit ihnen hatte Sybille stets eine wunderbare Kommunikation. Man möchte meinen, diese Tiere hätten einen Groll gegen Menschen. Vielleicht grollen manche, - vor allem heutzutage wegen der langen Transporte, den Zuständen in Schlachthöfen und wohl auch noch immer wegen der Haltung, als wären diese Tiere Schwerverbrecher. Aber keines dieser Engel (Sybille nennt sie oft so) klagt über sein hartes Schicksal, wenn es zu Lebzeiten nur im Stall angekettet ist und erst in den letzten Stunden das erste Mal den Himmel über sich sieht und das weiche Gras unter sich spürt. Nur für diesen einen Moment, dieses Sehen und dieses Spüren habe es sich gelohnt zu leben. Nur für diesen einen Moment sind sie dankbar überhaupt gelebt zu haben. Dieser eine Moment entschädigt sie für alles Leid, das sie meist gar nicht als Leid empfunden haben, da sie nichts anderes kannten. Sybille fragte oft, warum sie sich nie wehren, da manche viel kräftiger sind als Menschen. Wozu sich wehren? Und wohin dann? Die Menschen sorgen für sie, wenn auch nicht immer besonders gut, aber sie haben ein Dach über den Kopf und Essen in ihren Trogen.

Für Tiere überlagert das Positive alles, da es viel stärker als das Negative ist. Genau deshalb leben sie für ganz besondere Momente und wissen dies auch. Menschen suchen das Glück, suchen nach den besonderen Momenten und wollen festhalten, für immer haben. Menschen wissen nie, wann es genug ist. Tiere wissen es.

Trotzdem kämpfte die kleine Hexe in den letzten Jahren für das Recht der so genannten Nutztiere, war schon lange Vegetarierin, machte bei Demos mit und war Mitglied bei verschiedenen Tierschutzvereinen.

Fortsetzung folgt...
 
Sybille holt sich einen Sessel ans Fenster. Nachdem sie sich ächzend darauf niedergelassen hat, blickt sie nachdenklich zur Wiese hinüber, deren Gras wieder einmal ziemlich hoch ist. In der nächsten Woche wird wohl der Bauer kommen und mähen, um Winter Futter für seine Kühe zu haben. Es gibt nicht mehr viele Bauern. Die meisten arbeiten für den Eigenbedarf und arbeiten zusätzlich irgendwo als Hilfsarbeiter, da sie ja nichts anderes können, als Bauern zu sein. Die kleine Hexe kennt die Kühe des Bauern gut, der regelmäßig die Wiese mäht. Es sind sehr zufriedene Tiere, die jederzeit ihren Stall verlassen und auf die Weide können. Auch werden sie regelmäßig gemolken. Sie dürfen lange leben, ohne zu befürchten, einst zum Schlachthof gefahren zu werden. Dafür hat Sybille gesorgt.

Jamie kommt des Weges. Direkt aus dem hohen Gras. In seinem Maul trägt er eine tote Maus, die er stolz vor Sybilles Tür legt und ihr einen goldenen Blick zuwirft. Die kleine Hexe versteht die Sprache der Katzen manchmal farblich. Goldene Blicke sind Liebe ohne Ende und ebenso unendliches Vertrauen. Es gibt auch dunkelbraune Blicke. Die sind erdig und man sollte sich in Acht nehmen, um nicht unter die Erde zu kommen. Sicher wird es eine Hauskatze niemals schaffen, einen Menschen unter die Erde zu kriegen. Großkatzen würden dies mit links können.

Sybille kennt den dunkelbraunen Blick. Einst arbeitete sie in einem Wanderzirkus als Tierpflegerin. Damals gab es noch dressierte Wildtiere in Zirkusse. Zum Glück für die Tiere heute kaum noch. Es war damals ein relativ kleiner Zirkus, aber eine Raubtierschau mit zwei Löwinnen, einem Tiger und einem schwarzen Panther hatten sie doch neben 4 Elefanten, 2 Pferde und einige Hunde. Die Menschen dort gingen gut mit den Tieren um und schonten sie, wenn es zu heiß oder zu kalt zum arbeiten war. Wo es möglich war, hatten sie sogar Auslauf, um nicht ständig in den engen Käfigen schmachten zu müssen. Und damals war es noch möglich, natürlich unter sorgfältiger Aufsicht.

Die kleine Hexe freundete sich schnell mit allen Tieren an und wurde von allen akzeptiert. Sogar vom Tiger, der den meisten Menschen diesen dunkelbraunen Blick zuwarf. Sybille machte das nachdenklich, denn sie traute ihm durchaus zu, auf Menschen los zu gehen, wenn sich ihm die Gelegenheit bot. Und Gelegenheiten gab es durchaus einige. Die anderen Raubkatzen waren harmloser. Von ihnen kamen meist gelbe Blicke, was nichts anderes bedeutet, als „lasst mich in Ruhe“. Als nun für den Tiger die Gelegenheit kam, stürzte er sich nicht etwa auf seinem Dompteur, denn der war stets gut zu ihm, sondern in das Publikum und tötete drei Menschen, bevor er von einem Mann erschossen wurde. Am nächsten Tag packte Sybille ihre Sachen, verließ den Wanderzirkus und suchte sich eine andere Arbeit.

Man darf die Sprache der Tiere nicht mit menschlichen Sprachen vergleichen. Nicht mal die Beweggründe, sich mitzuteilen sind vergleichbar. Tiere leben in vollkommen anderen Welten als Menschen. Auch wenn Sybille es manchmal farblich sieht, ist das auch nur eine kleine Hilfe, um wenigstens etwas zu erhaschen, was sich noch menschlich erklären ließe. Die kleine Hexe selbst könnte es nicht erklären, dennoch versteht sie die „Sprache“ der Tiere, weil sie sich wie kaum jemand anders, in sie hinein versetzen kann. Genau deshalb ist es auch eine Gabe, die nur wenige haben und wenn, sind es Hexen oder Hexer. Es gibt nicht mehr viele von ihnen, weder jene mit Gaben, noch jene mit Magie. Als Sybille jung war, schien die Blütezeit der Hexenwesen gewesen zu sein. Heute scheint es fast, als würden sie aussterben.

Jamie zottelt nach diesem goldenen Blick zu den Zypressen. Es dürfte das letzte Mal gewesen sein, dass sich die beiden sehen. Bald wird die Frau ihren Kater in eine Box sperren und in die neue Wohnung mitnehmen. Die Möbelpacker fahren gerade mit einer Ladung ab und Sybille seufzt laut.

Fortsetzung folgt...
 
Die kleine Hexe denkt wieder zurück an ihr langes Leben. Sie denkt an ihre Eltern, denen sie so plötzlich entrissen wurde. Es war relativ spät, denn meist werden Hexen und Hexer in ihren ersten Lebensjahren entdeckt und schließlich entführt, um in den jeweiligen Hexenschulen unterrichtet zu werden, bis sie volljährig sind. Sybille trauerte eigentlich nie. Sie weinte nicht einmal oder wurde wütend oder bat ihre Entführer, sie wieder zu ihren Eltern zurück zu bringen. Es war viel mehr Mitgefühl, was die kleine Hexe für ihre Eltern empfand. Sie wusste, dass sie sie verzweifelt suchen und todtraurig sein werden. Damals wie heute gab und gibt es Kindesentführungen, die nur selten geklärt werden. Sybilles Eltern bekamen keine Kinder mehr und lebten einsam und verbittert, bis sie an gebrochenem Herzen starben. Als sich die kleine Hexe nach ihnen erkundigte, waren ihre Mutter und ihr Vater bereits unter der Erde. Auch wenn Nachforschungen dieser Art von den Hexen strengstens verboten waren, konnte Sybille nicht anders. Es war gerade ihr zweiter Arbeitstag, nach der Hexenschule, in einem Waschkeller, wo sie als Wäscherin in einer Fabrik arbeitete, als sie sich in die Nähe des Hauses wagte und zufällig eine alte Nachbarin im Garten sah. Zum Glück sah die Nachbarin schon ziemlich schlecht und es sei auch nicht sicher, ob sie Sybille wieder erkannt hätte, als das junge Mädchen nach den Tompsons fragte, die irgendwo in einem anderen Land eine weit entfernt verwandte Tante haben, die gerne wissen möchten, wie es ihnen geht. Als die Nachbarin sagte, die beiden seien letztes Jahr begraben worden, blieb Sybille die Luft weg. Sie musste sich sehr zusammen reißen, um nicht ohnmächtig zu werden. Aber wieder war es kein Selbstmitleid. Die kleine Hexe hat nämlich noch eine Gabe, was aber nicht unbedingt nur etwas mit Hexenkräften zu tun hat. Sie kann sehr oft fühlen, was andere fühlen, weil sie ihre eigenen Gefühle zurückstecken kann. Manche Menschen können das auch. Es gibt viele Empathen unter ihnen, aber in diesem Fall, als die Nachbarin Sybille vom Tod ihrer Eltern berichtete, kam ein dichter Schwall Traurigkeit aus ihrem Elternhaus auf sie zu, der sie fast umwarf. Gefühle bleiben lange erhalten, bis sie sich den Weg ins Jenseits bahnen, wobei der Geist selbst sofort beim Eintritt des Todes verschwindet. Und manchmal entfalten sich Gefühle, vor allem, wenn sie negativ sind, in Poltergeister oder anderem unheimlichen Spuk.

Sich Arbeit zu suchen, war nicht immer einfach. Es kam in gewissen Jahrzehnten durchaus vor, dass sich die kleine Hexe auf der Straße durchschlagen musste. Bettler und Huren gab es damals genug. Sybille bettelte lieber auf der Straße, als ihren Körper anzubieten, was nicht immer ungefährlich war. Freier, die nicht mit Geld zahlen wollten, bezahlten oft mit einem Messer.

Manchmal kam es auch vor, dass Hexen untereinander Scheinfamilien gründeten. Verlieben war, wie bereits erwähnt, nicht drin, aber Menschen zu täuschen, war eine Lieblingsbeschäftigung aller Hexenwesen. Zweimal ließ sich Sybille in ihrem Leben auf ein Leben in einer Scheinfamilie ein. Einmal als junges Mädchen, wo sie sich die älteste Tochter ausgab und einmal als erwachsene Frau, die im Haushalt einen Mann (einen grantigen Hexer) und drei Töchter („liebreizende“ Hexen, die sich gerne gegenseitig übertrafen und dabei allerlei Unsinn anstellten) zu versorgen hatte. Danach ließ sich die kleine Hexe auf eine derartige Lebensweise nie wieder ein und beantragte stets Ausweise für eine allein stehende Frau, was auch nicht immer einfach war. Frauen hatten damals kaum etwas zu sagen. Heute ist es auch nicht viel besser, vor allem in gewissen Ländern werden Frauen noch immer unterdrückt und hatten keine Rechte. In manchen Ländern bekamen weibliche Menschen erst im 20igsten Jahrhundert das Recht zu Wahlen zu gehen. Bei Hexen und Hexer gab es keine geschlechtlichen Unterschiede. Die wahren Unterschiede gab es im magischen Kräftemessen. Aber damit hatte Sybille kaum etwas zu tun.

Fortsetzung folgt...
 
Wozu gab und gibt es Hexenwesen überhaupt? Haben sie in der Welt etwas zu sagen, wo sie sich doch ihre Magie geheim halten müssen? Sybille hat sich das schon oft gefragt, denn auch sie konnte mit ihrer Gabe kaum etwas Sinnvolles in der Welt beisteuern. Das einzige, was sie tun konnte, die Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass auch Tiere, wie Menschen, Schmerzen empfinden und man sie besser behandeln sollte. Bei den meisten Menschen ging das bei einem Ohr rein und beim andern wieder raus. Es war sozusagen sinnlos.

Manchmal fragte sich die kleine Hexe auch, welche Bedeutung ihr Leben hat. Heute weiß sie, dass alles Bedeutung hat. Auch der kleinste Käfer hat Bedeutung, was aber die wenigsten Menschen erkennen können. Andererseits, wenn alles Bedeutung hat, kann man auch sagen, dass nichts Bedeutung hat. Das ist ein Teil des Geheimnisses der Medaille und ihren zwei Seiten.

Schon immer hörte Sybille, dass man etwas leisten muss. Heute kann es gar nicht schneller, höher, weiter und besser gehen, um dem Leben einen Sinn zu geben. Darüber kann sie nur lächeln. Sie weiß, Menschen machen sich das Leben oft unnötig schwer. Es ist nun mal so, wenn man es aus diesem Blickwinkel betrachtet, dass es mehr bedeutungslose Menschen gibt als jene, die etwas zu sagen haben. Aber wie schon einmal erwähnt, könnte Sybille die Geschichte umschreiben, denn nicht alles war so, wie es in den Geschichtsbüchern geschrieben steht. Was Politik betrifft, da hatte nicht einmal sie als Mitglied der Hexenwesen wirklich einen Einblick, aber über Kunst oder Wissenschaft wusste sie ein wenig mehr. Über manch so genannten großen Poeten oder Maler oder gar Arzt und Wissenschaftler, die angeblich großes für die Menschen geleistet haben, könnte sie schon einiges berichten. Aber wer würde einer kleinen, alten Frau Glauben schenken? Und ganz ehrlich, zu so etwas würde sich Sybille niemals herab lassen. Es ist ihr nicht gleichgültig, dass gewisse Menschen Genies genannt, ihnen Denkmäler errichtet und Jahresfeiern abgehalten wurden und noch immer werden. Es wäre ihr auch nicht recht, wenn unter anderem sie gefeiert werden würde, wo sie doch manch berühmten Mann (wie man so sagt) als unbedeutendes Frauenzimmer unter die Arme gegriffen hat. Sybille wusste, und das war das erste, was sie in der Hexenschule gelernt hatte, auch das waren und sind Gaben, wofür der Mensch selbst gar nichts kann, genauso wie sie und die anderen Hexen und Hexer ihre Gabe und ihre Magie geschenkt bekamen. Sicher taten die Menschen und Hexenwesen auch etwas dafür. Sie lernten und kämpften (die Hexen im Geheimen und so genannten Untergrund) für ihre Erfindung, gegen die sich meist die Kirchenmänner stellten, da sie Angst hatten, es könnte heraus kommen, dass ihr so gerühmten Gott die Welt gar nicht erschaffen hat.

Niemand kann etwas dafür, wie, wo und mit welchen Gaben und Vorzeichen er oder sie geboren wurde und wird, was aber nicht heißt, dass man aus aussichtslosen Situationen nichts machen kann. Sybille lernte auch Frauen kennen, die sich gegen die Männerwelt auflehnten und sich auch durchsetzen konnten. So schlecht bestellt war es dann auch wieder nicht. Immerhin gab es auch Königinnen, Kaiserinnen, Zarinnen und andere mächtige, wie auch berühmte Frauen, auch wenn es hieß, dass das weibliche Geschöpf nur in die Küche gehört und zum gebären auf der Welt ist. Aber jene Frauen waren selten und sind es immer noch, weil sie sich nichts zutrauen, zu feige sind und vor allem, weil sie gefallen wollen. Das „gefallen wollen“ betrifft übrigens fast die gesamte Menschheit und ist der üble Wurm der Gesellschaft. Keiner traut sich zu sagen, was er sich denkt, weil er befürchtet, dann schlecht vor den anderen da zu stehen.

Jetzt, wo sie an all das dachte, entschloss sie sich, zur Nachbarin hinüber zu gehen und sie zu fragen, ob Jamie hier bei ihr in seiner gewohnten Umgebung bleiben kann. Sie würde gut für ihn sorgen. Und vielleicht würde die kleine Hexe auch sagen, dass sie und Jamie sich besonders gut verstehen und sich auf eine ganz besondere Art, wie es zwischen Menschen und Tieren sehr, sehr selten ist, lieben. Ja, warum nicht? Man sollte doch auch stets sagen, was einem auf dem Herzen liegt. Das würde ebenso viele Konflikte vermeiden, denn kein Mensch kann in den anderen hineinschauen. Das „Gefallen-wollen“ und „In-sich-hinein-fressen“ hat noch niemandem weiter gebracht. Ohne dies würde die Menschenwelt auch ein bisschen besser aussehen.

Fortsetzung folgt...
 
Irgendwann in den frühen 19iger Jahren – oder war es später oder vielleicht noch früher? Sybille verwechselt schon so viel und setzt erlebte Ereignisse gedanklich oftmals in ganz falsche Jahrzehnte. Aber was macht das schon? Die Menschen und ihre Welt war und ist doch immer dieselbe, auch wenn es so ist, dass sich alles ständig verändert und nichts so bleibt wie es ist. Das weiß auch die kleine Hexe sehr gut, weshalb sie sich wünscht, es müsste sich ja nicht alles immer so schnell verändern.

Also, irgendwann machte sie Bekanntschaft mit einer jungen Frau, die vor Phantasie nur so sprühte, als wäre sie eine Hexe mit der Gabe, in andere Welten zu blicken und sogar in andere Welten zu gehen. Auf jeden Fall war es die Zeit, als erstmals über das Phänomen „Parapsychologie“ geschrieben und in vereinzelten Kreisen auch darüber gesprochen wurde. Und diese junge Frau behauptete felsenfest, sie könne in andere Welten blicken und mit Toten oder anderen Wesenheiten sprechen. Sybille erkundigte sich sogar bei einer in der Nähe liegenden (geheimen) Hexenvereinigung, ob da nicht eine Hexe vergessen wurde, aber es stand fest – ihre neue Bekannte war doch nur ein gewöhnlicher Mensch mit enorm viel Phantasie. So nutzlos war diese Frau dann gar nicht, denn mit ihrem besonderen Weitblick und den illustren Kreisen, in denen sie verkehrte, verhalf sie so manchem Künstler, wie auch Wissenschaftler zu Höchstleistungen, wie es die kleine Hexe oftmals tat.

Kurz darauf traf Sybille auf eine Hexe, die wirklich in andere Welten blicken konnte und machte sie auf ihre Bekannte aufmerksam, die sofort feststellte, dass jene Bekannte dieser Gabe zwar sehr nahe, aber dennoch sehr weit entfernt davon war. Es war eine seltsame Wortwahl, aber irgendwie verstand die kleine Hexe, was die andere Hexe meinte.

Es gibt von allem ein Gegenteil, wie eben die zwei Seiten einer Medaille. Und zwischen diesen beiden Seiten liegt die Welt. Manche Menschen liegen sogar in der Mitte dieser beiden Seiten, andere wieder tendieren mehr zu dieser und andere mehr zu jener Seite. Aber kaum gibt es Menschen, die nur und ständig zu einer Seite neigen. Bei Hexen war dies anders. Da gab und gibt es nur ein Entweder-Oder. Man bemerkt dies schon in den Hexenschulen. Aber man bemerkt es urteilslos, denn wie eine Hexe oder ein Hexer beschaffen war/ist, so war/ist sie/er nun mal. Es ließ und lässt sich nicht ändern. Das war und ist nun mal der Lauf des Lebens. Bei Menschen ist es kaum anders. Wenn sie eine so genannte böse Tat vollbringen, lässt sich das nicht mehr ändern. Sybille war nicht für Strafen, da sie meinte und noch immer meint, es würde an den Menschen nichts ändern und derartige Taten lassen sich nie verhindern. Man nimmt nur dem Volk etwas, indem man solche Menschen auf ihre Kosten einsperrt und durchfüttert. Und außerdem, was vor allem für Sybille zählt, sind Menschen nicht immer böse und zu Straftaten fähig, da sie gleichzeitig auch zur anderen Seite, der Guten, neigen. Schon deshalb müssten sie frei von allen Verurteilungen sein.

Die kleine Hexe hat in manchen Dingen sehr radikale und gewöhnungsbedürftige Ansichten. So sind Hexen und Hexer nun mal.

Nun aber zurück zu der anderen Hexe und der Bekannten von Sybille. Wie erkannte die andere Hexe, dass die Bekannte nicht wirklich in andere Welten blicken und manchmal mit Verstorbenen sprechen konnte? Erstmal kann kein Mensch und nur sehr, sehr selten Hexen mit Verstorbenen sprechen, sondern eventuell mit den zurück gelassenen Gefühlen (die vermeintlich von den Menschen „Geister“ genannt werden), die sie zurück lassen. Es gab zwar einmal eine Hexe, die ihre geistige Frequenz so enorm erhöhen konnte, dass sie bis ins so genannte Jenseits blicken konnte. Aber das nahm fast 100 Jahre ihres Lebens in Anspruch, was nicht heißt, dass es so lange dauerte, bis sie ins Jenseits blicken konnte, sondern es, dass sie in diesem Moment, als sie ins Jenseits blickte, 100 Jahre älter wurde. Wir kommen früher oder später alle mal dorthin, also macht das echt keinen Sinn, schon vorher mal einen Besuch abzustatten. Aber was macht schon Sinn auf einen langen Zeitraum hin gesehen? In 100 Jahren ist alles vorbei – wie ein Menschensprichwort so schön sagt.

Es geht also um geistige Frequenz, die sich erhöhen und erniedrigen lässt. Sybille macht auch so etwas ähnliches, wenn sie mit Tieren kommuniziert. Immerhin leben Tiere in anderen Welten als Menschen und damit ist nicht die Umgebung gemeint, sondern die Wahrnehmung, wie auch das Bewusstsein. Deshalb könnte Sybille auch nie erklären, was bei einer Kommunikation mit Tieren herauskommt. Als sie erstmals im Kino einem Zeichentrickfilm sah, in dem Tiere sprechen, bekam sie einen Lachanfall und musste das Kino frühzeitig verlassen. Es ist ganz klar, dass Menschen alles vermenschlichen. Es ist ihre Welt, aus der sie nicht heraus können. Aber dafür gibt es Hexen und durch die Steuerung der Frequenz ist es ihnen alles Mögliche möglich.

Sybille fragte, ob ihre Bekannte dies vielleicht lernen kann, wenn doch ihre Phantasie schon so enorm gesteigert ist. Auch das ist unmöglich. Mensch wird immer Mensch bleiben und als Hexe kann man nur geboren werden.
 
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Die kleine Hexe bemerkte oft, dass sich Menschen untereinander nicht immer verstehen, was nichts mit Streit zu tun hat. Es geht dabei viel mehr darum, was einst ihr Freund und lieber Bekannte, der Geisteswissenschaftler (damals um 1820 nannte Sybille ihn so) Arthur Schopenhauer, den sie während einer seiner Reisen kennen lernte, so richtig feststellte: „Bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer eigenen Welt.“ Kein Mensch kann einem anderen wirklich klar machen, was und wie er fühlt, wenn er eine schöne Musik hört oder ein ihn berührendes Gedicht liest. Arthur, einer der wenigen, der wirklich selbst alles in sich hatte, ohne Sybille auszufragen, hat ebenso richtig festgestellt, dass nicht nur das Universum ständig auseinander driftet, sondern sich auch die Geister immer weiter voneinander entfernen, was jedoch nicht sein müsste, wenn sie ihre Aufmerksamkeit mehr nach Innen statt nach Außen richten würden.

Vielleicht regierte einmal wirklich das Goldene Zeitalter, in dem noch alles Eins war und im Silbernen Zeitalter das eine Ich ein Du gegenüber hatte, bis es schließlich einmal so weit sein wird, wie beim Turmbau zu Babel, wo niemand mehr den anderen versteht.

Sybille fühlt das in der heutigen Zeit immer mehr und es betrifft nicht nur die Menschheit, sondern auch die Hexenwesen. In den letzten sechzig oder siebzig Jahren wurden keine Hexen mit Gaben mehr unterrichtet, weil ihre Kräfte einfach zu wenig waren und sie viel mehr ihren menschlichen Eltern glichen. Es gab auch immer weniger Hexen und deshalb auch immer weniger Schulen und Einrichtungen.

Die kleine Hexe wischt sich über die Stirn. Sie denkt viel lieber an die alten Zeiten als an heute. Es hat sich alles viel zu schnell verändert. Über die heutige Zeit hat sie nur ein schönes Erlebnis, als sie in der Nachbarstadt lebte. Dort lief ihr einmal ein Hund zu. Es war ein schöner, großer Schäferhund, mit Marke an seinem Halsband und extra noch ein Tuch darüber, das ihn als Blindenhund auszeichnete. Es ist fast ein Wunder, wie Menschen es fertig bringen, Tiere zu dressieren, wo doch beide so unterschiedlich wahrnehmen, als würden beide je in einer anderen Welt existieren. Es liegt nicht an den Menschen, sondern an den Tieren, dass sie diese Befehle verstehen. Auch wenn der Mensch glaubt, der „Klügere“ zu sein, ist er es in diesem Fall eher nicht.

Der Blindenhund wurde einige Jahre lang Sybilles Freund. Er suchte um Hilfe, da sein so genanntes Herrl in Ohnmacht gefallen war. Er brachte die kleine Hexe zu ihm, die sofort erste Hilfe leistete und schon war alles in Ordnung. Der blinde Mann und Sybille wurden zwar auch Freunde, aber ein viel dickerer Freund war ihr Jefferson, so der Name des klugen Tieres. Natürlich hätte jeder Mensch erkannt, dass Jeff (so wurde er üblich gerufen) ihn wohin führen will, aber Sybille erkannte es bereits beim ersten Blick, den sich beide zuwarfen.

Wie schon erwähnt, hatte die kleine Hexe viel mehr tierische Freunde und ließ sich nur selten auf eine Freundschaft oder gar engere Beziehung (was bei Hexen, nicht mal untereinander, nie der Fall ist) ein. Eben fällt ihr auch die Freundschaft zu einem Wildpferd ein, als sie nach Übersee ging und kurz bei einem netten Indianerstamm leben durfte. Aber das ist schon so lange her.

Jetzt ist Jamie dran. Sie muss rüber zur Nachbarin und diese bitten, Jamie bei ihr zu lassen, um ihm nicht seine gewohnte Umgebung zu rauben. Nur ein kleines Nickerchen, da sie plötzlich so müde ist. Zu müde zum aufstehen und zur Couch zu schlurfen, wie sie es seit einigen Tagen nachmittags immer tat. Noch ein letzter Blick zur Wiese, aus der Jamie immer zu ihr ans Fenster kommt. Sybille seufzt noch einmal tief, dann fallen ihr die Augen zu.
 
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