Eine Erinnerung

S

Sayalla

Guest
Liebe Dorothea

Es ist schon viele, viele Jahre her, da unserer beide Wege sich kreuzten.
Ich war damals 11, du erst 14 Jahre alt. Wir mochten uns auf Anhieb.
Ja, du selbst wusstest darum, dass dein Äusseres die Leute verschreckt hat, so ausgemergelt wie du warst, nur noch Haut und Knochen und dazu diese übergrosse Brille, die mich immer an Nana Mouskuri erinnerte. Weisst du noch? Das sagte ich dir doch immer. Um deine braunen, langen Locken habe ich dich beneidet, aber das habe ich dir nie gesagt.
Ich erinnere mich grad daran, dass du mich dazu gerufen hast, als deine Eltern dich besuchen durften. Wir anderen Kinder bekamen in dieser Klinik keinen Besuch, du warst eine traurige Ausnahme.
Du hast dich diese 300 m bis zum Schulgebäude geschleppt, um deiner weinenden Mutter zu erzählen, wieviel Spass dir die Schule hier macht und wie nett alle sind. Und ich musste das bestätigen, was ich auch pflichtschuldigst tat. Es war gelogen, du gingst in keine Schule mehr, aber deine Eltern sollten das glauben.
Ich habe damals gelernt, einen Husten, der locker wird, von einem festen zu unterschieden... und dass diese Unterscheidung mitunter nur temporär zusammenhängt und manchmal sogar bedeutlungslos ist.
In guten Phasen hast du so gern erzählt. Du sagtest dann oft, du würdest gern soviel erzählen, immerzu plappern, aber dass das eben oft nicht geht.
was du nie gesagt hast, ist, dass du dich gern mal verlieben wollen würdest, dass du vllt. sogar einmal Kinder haben möchtest. Nichts dergleichen kam je über deine Lippen, was mich hätte traurig machen können.
Und dann erinnere ich mich daran, mit deinem Arzt hinter dem Haus gestanden zu haben. Niemand durfte mehr zu dir. "Du bist sediert", erklärte er mir... ich lernte sehr schnell, was das bedeutet. Der Arzt sass nun müde auf dem Baumstamm und rauchte. Es war ein kalter, nasser Tag im Dezember. Das letzte Laub lag noch trostlos in den Ecken, während er seine Ringe in die windstille Luft pustete.
2 Tage später gab es dich nicht mehr.
Ich schreibe dies heute, weil ich dir unbedingt mal sagen muss, dass ich noch heute manchmal an dich denke.
Liebe Freundin, ich habe dich nie vergessen.
:liebe1:
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Werbung:
Liebe Dorothea

Es ist schon viele, viele Jahre her, da unserer beide Wege sich kreuzten.
Ich war damals 11, du erst 14 Jahre alt. Wir mochten uns auf Anhieb.
Ja, du selbst wusstest darum, dass dein Äusseres die Leute verschreckt hat, so ausgemergelt wie du warst, nur noch Haut und Knochen und dazu diese übergrosse Brille, die mich immer an Nana Mouskuri erinnerte. Weisst du noch? Das sagte ich dir doch immer. Um deine braunen, langen Locken habe ich dich beneidet, aber das habe ich dir nie gesagt.
Ich erinnere mich grad daran, dass du mich dazu gerufen hast, als deine Eltern dich besuchen durften. Wir anderen Kinder bekamen in dieser Klinik keinen Besuch, du warst eine traurige Ausnahme.
Du hast dich diese 300 m bis zum Schulgebäude geschleppt, um deiner weinenden Mutter zu erzählen, wieviel Spass dir die Schule hier macht und wie nett alle sind. Und ich musste das bestätigen, was ich auch pflichtschuldigst tat. Es war gelogen, du gingst in keine Schule mehr, aber deine Eltern sollten das glauben.
Ich habe damals gelernt, einen Husten, der locker wird, von einem festen zu unterschieden... und dass diese Unterscheidung mitunter nur temporär zusammenhängt und manchmal sogar bedeutlungslos ist.
In guten Phasen hast du so gern erzählt. Du sagtest dann oft, du würdest gern soviel erzählen, immerzu plappern, aber dass das eben oft nicht geht.
was du nie gesagt hast, ist, dass du dich gern mal verlieben wollen würdest, dass du vllt. sogar einmal Kinder haben möchtest. Nichts dergleichen kam je über deine Lippen, was mich hätte traurig machen können.
Und dann erinnere ich mich daran, mit deinem Arzt hinter dem Haus gestanden zu haben. Niemand durfte mehr zu dir. "Du bist sediert", erklärte er mir... ich lernte sehr schnell, was das bedeutet. Der Arzt sass nun müde auf dem Baumstamm und rauchte. Es war ein kalter, nasser Tag im Dezember. Das letzte Laub lag noch trostlos in den Ecken, während er seine Ringe in die windstille Luft pustete.
2 Tage später gab es dich nicht mehr.
Ich schreibe dies heute, weil ich dir unbedingt mal sagen muss, dass ich noch heute manchmal an dich denke.
Liebe Freundin, ich habe dich nie vergessen.
:liebe1:
 
Werbung:
Zurück
Oben