Der andere Staat (Science Fiction)

Anthum

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Der andere Staat
(Anthum)

Der gepflegte ältere Herr sah mit zwei seiner Augen aus dem Fenster, beobachtete beinahe träumerisch die Sterne. Vier weitere Facettenaugen musterten weiterhin konzentriert das Fundstück, und nahezu alle der übrigen Augen waren auf seinen Besucher gerichtet.

„Sie wollten mit mir über das aktuelle Artefakt sprechen? Die goldene Himmelsscheibe?“, fragte er.​
„Himmelsscheibe? Sie meinen, Exhibit 138 beta?“
„Ja, natürlich. Entschuldigen Sie, ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, den wichtigsten Fundstücken eine ziffernlose Alltagskennung für mich zu geben.“
„Sie meinen, Sie haben die Scheibe umbenannt? Aber das ist mit der Struktur nicht abgesprochen gewesen! Haben Sie dafür eine Genehmigung?“ Der Besucher holte ein elektronisches Notizgerät aus der Tasche und speicherte darin irgendetwas ab.

„Nein, bitte, das war doch nur Spaß. Natürlich habe ich die Scheibe nicht umbenannt.“ Der Wissenschaftler verfärbte sich von einem satten Schwarz in ein mattes Rostrot.
„Ein Missverständnis?“
„Ja, genau, Herr Formiculus. Ein Missverständnis. Ich würde es mir natürlich nie erlauben, von der allgemein üblichen Terminologie abzuweichen.“ Während er das sagte, betrachtete der Wissenschaftler immer wieder verstohlen die goldene Scheibe, die vor ihm auf der Arbeitsfläche lag. Auf der Rückseite, das wusste er, hatte diese rätselhafte Bildzeichnungen, aber im Moment konnte er nur ein gleichmäßiges Muster aus konzentrischen Kreisen sehen, das ihn beinahe zu hypnotisieren schien. „Sie wollten mich sprechen?“
„Ja, es geht um Ihren neuesten Artikel, Herr Nediken. Sie stellen da einige sehr gewagte Behauptungen auf.“
„Sie meinen, über Exhibit 138 beta als Datenspeicher?“
„Ganz genau. Hier schreiben Sie, dass Sie der Meinung sind, die Scheibe sei tatsächlich ein Datenspeicher und enthielte Bilder.“
„Ja, digital codiert, als Bewegtbilder, allerdings nur mit etwa 24 Bildern pro Sekunde.“
„Und was soll daran bewegt sein? Da ist ja meine Großtante noch schneller, wenn sie zu einem Honigtropfen läuft.“

Der Wissenschaftler öffnete ein kleines Schrankfach. „Erlauben Sie? Ein Modell.“​
„Sie haben ein Modell erstellt, ohne dafür die Genehmigung einzuholen?“
„Nein, natürlich nicht, das liegt mir fern. Ich halte mich immer ganz genau an die etablierten Konventionen. Es ist ein älteres Modell, das ich schon vor etwa 30 Jahren benutzt habe. Aber möglicherweise lässt es sich auch auf dieses Fundstück anwenden.“
In einer kleinen Box lag modellierter Ton, der ein vollkommen missgestaltetes Wesen zeigte, wie man es auf dem ganzen Planeten nirgends finden konnte und wie es nur der kranken Phantasie nicht ausreichend ausgelasteter Hobbywissenschaftler entspringen konnte. Das Wesen, was auch immer das sein sollte, hatte nur vier Beine, zwei größere und zwei kleinere. Augen konnte man überhaupt keine erkennen, außer, man ließ diese zwei winzigen Frontsensoren als Augen gelten.

„Was soll das sein? Ein Blindmolch? Haben Sie das in einer Höhle gefunden?“​
„Nein. Ich habe als Kind davon geträumt. Der Traum kehrte immer wieder, beinahe jede Nacht.“
„Geträumt?!“
„Ich habe das Wesen aus meinen Träumen modelliert. Aus dem Ton, in dem wir unsere Vorräte lagern.“
Nun besah sich der Besucher die Figur, die vor ihm lag, genauer. „Wann sagten Sie, war das?“ „Vor etwa 30 Jahren.“ „Haben Sie dafür einen Zeitcode generiert?“ „Natürlich. Ich war damals zwar noch jung, aber doch schon Wissenschaftler.“

Der Zeitcode war einwandfrei, da konnte man nichts sagen. Das deformierte Wesen aus Ton war vor etwa 30 Jahren modelliert worden. Und nun sah ihnen von der goldenen Platte, die vor ihnen auf der Arbeitsfläche lag, ein ebensolches Wesen entgegen. Genau genommen sogar zwei, die einander sehr ähnlich waren.

„Wissen Sie“, sagte Nediken, „ich dachte mir, wenn das ein tatsächlich existierendes Wesen ist, vielleicht kann es dann mit seinen winzigen Augen nicht so gut sehen wie wir.“​
„Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt. Kindheitsträume existieren nicht! Das lernt man doch schon vor der Metamorphose.“
„Dieser Traum war damals hartnäckig. Der kam immer wieder. Und sehen Sie nur die Ähnlichkeit! Hier meine Figur, und da die goldene Platte.“
„Also gut, also gut. Die Platte von der letzten extraplanetaren Expedition sieht so aus wie Ihr Traum. Und was weiter? Was beweist das?“
„Ich dachte mir …“
„Ja? Sie haben mich doch gerufen. Was dachten Sie denn?“
„Wissen Sie, es könnte doch sein, dass dieses Wesen da intelligent ist.“
„Blödsinn. Sollten Sie sich nicht lieber mit der echten Wissenschaft beschäftigen.“
Nediken sah zu Boden, lief mit seinen unteren Beinen einen engen Kreis, setzte sich dann wieder.
„Herr Formiculus, ich wollte die Genehmigung einholen, diese Platte hier mit 33 1/3 Umdrehungen pro Minute abzuspielen.“
„Und möchten Sie dabei vielleicht auch noch auf vier Beinchen steppen und mit den anderen in die Hände klatschen?“
„Wirklich. Ich vermute, man könnte auf dieser Platte dann vielleicht etwas erkennen.“
„Lassen Sie mich das kurz zusammenfassen. Sie nehmen diese Platte hier. Drehen sie jede Minute 33 1/3 Mal. Natürlich ohne sie dabei fallen zu lassen. Und gleichzeitig sehen Sie sich 24 Bilder pro Minute an. So weit richtig?“
„Ja, genau.“
„Und dabei stellen Sie sich natürlich vor, die Bilder wären bewegt. Einen Moment bitte. Ich kontaktiere die Struktur.“

Es dauerte nur zwei Minuten, bis die Antwort kam.​
„Erlaubnis verweigert. Es ist nach derzeitigem Wissensstand undenkbar, dass eine intelligente Spezies gleichzeitig etwas ins Weltall entlassen kann und Bilder dabei so langsam verarbeitet, dass sie 24 Bilder pro Sekunde als bewegt empfindet. Eine derart geringe optische Verarbeitungsgeschwindigkeit lässt allgemein auf zu langsame Denkmuster schließen. Nach unseren Berechnung würde es mehrere hundert Jahre dauern, sich so auch nur die grundlegendsten kosmologischen Gesetzmäßigkeiten anzueignen. Kein intelligentes Wesen würde …“
„Ja, aber …“
„Nein, Herr Nediken. Diese Platte bleibt im Museum. Bitte fahren Sie fort mit ihrer Chronik über die Metamorphosen zur Zeit des letzten Sonnensturms. Einen schönen Tag noch, und viel Honig.“

„Einen schönen Tag, und viel Honig.“ Das sagte der Wissenschaftler zwar, aber der Geschmack, an den er sich in diesen Augenblicken erinnerte, war kein Honig. Sein primäres Nervensystem dachte an den Geschmack zu lange gelagerter Pilze. Einen letzten Blick konnte er noch auf die goldene Scheibe werfen, dann packte Formiculus diese sorgfältig ein und nahm sie mit ins Museum.​
 
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