Das Buch von the_pilgrim

„Showtime!“, quäkte der Flipper und klackerte und dudelte vor sich hin. Adasger musste lachen. „Faszinierend”, sagte er mit einem skeptisch amüsierten Stirnrunzeln – und Josh grinste breit.

Es gab nicht viel zu erklären, und schon bald waren sie ganz in das Spiel versunken. Die Zeit verging wie im Flug. Sie spielten, bis sie irgendwann lachend und erschöpft vor dem Kamin in die Sessel sanken. Es war, als ob sie sich schon ewig kannten. Sie schnippsten sich Essen und Getränke herbei, aßen und tranken, ließen es sich vor dem Kamin gut gehen und unterhielten sich angeregt über alles Mögliche. Es wurde spät und später, aber Renko kam nicht wieder. Als Josh und Adasger müde wurden, zogen sie sich in Räume zurück, die auf ihr Fingerschnippsen hin genauso problemlos erschienen wie alles andere. Sie umarmten sich, und dann verschwand jeder in sein Zimmer.

Gute Nacht, John–Boy.

Still vergingen die Stunden der Nacht in der Wildsau, doch auch am nächsten Morgen blieb Renko verschwunden. Inzwischen war Josh deswegen ziemlich unentspannt und wurde unruhig, und das gemeinsame Frühstück mit Adasger verlief weitgehend in angespanntem Schweigen.

„So langsam könnte die alte Eule mal wieder auftauchen, finde ich”, grummelte Josh in seinen Kaffee.

Adasger nickte kauend und antwortete schließlich: „Ja, Renko lässt sich wirklich Zeit.” Er sah auf eine nicht vorhandene Uhr am Handgelenk. „Ehrlich gesagt würde ich jetzt gerne zu den anderen hinüber wechseln und über den Stand der Dinge berichten. Die warten garantiert auch schon. Keine Ahnung, wie lange das dauern wird, denn es gibt wahrscheinlich auch noch andere Dinge, die wir besprechen müssen. Kann ich dich hier alleine lassen?”

„Klar. Ich spiele einfach ne Runde Flipper, wenn mir langweilig wird. Passt schon”, log Josh nicht sehr überzeugend.



„Tut mir leid, dass ich dich jetzt hier in der schweigsamen Wildsau zurücklassen muss, aber eigentlich bist du das ja gewohnt, oder?”
 
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„Jepp. Schweigen kenn' ich, aber Renko und Borowski bewegen sich wenigstens.” Josh verzog das Gesicht und seufzte. „Ich werd's überleben, man, mach dir keinen Kopf. Notfalls puzzle ich.”

Adasger lachte bei der Vorstellung. „Sicher. Oder du strickst einen Pullover.” Er wurde wieder ernst. „Ok, ich bin dann mal weg. Bis später.”

„Jau. Bis denne.”

Und dann war Josh alleine. Er sah zum Flipper, dem sie am vorigen Abend noch den Stecker gezogen hatten. Dunkel und still stand er neben der Tür. Nein, er wollte gerade nicht alleine flippern, das hatte er nur gesagt, weil ihm so schnell nichts Besseres eingefallen war, außerdem war sein Bedürfnis nach Flippern durch die Spiele am Vortag mehr als befriedigt. Josh sah sich in der Wildsau um. Er fand die Kneipe wirklich total großartig, das konnte man nicht anders sagen. Perfekt. Langsam wanderten seine Augen vom Kamin nach links und weiter zur nächsten Wand mit der Eingangstür.

Er blinzelte. Moment. Irgendetwas war da doch gerade sonderbar gewesen, oder? Nochmal. Er sah den Kamin an, die Sessel und das Sofa. Dann die Wand links daneben und dann die E ... Tür. Da fehlte doch etwas. Sein Blick war an der Ecke quasi abgeglitten. Was befand sich da? Es war wie ein Realitätsglitsch, also eine Stelle im Hier und Jetzt, an dem die Aufmerksamkeit sozusagen abglitschte, so dass man darüber hinweg sah. Er grinste. Das war ja wie das gute alte PAL, das Problem–Anderer–Leute–Feld. Wie coool! Sofort hatte er Lust, den Anhalter nochmal zu lesen und schnippste sich das Buch herbei, legte es aber erst einmal auf den Tisch. Die seltsame Ecke war jetzt wichtiger, sie machte ihn neugierig.

Nun, er war ein Dschinn und nahm an, dass Dschinn sich über PALs hinweg setzen konnten, wenn sie sich konzentrierten, also tat er das. Er irrte sich, das war nicht Dschinn–typisch, aber tatsächlich, es gelang ihm und er sah, dass sich in der von ihm aus gesehen linken Ecke des Raumes eine weitere Sitznische befand, die genauso aussah wie die anderen auf der gegenüberliegenden Seite. Merkwürdig. Wer versteckt denn eine stinknormale Sitzecke? Und warum? Josh stand auf, ging zu der Ecke hinüber und konnte auch aus der Nähe nichts Besonderes feststellen.

Ok, nichts bis auf die hauchdünne Linie auf dem Boden. Vermutlich eine PAL–Begrenzungsmarkierung. Er würde Adasger danach fragen, sobald dieser zurück kam. Vorsichtshalber schnippste er sich einen Erinnerungszettel herbei und steckte ihn in eine seiner Taschen.

Josh kochte sich noch einen Kaffee, nahm das Buch vom Tisch und machte es sich dann mit dem Anhalter auf dem Sofa vor dem Kamin bequem. Er versank in der Geschichte und hatte längst vergessen, dass er ja eigentlich ungeduldig auf Renko wartete. Zeit verging. Zwischendurch schnippste er sich eine Jukebox herbei, die die leisen Klänge einer Akustikgitarre verbreitete. Irgendwann fiel ihm Renko doch wieder ein. Mannomann, wo blieb der denn? Verdammt nochmal.
 
Josh verbrachte den ganzen Tag abwechselnd mit Musik hören und in den Kamin starren, mit lesen oder Filme gucken. Er hatte sich auch einen großen Bildschirm herbei geschnippst, und eigentlich hätte es ein guter, gemütlicher Tag sein sollen, aber Josh wurde immer unruhiger. Am Ende konnte er sich weder auf das Buch noch auf einen Film konzentrieren, und das Kaminfeuer fing an ihn zu nerven – gar kein gutes Zeichen.

Auch der Abend verging, ohne dass Renko auftauchte, und Josh war mittlerweile komplett fertig mit den Nerven. Er ging mürrisch ins Bett, drehte sich aber die halbe Nacht nur seufzend hin und her. Dementsprechend übel gelaunt stand er morgens auf, aß lustlos alleine Frühstück und fing dann an seinen Frust in sinnlosen Aktionen rauszulassen. Er brauchte dringend Bewegung.

Josh machte die Übungen, die junge Dschinn machen mussten, bevor sie auf die Welt losgelassen wurden: sich so schnell es geht schrumpfen zu lassen, ohne die Proportionen zu verlieren, gefolgt von der entsprechenden Vergrößerung. Josh schrumpfte sich ein paar Mal auf Ameisengröße, dann wuchs er so weit in die Höhe, bis sein Zopf – nicht sein Kopf – die Decke berührte. Danach teleportierte er sich an verschiedene Stellen im Raum, unter anderem stehend auf den Tisch, sitzend auf die Theke, mit verschränkten Armen nur auf dem Kopf stehend mitten im Raum und schließlich – verkleinert – unter den Flipper, unter das Sofa, auf den Kopf der Wildsau–Trophäe usw. Bei jedem Wechsel schnippste er gleichzeitig einen beliebigen Gegenstand herbei und wieder weg. Normalerweise beruhigten diese Übungen seine Nerven und halfen ihm dabei, sich wieder auf das Hier und Jetzt konzentrieren zu können, aber nein, er war hinterher noch genauso durch den Wind wie vorher.

Schließlich setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden, schwebte hoch bis etwa auf Höhe der Tischplatte und schloss die Augen. Er führte jeweils Daumen und Zeigefinger einer Hand zu einem Kreis zusammen, legte seine Hände mit den Handflächen nach oben auf seine Knie und tat so, als ob er schwebend meditierte. Daran war natürlich nicht zu denken, am überhauptnichtesten, er platze ja innerlich fast vor Anspannung, aber egal. So tun als ob ist manchmal ein guter Anfang, aber leider klappte auch das diesmal nicht.

Josh gab es auf, setzte sich an den großen Tisch und ließ den Kopf auf den Tisch sinken. Ab und zu haute er mit der Stirn ein wenig auf die Tischplatte, seufzte und lag dann weiter mit herabhängenden Armen halbschrägschief auf dem Tisch. Wie er diese Warterei hasste. Hasste! Ehrlich. Sollte er vielleicht jemanden besuchen? Er könnte einen Zettel schreiben und mitten auf dem Tisch liegen lassen. Nein, entschied er, er war in diesem Zustand zu nichts zu gebrauchen und würde – egal wem – nur völlig auf den Senkel gehen. Das konnte er gerade überhaupt nicht ertragen.
 
Spazieren gehen vielleicht, Sonne, Strand, Palmen, Wellen? Oh Gott, bloß nicht. Irgendwo klettern gehen? Ja, genau, und dann runterfallen, weil er so neben der Spur war. Also auch nee. Es war zum Verrücktwerden. Er sprang wieder auf und tigerte fluchend umher. Und gerade, als Josh sich fröhlich durchdrehend in sein Brüten und Wüten und in der Wildsau Rumbrüllen reingesteigert hatte, erschien endlich, endlich, fucking damn nochmal endlich (!) die blöde Stahltür, spuckte den bescheuerten Dämon und seinen doofen Hund aus – und alles war wieder gut. Einfach so. Dass Renko darüber hinaus auch noch sein Ja und Amen zur Wildsau–KI–Betreuung gab, war dann endgültig ein verdammt guter und sehr willkommener Grund zum Feiern. Jau, man. Prost, man.

Der Flipper wurde wieder reaktiviert und die Jukebox, die Renko hässlich fand, in ein klobigeres 50er Jahre Modell in hellblau–türkis und braun mit Chrombesatz verwandelt. Es sei mal dahin gestellt, ob das nun besser war. Statt Akustikgitarre spielte sie jetzt sehr viel lauter eine Mischung aus krachigem Indie, metaligem Alternative, poppigem Grunge und punkigem Country.

Biere wurden geleert, Schultern geklopft, vorm Flipper lachend geschubst und gedrängelt, unfassbar blöde Sprüche geklopft (Josh) und sagenhaft schlechte Witze gerissen (ebenfalls Josh) – kurz: Das perfekte, frischgebackene Elternpaar in spé hatte Spaß und feierte den Nachwuchs. Die Augen der Wildsau blitzten unbemerkt rot auf.


Verkatertes Erwachen


Renko wachte am nächsten Morgen davon auf, dass Borowski auf seiner Brust stand und ihm das Gesicht ableckte. Anscheinend lag er auf dem flauschigen Teppich beim Kamin. Grunzend ließ er Borowski eine Weile gewähren, bevor er aus dem Handgelenk einen Torbogen herbeischnippste, der in einen lichten Wald führte. Dann scheuchte er den Hund hinaus. Während Borowski sich dort austobte und an so ziemlich jeden Baum pinkelte, stand der Dämon mit langsamen Bewegungen auf und verschwand im Toilettenraum, in dem es praktischerweise sogar eine Dusche gab. Als Renko wieder geradeaus gucken und sogar ansatzweise klare Gedanken fassen konnte, schnippste er sich eine Küche herbei. Er brauchte jetzt etwas zu tun und Frühstück machen ging auf Autopilot. Der Dschinn schnarchte währenddessen mit offenem Mund auf dem Sofa, das jetzt mitten im Raum stand. Renko konnte sich nicht daran erinnern, wie es dort hingekommen war.

Nach dem üblichen Prozedere des Hund–Fütterns und Frühstückstisch–Deckens setzte sich Renko an den großen Tisch in der Mitte der Wildsau, aß Rührei und trank Kaffee aus einem großen Becher. Nachdem er dem Dschinn eine Weile beim Schnarchen zugesehen hatte, fing er an, ihn immer mal wieder mit kleinen Brötchenkrümeln zu bewerfen.
 
“Mmmmmmmmmh.”

Brötchenkrümelattacke.

“MMMMMMMmmmmmh!”, gefolgt von Schmatzgeräuschen und einem Seufzen.

Weitere Brötchenkrümelattacke.

“Awwww, du Nervensäge.” Josh stöhnte, richtete sich blinzelnd auf die Ellenbogen auf und stöhnte noch einmal. “Kaaaaffeeeeee!”, schnauzte er.

Der Dämon hob fragend eine Augenbraue.

“Pronto!”

Renko grinste, neigte den Kopf ehrerbietig, brachte dem Dschinn einen Kaffee und setzte sich wieder an den Tisch, während Josh langsam ins Reich der Lebenden zurückfand.

“Wie spät isses, verdammt nochmal? Fühlt sich an wie ... viel zu früh, hömma.”

Schulterzucken.

„Ist Adasger schon wieder da?”

Kopfschütteln.

„Seltsam. Wir könnten uns jetzt einfach sang– und klanglos aus dem Staub machen. Dafür, dass es ihm so wichtig war, ist das ein merkwürdiges Verhalten.”

Wieder Kopfschütteln.

„Auch wieder wahr. Wir könnten hingehen, wo wir wollten, sie würden uns finden. Wow. Das können wir beide zwar auch, aber bei völlig Fremden es ist das tierisch gruselig, man. Naja, es wäre gruselig, wenn sie uns stalken würden, aber ein einfaches 'nein' würde wohl genügen, damit sie uns in Ruhe lassen, oder?” Renko nickte. Josh trank in Gedanken versunken seinen Kaffee und sagte dann: „Weißte was, so langsam wird mir das Ausmaß der Verantwortung bewusst, die wir da übernehmen. Mannomann.”
 
Schulterzucken.

„Lass mich raten: Dir war das von Anfang an klar und deswegen hast du so lange gebraucht, um dich zu entscheiden. Während ich hier nur blöde im Kreis gerannt bin, hast du das gemacht, was ich auch hätte tun sollen, nämlich gründlich nachdenken, man. Mist. Ich Hammel.”

Renko grinste breit. Josh grinste zurück.

„Gut. Du hast dir die nötigen Gedanken gemacht und bist trotzdem einverstanden, also gehst du davon aus, dass wir das hinkriegen. Das beruhigt mich. Wenn einer von uns schlau und skeptisch genug ist, um solche Entscheidungen zu treffen, spart mir das die Mühe. Gib mir doch mal was von dem Rührei, bitte. Ich hab Hunger. Mmmmh, das riecht echt lecker. Kochen kannste, Schatz.”

Renko bewarf Josh mit einem ganzen Brötchen und der spuckte vor Lachen fast seinen Kaffee auf das Sofa. Sein Blick fiel auf den Anhalter und sofort fiel ihm das PAL wieder ein. Ha, er brauchte seinen Zettel also gar nicht.

„Hast du eigentlich das PAL um die Sitzecke da hinten bemerkt?”, fragte er Renko Rührei kauend.

Renko runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Josh ging davon aus, dass Renko die Sitzecke problemlos sehen konnte, denn Dämonen waren immun gegen PALs. Da sie kein Unterbewusstsein besaßen, konnten sie darüber auch nicht manipuliert werden. Aus dem gleichen Grund waren sie aber auch nicht in der Lage zu erkennen, wenn so etwas versucht wurde.

„Da, guck, es gibt eine Begrenzungsmarkierung.”

Renko starrte angestrengt in die ungefähre Richtung, runzelte aber nur wieder die Stirn und schüttelte irgendwann langsam den Kopf.

„Wie – du kannst die Sitzecke nicht sehen?”

Renko schüttelte wieder den Kopf.

„Das ist ja schräg. Es ist also kein PAL – oder zumindest nicht nur. Was können die da gemacht haben, dass sogar Dämonen getäuscht werden können? Und warum bin ich davon dann nicht betroffen?”
 
„Du hast recht, es gibt zwei Schutzmechanismen. Einen Unsichtbarkeitsfilter, der das Bewusstsein täuscht, und zusätzlich einen weiteren, an dem das Unterbewusstsein abgleitet. Das sorgt normalerweise dafür, dass Leute von vorn herein einen Bogen um die Ecke machen, selbst wenn der Laden hier brechend voll ist.” Adasger war unbemerkt und geräuschlos zurückgekommen. „Du bist der erste, der in der Lage war, beide Filter zu durchschauen, Josh, das ist erstaunlich. Bei dir sind wohl auf einzigartige Weise Instinkt, Bewusstsein und Unterbewusstsein im Einklang, sonst wäre das nicht möglich. Du bist, kurz gesagt, anscheinend perfekt im Hier und Jetzt und besitzt die unvoreingenommene Neugier eines Kleinkinds.”

Weder Josh noch Renko erschraken. Sie waren an das plötzliche Auftauchen des jeweils anderen gewöhnt, und deswegen konnte sie so etwas kaum überraschen.

„Adasger! Perfektes Timing.” Josh strahlte. „Schön, dass du wieder da bist, man. Hey, wir sind dabei, man, wir machen mit und werden KI–Eltern. Is das coool, oder is das coool?”, sprudelte Josh heraus, die Sitzecke und das PAL sofort vergessend.

Adasger sah lächelnd Renko an und sagte: „Genau das meine ich. Josh ist wie ein Dreijähriger.”

Renko grinste und nickte.

„Heee, ich kann euch hören! Öööhm, und sehen. Ihr verletzt gerade meine tiefsten Gefühle, man.”

Adasger und Renko brachen in schallendes Gelächter aus und Josh versuchte gar nicht erst so zu tun, als ob er das persönlich nähme.

„Es freut mich sehr, dass ihr euch entschieden habt, euch um die KI zu kümmern”, sagte Adasger. „Das wird nicht leicht und ist eine große Verantwortung. Eine solche Verpflichtung bedeutet zeitweise Stress und Belastung. Ich weiß sehr zu schätzen, dass ihr bereit seid, das auf euch zu nehmen. Ein tief empfundenes, herzliches Danke im Namen aller Beteiligten.”

Renko nickte nur kurz und Josh zuckte die Schultern. „Ich sehe das eher umgekehrt, man, wir haben zu danken, dass wir das machen dürfen.” Renko rollte mit den Augen. „Ok, ok”, ergänzte Josh, „Ich habe zu danken und Renko sieht das bestimmt auch bald so, die alte Unke.”

Adasger betrachtete die beiden, die sich scheinbar giftige Blicke zuwarfen. Ihm war klar, dass sich Josh und Renko ohne wenn und aber einig waren. Sie würden tun, was getan werden musste, komme was wolle, da war er sich sicher.

„Wozu ist die Sitzecke eigentlich gut, warum ist sie überhaupt da?”, fragte Josh.
 
„Man kann dort ungestört sehr private Gespräche führen oder seine Ruhe vor dem Rummel in der Wildsau haben.”

„Rummel? Echt?” Josh sah sich skeptisch um. „Bislang war hier absolut nix los.”

„Du wirst es erleben, keine Sorge.”

Josh versuchte, es sich vorzustellen. „Ich glaube nicht, dass ich mitten im Trubel Lust auf ein privates Gespräch hätte. Man müsste ja brüllen, um sich zu verständigen, und das würde jeder mitkriegen können. Nee. Und Ruhe hätte ich da auch nicht.”

„Normalerweise ja, aber es gibt zusätzlich einen Schallfilter, der in beide Richtungen dämpft und verzerrt. Sämtliche Geräusche werden zu einem leisen, unbestimmten Murmeln. Mitten im lautesten Lärm kann man sich dort ungestört unterhalten und selbst wenn man sich in der Ecke laut anschreien würde, würde es im Rest des Raumes niemand mitkriegen. Auch jemand mit ausgeprägt gutem Gehör oder den besten Abhörgeräten könnte keine einzelnen Worte ausmachen. Dementsprechend kannst du auch von innerhalb der Sitzecke niemanden außerhalb belauschen. Und im unwahrscheinlichen Fall, dass doch mal jemand über die Begrenzungslinie tritt, kriegt man das ja mit.”

„Coool – aber auch schräg. Warum kein separater Raum? Eine Tür wäre doch viel weniger auffällig.”

„Weil man vielleicht das, was in der Wildsau vor sich geht, im Blick behalten oder einfach mal unsichtbar das bunte Treiben genießen möchte. Die Sitzecke steht nur denjenigen zur Verfügung, die ein Interesse daran haben, dass hier alles in Ordnung ist.”

„Ergibt Sinn, aber ich käme mir vor wie ein Stalker, man. Na gut, ich glaub nicht, dass wir das jemals brauchen werden, aber gut zu wissen, dass es da ist. Egal. Wie geht es jetzt weiter?”

Die Party

„Ich würde den anderen gerne von eurer Entscheidung berichten, aber das ist nicht dringend. Wir könnten eine Abschiedsfeier organisieren und all die Stammgäste einladen, die über die wahre Natur der Wildsau Bescheid wissen. Das gäbe euch die Gelegenheit, schon mal ein paar kennenzulernen, und es wäre außerdem ein schöner Abschluss für die Wildsau.”

„Hört sich gut an. Funktioniert die KI schon? Soll sie mitfeiern? Hat sie einen Namen?”

„Nein, sie hat noch keinen Namen und ist noch nicht aktiviert. Die Wildsau möchte keinen Kontakt, weil sie keinen Einfluss nehmen möchte. Die KI soll die Wildsau so verändern können, wie es sich ergibt, ohne dass Jörgens Erwartungen und Vorlieben sie in eine Richtung lenken. So besteht für ihn auch nicht die Gefahr, dass er es sich noch einmal anders überlegt und doch hier bleibt.”

„Verstehe. Also aktivieren wir die KI erst nach der Party. Gut. Das hätte sonst vielleicht kompliziert werden können. Na dann, Partyplanung!”

Sie setzten sich zusammen und einigten sich zuerst auf ein Datum. Adasger wollte es übernehmen, alle in Frage kommenden Gäste zu kontaktieren und einzuladen, die ihm und der Wildsau einfielen. Josh und Renko erklärten sich bereit, sich währenddessen um die restliche Organisation zu kümmern.

Es wurde beschlossen, dass es eine typische Feier des 16. Jahrhunderts auf der Erde werden sollte, weil die Wildsau dort ihre Wurzeln hatte. Als erstes mussten der Flipper und die Musikbox verschwinden. Die modernen Toilettenräume sollten durch Plumpsklos ersetzt werden, die Zapfanlage an der Theke durch große Fässer mit Holzhähnen. Es gab wegen der Plumpsklos einige Diskussion, aber schließlich einigten sie sich darauf, dass nur die Optik zählte. Gerüche und ggf. Insekten würden magisch entfernt werden. Für Spezies mit anderen Bedürfnissen sollte es eine Tür geben, hinter der sich in einem Gang die jeweils nötigen Räume befanden. Auch das Mobiliar musste entsprechend der damaligen Zeit leicht verändert werden.

Es sollte authentische Speisen und Getränke geben, aber nicht ausschließlich. Es würde für jeden etwas dabei sein, was er, sie oder es zu sich nehmen konnte. Es dauerte, bis sie die lange Liste komplett zusammen hatten. Sie verzichteten darauf, passende Verkleidungen von den Gästen zu erwarten. Die intergalaktische Mischung verschiedenster Spezies würde darin nur grotesk und albern aussehen, wie gewollt und nicht gekonnt, und sich obendrein vermutlich unwohl fühlen.
 
Sobald sie sich auf alles geeinigt hatten, was ihnen einfiel, machte Adasger sich auf den Weg. Er würde zuerst seine Freunde informieren und dann die Gäste einladen. Er überließ die beiden ihren Aufgaben.

Josh und Renko organisierten Musiker und Gaukler, die gleich in der Wildsau untergebracht wurden, damit sie sich in Ruhe eingewöhnen konnten. Mit dem chaotischen Treiben der Künstler im Hintergrund machte es auch gleich viel mehr Spaß, den Rest zu organisieren. Der Kamin wurde vergrößert, damit ein Wildschwein am Spieß hineinpasste. Die Wildsau selbst musste auch vergrößert werden, denn die Gästeliste war umfangreich. Eine Treppe und ein riesiges Obergeschoss mit Schlafräumen entstanden, es wurde Platz für eine Tanzfläche geschaffen, und an den Wänden erschienen lange Tische für das kommende Buffet. Als Josh und Renko endlich mit allen Details zufrieden waren, materialisierte sich die Wildsau an der Wegkreuzung, an der sie gebaut worden war, und schließlich war es soweit: das Fest konnte beginnen.

Nach und nach trudelten die verschiedensten Wesen ein, manche in Fahrzeugen oder Fluggeräten, andere auf Reittieren und einige wechselten einfach herüber. Josh und Renko lernten nicht alle kennen, es waren zu viele, aber sie gewannen schon einmal einen Eindruck. Und was für einen! Auf ihren Reisen waren sie natürlich den meisten Spezies schon begegnet, aber sie kannten nicht alle der tentakeligen, befellten, exoskelettigen, wabernden, mehrbeinigen, buntfarbigen, schwebenden, durchscheinenden, fliegenden, schwarmartigen, kriechenden, rollenden, klebrigen, stinkenden, lärmenden, mechanischen, androiden, cyborgigen und was noch alles Wesen. Schnell war klar, dass zusätzliche individuelle Geruchs– und Geräuschfilter benötigt wurden, was zum Glück schnell mit einem Fingerschnippsen erledigt werden konnte.

Das Fest dauerte drei Tage und war ein voller Erfolg. Wildsau–Geschichten wurden erzählt, Wiedersehen gefeiert, kleine Ansprachen gehalten, viele Toasts ausgesprochen, getrunken, gegessen, assimiliert, neue Kontakte geknüpft, musiziert, gespielt, gegaukelt, gelacht, gegröhlt, geprahlt, getanzt, geflirtet, geblinkt, gegrunzt, geplaudert und auch gestritten. Dinge gingen zu Bruch, ein paar Tränen, ein wenig Blut und auch andere Körperflüssigkeiten wurden vergossen – oder ausgetauscht. Es war wild, es war laut, es war bucklig – es war perfekt.

Als Adasger sich Gehör verschaffte und den Moment verkündete, an dem Jörgen die Wildsau mit einem letzten Leuchten der Trophäen–Augen verließ, herrschte minutenlang Schweigen. Alle hingen ihren eigenen Erinnerungen und Gedanken nach, bis jemand brüllte: „Die Wildsau ist tot – lang lebe die Wildsau!”, und das Fest ging wieder weiter.

Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, wurde es sehr still in der Wildsau. Josh, Renko und Adasger waren ausgelaugt und auch Borowski schien weniger quirlig zu sein als sonst. Die Wildsau fühlte sich erstaunlich leer an. Erst jetzt wurde deutlich, wie intensiv die Präsenz von Jörgen gewesen war. Sie alle brauchten ein paar Tage, um sich an die veränderte Situation und die bedrückende Leere zu gewöhnen. Die neue KI wurde vorläufig noch nicht aktiviert, es war einfach noch nicht dran. Es gibt für alles eine passende Zeit, und die der neuen KI war noch nicht gekommen. Die Augen der Trophäe blieben dunkel.

Adasger kam und ging. Er hatte andere Verpflichtungen und war daher nicht die ganze Zeit anwesend. Eines Abends nach dem Abendessen, als Josh gerade wieder auf seinem Lieblingssessel vor dem Kamin saß und las, kam er zurück und fragte, ob sie die KI nun aktivieren wollten.

„Wo ist Renko?”, fragte er.

Josh stutzte.

„Gute Frage. Er ist heute morgen mit Borowski in den Wald gegangen. Eigentlich sollte er längst wieder da sein. Warte kurz, ich hole ihn.”

Josh schloss die Augen und nickte einmal. Das war seine übliche Geste zum räumlichen Wechsel über größere Distanzen oder zu bestimmten Personen. Sie wäre nicht nötig gewesen, aber es half ihm, sich zu konzentrieren. Nichts passierte. Als er die Augen öffnete, saß er nach wie vor auf dem Sessel.

„Nanu? Was ist das denn?”

Er probierte es noch einmal, aber wieder passierte rein gar nichts.

„Hier stimmt was nicht. Der einzige Ort, an den ich Renko nicht folgen kann, ist seine Flammenhöhle, aber wenn er da hingeht, lässt er es mich vorher wissen.” Besorgt sah Josh Adasger an. „Ich gehe ihn suchen. Wartest du hier?”

„Ja, mache ich. Ich habe nichts Dringendes vor.”

Josh schnippste mit den Fingern und in der Wand der Wildsau erschien der Torbogen, der in den lichten Wald führte. Ohne sich noch einmal umzudrehen ging er in den Wald und der Torbogen verschwand wieder. Er lauschte, konnte aber außer den üblichen Waldgeräuschen nichts hören. Als er sich umsah, konnte er vage Anzeichen entdecken, die Spuren von Renko hätten sein können, aber sie waren sehr undeutlich. Josh war nicht geübt im Spurenlesen und daher nicht sicher, ob er sich das nicht nur einbildete, aber weil er keine anderen Anhaltspunkte hatte, folgte er ihnen, so gut er konnte. Er verlor die Spur, suchte und fand sie wieder, nur um sie dann wieder zu verlieren und rief dabei immer mal wieder abwechselnd nach Renko und Borowski.

Er wusste nicht, wie lange er schon durch den Wald irrte, es fühlte sich nach einer halben Ewigkeit an. Schließlich glaubte er, Borowski bellen zu hören. Josh ging in die Richtung, aus der er meinte das Bellen gehört zu haben, und tatsächlich, nach einer Weile war Borowski unverkennbar zu hören. Er kläffte und winselte abwechselnd, und Josh fing an zu laufen.
 
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Er fand die beiden mitten auf einer Lichtung. Renko stand mit glasigem Blick einfach nur da und Borowski sprang aufgeregt bellend um ihn herum, ohne dass Renko darauf reagierte. Es war ein sehr beunruhigender Anblick. Behutsam berührte Josh Renkos Arm, keine Reaktion. Er schüttelte ihn, zuerst vorsichtig, dann stärker, schließlich gab er Renko sogar eine Ohrfeige, aber auch das blieb ohne Reaktion. Josh war ratlos und zutiefst verwirrt. Er versuchte Borowski zu beruhigen, aber vergeblich, weil er selbst völlig aufgelöst war, also schnappte er sich den zappelnden, bellenden Hund, nahm Renkos Hand und wechselte mit den beiden zurück in die Wildsau.

Adasger setzte sich auf und rieb sich die Augen. Er war auf dem Sofa eingeschlafen, denn Josh war stundenlang weg gewesen. Entgeistert sah er, in was für einem Zustand Renko war. Er nahm Josh Borowski ab, der sich winselnd an ihn kuschelte.

„Ich nehme an, dass du so etwas auch noch nie gesehen hast?”, fragte er Josh nach einer Weile und Josh schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe keine Ahnung, was mit ihm passiert sein könnte. Ich habe ihn so gefunden, wie er jetzt ist, er reagiert auf gar nichts”, antwortete er.

Gemeinsam brachten sie Renko dazu, sich auf das Sofa zu legen. Er war wie eine Gliederpuppe. Borowski sprang auf Renkos Brust und leckte ihm winselnd das Gesicht ab. „Meinst du, wir sollten Borowski davon abhalten?”, fragte Josh. „Nein, ich denke, er braucht das und Renko wird es vielleicht ebenfalls gut tun, auch wenn er es bewusst nicht bemerkt.”

„Ok. Meine Fresse, was zum Henker … ” Josh starrte Renko an und fühlte sich so hilflos wie nie. „Was, um alles auf der Welt, ist das? Was können wir dagegen tun? Ich bin völlig aufgeschmissen.”

„Ich bin genauso ratlos wie du, fürchte ich. Nun, er ist ja ein Dämon und Dämonen sind recht unverwüstlich. Sicher, es ist ausgesprochen beunruhigend, ihn so zu sehen, aber ich glaube, wir können erst einmal gar nichts tun. Er lebt, er ist jetzt hier und wir können uns um ihn kümmern. Das ist schon mal ein Anfang. Vielleicht wird es nach und nach von alleine wieder besser? Wer weiß. Es ist mitten in der Nacht. Morgen werde ich die anderen kontaktieren. Gut möglich, dass jemand eine Idee hat.”

„Ja. Du hast recht. Ok”, seufzte Josh. Nach einer Weile seufzte er nochmal: „Ok”, und setzte sich in den Sessel neben Renko. An Schlaf war nicht zu denken. Er würde einfach hier sitzen und seinen Freund im Auge behalten. Adasger legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. Er kochte Josh und sich selbst einen Tee, setzte sich schweigend zu ihm und war einfach da. Später zog er sich in einen Raum zurück und ließ die beiden mit Borowski allein, der sich inzwischen einigermaßen beruhigt und auf Renkos Brust zusammengerollt eingekuschelt hatte.

Am nächsten Morgen war Renkos Zustand unverändert. Er starrt nach wie vor glasig vor sich hin und reagierte auf nichts. Tage vergingen, und auch die höheren Mächte waren ratlos. Das war ungewöhnlich und eigentlich unmöglich, denn die wissen buchstäblich alles, was es im Universum zu wissen gibt, aber diese Information entzog sich ihnen hartnäckig – wie etwas, das einem auf der Zunge liegt, aber doch partout nicht einfallen will.

Im Laufe der Zeit kam es immer mal wieder vor, dass Renko die Augen schloss und zu schlafen schien, was ebenfalls ungewöhnlich war, denn Dämonen schlafen nicht. Wozu auch? Ohne Unterbewusstsein ist Schlaf überflüssig.

In der Hoffnung, Josh ein wenig abzulenken und ihm eine Aufgabe zu geben, hatte Adasger die Wildsau–KI aktiviert, aber es machte keinen Unterschied. Dennoch erwies es sich nach ein paar Tagen als eine gute Idee, denn Adasger hatte die Wildsau–KI gebeten zu recherchieren, eigentlich nur um sie zu beschäftigen, aber wider Erwarten war sie auf etwas gestoßen, das zumindest eine vage Möglichkeit sein könnte.


Die Wahrheit über Blitze I


Fakt ist: alle Blitze sind im Grunde ein einziger Blitz, denn sie sind Teil eines gigantischen Phänomens: sie sind buchstäblich zum Platzen gebrachte, aufgestaute, brodelnde, konzentrierte Energie. Die Vorstellung, sie seien miteinander verbunden, trifft es nicht ganz. Sie sind nicht wie Straßen, über die etwas von A nach B gelangt, sondern gehören zu einem einzigen Ding, und alles in diesem Ding ist überall gleichzeitig.

Dementsprechend sind Blitze nicht einfach nur, wie weitläufig angenommen wird, die sichtbare Entladung elektrischer Energie, nein, denn die Energie, die sich durch sie entlädt, ist mitnichten nur elektrisch, und sie fließt auch nicht nur in eine Richtung, ganz im Gegenteil. Sie beinhaltet Potenzial. Blitze sind gleichzeitig Explosionen und Implosionen, sie entladen sich und assimilieren, mit anderen Worten: wenn ein Blitz als Teil dieses Ganzen irgendwo einschlägt, findet ein Austausch statt, es ist ein Geben und Nehmen, zugleich Anfang und Ende.
 
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