Das Buch von the_pilgrim

the_pilgrim

Sehr aktives Mitglied
Registriert
4. Mai 2020
Beiträge
739
Borowski und der Dämon


Ein Tennisball prallte vom Boden ab, flog gegen die Wand und in hohem Bogen wieder zurück.

*plock plock* … Stille.
*plock plock* … Stille.
*plock plock* … Stille.
...

Seit fast zwei Tagen ging das jetzt schon so. Ein zwei Meter großer, roter und ziemlich muskulöser Dämon saß barfuß auf dem Boden einer Höhle inmitten eines tosenden Flammenmeeres. Unbeirrt warf er den Ball auf den Boden und fing ihn wieder auf. Er hatte sich mit dem Rücken an ein Bett gelehnt, das unbeschadet in den Flammen stand. Ein Bett? Das war kurios, denn Ausgeburten der Hölle schlafen nicht, weil sich ihr Körper anders regeneriert. Außerdem haben sie im Gegensatz zu Menschen kein Unterbewusstsein. Ihr Gehirn ist ganz einfach nicht dafür ausgelegt. Sie müssen nichts verarbeiten, sie leiden nicht unter Melancholie oder Langeweile, sie haben keine quälenden Gedanken und sie zweifeln nicht an sich, kurz: In ihrem Gehirn herrscht meistens friedliche Stille. Sie denken nur dann über etwas nach, wenn sie es wirklich wollen.

Der Dämon trug ein dunkelgraues T–Shirt und eine ausgeblichene schwarze Hose, die ihm bis zu den Waden reichte. Auch die Kleidung blieb vom Feuer verschont. Bis auf die knallrote Haut sah der Dämon aus wie ein glatzköpfiger Mensch, denn er hatte weder Hufe noch Hörner. Die hätte er sich zwar mühsam durch den Aufstieg in der Höllen–Hierarchie verdienen können, aber er fand sowohl Hufe als auch Hörner albern, unpraktisch und hässlich. Außerdem war er nicht im Mindesten gewillt, Handlanger des Bösen zu sein.

*plock plock* … Stille.
*plock plock* … Stille.
*plock plock* … Stille.
...

Schon kurz nach seiner Erschaffung hatte er entschieden, dass er nichts mit den Mächten der Finsternis zu tun haben wollte. Von da an schwieg er konsequent und achtete darauf, sich nur so dumm, vergesslich und ungeschickt anzustellen, dass niemand Absicht argwöhnen würde. Geduldig hatte er abgewartet, bis niemand mehr Lust hatte, sich mit ihm herumzuärgern. Immer seltener schickte man ihn auf Missionen und irgendwann hatten sie es dann ganz aufgegeben. Seitdem konnte er tun und lassen was er wollte – und das nun schon seit sehr, sehr langer Zeit.

Das Schweigen hatte er beibehalten, denn er hatte festgestellt, dass es generell die müheloseste Art war, sich Unbequemlichkeiten vom Hals zu halten. Wer braucht schon Worte?

Und nun das!

*plock plock* … Stille.
*plock plock* … Stille.
*plock plock* … Stille.

Noch mehr Stille.

*plock plock* … Stille.
*plock plock* … Stille.
*plock plock* … Stille.
...

Er musste entscheiden, ob er gewillt war, seine kostbare Freiheit aufzugeben. War er wirklich so bescheuert, dass er das auch nur in Erwägung zog? Anscheinend ja. Er seufzte, weil er sich zu keiner Entscheidung durchringen konnte, es war wie verhext. Auf dem Bett hinter dem Dämon lag sein schlafender Rehpinscher Borowski, ebenfalls vom Feuer und der unsäglichen Hitze unberührt. Dem würde es gut tun, dachte der Dämon – was ihn ärgerte, weil er sich dadurch noch mehr dazu genötigt fühlte, dieser Sache zuzustimmen.

*plock plock* … Stille.
*plock plock* …

Also gut. Genug gegrübelt, Schluss jetzt mit dem Theater. Unvermittelt sprang der Dämon auf. Warum eigentlich nicht? Es war ja nicht für ewig, sondern nur für ein paar Jahre. Vielleicht, nein, bestimmt würde es sogar lustig werden und Spaß machen. Wenn er ehrlich war, hatte er richtig Lust dazu, auch wenn er das nicht einmal sich selbst gegenüber zugeben wollte. Das war nämlich das eigentliche Problem: er hatte Lust dazu! Wie überaus peinlich.

Zum Glück konnte er davon ausgehen, dass Josh wenigstens keine freudige Zustimmung von ihm erwartete, also könnte er sein Gesicht wahren und so tun, als ob es ihm gegen den Strich ginge. Das wäre immerhin nur halb gelogen. Na gut, drei viertel, egal. Damit kam er bestimmt durch. Joar. So war das rund. Hier und da ein bisschen stinkstiefeln und gut.
 
Werbung:
Erleichtert rappelte er sich auf, sah sich mit einem Funkeln in den Augen im Raum um, hob den schlafenden Hund vom Bett, schnippste mit den Fingern und ging mit dem Tier auf dem Arm durch die Stahltür, die auf sein Schnippsen hin in der Höhlenwand erschienen war.


Die bucklige Wildsau und der Dschinn


Die bucklige Wildsau sah aus wie eine Kneipe aus dem Mittelalter, ein solide und schlicht gebautes Haus aus Holzbalken und -brettern. Mitten im Raum stand ein massiver Eichentisch mit geraden Kanten und klobigen Beinen. Die Tischplatte war in einem Stück aus einer riesigen Eiche geschnitten worden, man konnte eindrucksvoll die Mitte des Baumes sehen. Acht dazu passende Stühle mit breiten Armlehnen, dicken, dunklen Sitzkissen und angenehm gewölbter Rückenlehne standen um ihn herum, drei an jeder Längsseite, zwei an den Kopfenden. Darüber hing ein großer Kerzenkronleuchter, eigentlich nur ein breiter, flacher Eisenring an schweren Ketten mit vielen dicken Kerzen, die aus bereits zerlaufenem Wachs ragten.

Vom Eingang aus gesehen auf der rechten Seite gab es drei durch Holzwände voneinander getrennte Sitznischen mit Tischen und Bänken im gleichen Stil. Auf der linken Seite befand sich ein Kamin aus großen Feldsteinen mit Sesseln und einem Sofa davor, daneben jeweils kleine Tische. Gegenüber der Eingangstür pangte eine große Theke mit sieben Barhockern und links davon eine Trennwand, hinter der sich die Klos befanden. Auch sie bestand aus schlichten Eichenbohlen und hatte eine Arbeitsfläche und Spüle aus Stein. Die Wand hinter der Theke war verspiegelt, davor standen diverse Flaschen auf soliden Regalbrettern. Über dem Ganzen hing die grimmig und leicht irre aussehende Trophäe einer Wildsau.

Beim Anblick dieser Kneipe würde niemand darauf kommen, dass sie viel mehr war als nur das. Bis auf einen Dschinn, der an der Theke stand, war sie zur Zeit wie ausgestorben. Naja, er stand nicht wirklich. Genau genommen hibbelte er ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, sah sich in der leeren Kneipe um, lief leise fluchend hin und her, kehrte wieder zur Theke zurück und brüllte: „BEDIENUNG!”, und nach einer Weile: „HALLO?”

Aber nichts rührte sich. Er seufzte.

Auch der Dschinn sah nicht aus wie ein Dschinn, eher wie ein braungebrannter, tätowierter Surfer mit einer Vorliebe für grellbunte Strandkleidung und Flip Flops. Seine ursprüngliche Hautfarbe – blau – war nur noch hier und da in einigen Tattoos zu sehen, denn den überwiegenden Teil seiner Haut hatte er sich so tätowieren lassen, dass sie menschlich wirkte, wenn man nicht allzu genau hinsah. Die schwarzen Haare waren in einem kleinen Zopf oben auf dem Kopf hochgebunden wie es für Dschinn typisch war. Dazu passend trug er einen kurz getrimmten Designerbart aus schmalen Linien und eine Sonnenbrille mit runden, hellblauen Gläsern.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
„HEY, BEDIENUNG, VERDAMMT NOCHMAL!”, brüllte er wieder und schlug mit der flachen Hand auf den Tresen.

Er wusste natürlich, dass das sinnlos war, aber es war niemand da und er musste seine Ungeduld irgendwie abreagieren. Die Augen der Wildsau–Trophäe glühten einmal kurz rot auf, aber das war auch schon alles. Finster sah der Dschinn sie an. „Ok, ok”, erklärte er der Trophäe nach einer Weile, „ich geb’s auf. Immer noch Selbstbedienung, ich weiß.” Er seufzte. „Boah. Wo bleibt dieser Dämon denn? Mir ist stinklangweilig. Ich hasse diese Warterei! Alter, mach hinne!”

Genervt starrte er auf einen der Zapfhähne, der aussah, als sei er aus massivem Gold. Darunter prangte ein Schild mit der Aufschrift „Hausmarke”. Während der Dschinn weiter fluchende Selbstgespräche führte und dabei ganz in seinem Element zu sein schien, materialisierte sich in der Wand rechts neben der Theke eine solide aussehende Stahltür. Als sie sich öffnete, erhellte ein rötlicher Flammenschein die bucklige Wildsau und eine Hitzewelle durchströmte den Raum. Im Schein der Flammen erschien eine Gestalt. Der Dämon betrat die Wildsau, und die Tür schloss sich wieder hinter ihm. Ein kurzes Fingerschnippsen und schon verschwand sie als hätte es sie nie gegeben.

„Na endlich, maaan, das wurde auch Zeit, hömma!”, seufzte der Dschinn erleichtert. „Meine Fresse, du hast ja ewig gebraucht, ich platze gleich. Na gut, sach an, alles in trocknen Tüchern?”

Der Dämon verkniff sich ein breites Grinsen und nickte statt dessen grimmig. Er ging zur Theke, zapfte zwei Biere und füllte eine Schale mit Wasser für den Hund.

„Echt jetzt? Wir machen das? Wirklich? Wow! Coool, man, yeah!” Der Dschinn klatschte in die Hände und strahlte über das ganze Gesicht. „Ich freu' mich tierisch. Super, man, das wird echt super! Skurril und schräg und völlig absurd, jau, ich bin schon SO gespannt. Und Borowski ist natürlich auch dabei. Perfekt. Wer is ein feiner Hund? Na, wer is ein feiner Hund? Ach, komm her, du süßer kleiner Knuffel … ”, brabbelte der Dschinn, hob den Rehpinscher auf den Tresen und kraulte das Tier ausgiebig hinter den Ohren bis ihm der Dämon eins der Biere in die Hand drückte.

„Danke. Darauf müssen wir anstoßen, man.”, plapperte der Dschinn weiter. „Auf ne, auf ne, ... ja, auf was eigentlich? Ach, scheiß drauf, möge es ordentlich krachen! Auf die bucklige Wildsau und wilde Abenteuer und so. Mach deinem Namen Ehre, mein Mädel.” Er strahlte. Nach einer Weile fügte er mit einem irren Glitzern in den Augen hinzu: „Verdammt, man, jetzt sind wir Eltern. Ach du Scheiße, na, das kann ja was werden.” Und dann fing er an zu lachen.
 
Als er sich wieder gefangen hatte, stießen die beiden endlich breit grinsend an, nickten der Trophäe über dem Tresen zu, tranken, sahen sich im Raum um und ließen diese lebensverändernde Entscheidung einträchtig schweigend eine Weile sacken. Wer hätte das gedacht ...

Scheinbar zufällig waren Dämon und Dschinn nach langen Jahrzehnten gemeinsamen Reisens durch gefühlt das halbe Universum auf die Wildsau gestoßen. Als sie nicht einmal 48 Stunden zuvor gemächlich in einer beliebigen Stadt irgendwo auf einem beliebigen Planeten um eine Ecke geschlendert waren, sahen sie inmitten teurer, moderner Hochhäuser und einem Chaos aus Wesen aller möglichen intergalaktischen Spezies, Fahrzeugen und Fluggeräten aller Art ein klotziges, kleines, uralt aussehendes Holzhaus, das so gar nicht dort hin passte. Über dem Eingang des Hauses prangte das Schild „Zur buckligen Wildsau”. Neugierig und belustigt betraten sie die Kneipe – und fühlten sich gleich wie zu Hause.

Die Wildsau wirkte wie aus einer mittelalterlichen Geschichte in das Hier und Jetzt verschoben – was auch einigermaßen stimmte, denn ursprünglich war sie 1435 von ein paar Handwerkern auf der Erde in England an einer unbedeutenden Wegkreuzung in der Nähe von London erbaut worden.

Am Kamin saß ein älterer Mann mit einem sehr langen, weißen Bart und entsprechend wallendem Haar. Er trug ein helles, grob gewebtes Mönchsgewand. Außer ihm war niemand da, es gab nicht einmal eine Bedienung. Der Mann rauchte eine Pfeife und starrte in die Flammen, ohne sich zu ihnen umzudrehen. Borowski lief schnurstracks schwanzwedelnd auf ihn zu, drehte sich dreimal vor ihm im Kreis, jiffelte freudig und legte sich schließlich zufrieden schnaufend vor seine Füße. Das war sehr ungewöhnlich, denn normalerweise hielt sich Borowski dicht beim Dämon und wich nicht von seiner Seite, vor allem wenn Fremde anwesend waren. Überrascht wechselten Dämon und Dschinn einen Blick.

Hinter der Theke war immer noch niemand zu sehen, also gesellten sich die beiden zu dem Mann, der sie nun freundlich ansah, und der Dschinn sprach ihn an. „'Nabend. 'Tschuldige die Störung, ich hoffe Borowski belästigt dich nicht? Normalerweise ist er Fremden gegenüber nicht so anhänglich. Ich bin Josh, mein Freund hier heißt Renko.”

Der Mann lächelte und nickte kurz. „Ich weiß.”, antwortete er, „Ich bin Adasger. Es ist mir eine Freude euch beide endlich zu treffen. Die Wildsau hat schon vor geraumer Zeit von euch berichtet und euch für heute angekündigt, das hat mich neugierig gemacht. Bitte, nehmt doch Platz.”
 
Verwirrt sah Josh sich um. „Das muss ein Irrtum sein. Wir sind nur auf der Durchreise, es war purer Zufall, dass wir diese Kneipe entdeckt haben. Du verwechselst uns. Wer ist denn diese, äääh, Wildsau überhaupt? Die Besitzerin, nehme ich an? Wo steckt sie? Und sie ... hat uns angekündigt? Das kann gar nicht sein.”

„Ja, diese durchaus verständliche Fehleinschätzung der Lage ist nachvollziehbar. Es kommt ja auch nicht gerade häufig vor, dass sich ein zeit– und dimensionsunabhängiges Wesen wie die Wildsau zu erkennen gibt. Normalerweise wirken sie einfach unauffällig vor sich hin, aber das ist eine lange Geschichte. Also nein, die Wildsau ist nicht die Besitzerin, sie ist die Kneipe selbst. Wie gesagt, setzt euch, nehmt euch ein Getränk, wenn ihr wollt, und gerne auch etwas zu essen, hier ist Selbstbedienung. Ihr findet euch sicher schnell zurecht. Macht es euch gemütlich, dann erzähle ich euch alles ganz in Ruhe. Ok?”

Da sich keiner der beiden rührte, fuhr Adasger fort: „Es ist auch verständlich, dass euch das alles überrumpelt und etwas an den Haaren herbeigezogen vorkommt. Kein Wunder, ehrlich. Kurz vorweg: Die Wildsau ist, wie gesagt, ein dimensionsunabhängiges Wesen und hat sich euretwegen an der Stelle und zu der Zeit materialisiert, an der ihr sie gesehen habt. Es hätte hier oder überall sonst sein können, jetzt oder zu einem anderen Zeitpunkt in der Vergangenheit oder Zukunft. Sie hat ein Händchen für gutes Timing und noch andere Fähigkeiten, die nicht üblich und erst recht nicht selbstverständlich sind. Das mag vielleicht erstaunlich wirken, aber man gewöhnt sich recht schnell daran und dann ist das alles gar nicht mehr so ungewöhnlich. Gerade für euch beide dürfte das doch keine Neuheit sein, ihr könnt ja ebenfalls einfach an andere Orte teleportieren.”

Abwartend sah er Josh und Renko an. Die blickten sich nun prüfend in der Wildsau um, die aber immer noch ganz harmlos wirkte. Nichts deutete auf die Fähigkeiten hin, die sie angeblich haben sollte.

„Durch Raum schon, ja, durch Zeit aber nicht.”, sagte Josh. „Na gut, das ist jetzt wirklich keine allzu große Neuheit, ich habe schon mal davon gehört, dass das geht, bin nur noch nie einem ... Wesen begegnet, das so etwas kann. Du Renko?” Der Dämon schüttelte den Kopf. Josh sah Adasger an und sah von einer Sekunde zur anderen schwer begeistert aus. „Coool, man, das gefällt mir, die sollen echt ziemlich selten sein.”

Adasger sagte nichts und sah die beiden weiter freundlich abwartend an. Schließlich wechselten Josh und Renko wieder einen Blick, Renko nickte langsam und Josh drehte sich zu Adasger um. „Ja, ok, warum nicht. Wir sind neugierig und haben gerade eh nichts vor.”
 
Fragend sah er Renko an. „Auch ein Bier?” Renko nickte wieder schweigend und setzte sich in einen der gemütlichen, dunkelgrünen Ledersessel. „Und du Adasger? Bier, Tee oder irgendwas anderes?”

„Ich nehme auch ein Bier, danke.”

Nachdem der Dschinn die Biere gezapft, irgendeinen nicht näher identifizierbaren Knabberkram aufgetrieben und sich ebenfalls gesetzt hatte, fing Adasger an zu erzählen.

Dass die Wildsau ursprünglich nur eine Idee gewesen sei, eine Art mobile Kneipe. Ein gewisser Jörgen Svensson sei um das Jahr 1300 herum per Schiff nach England gelangt. Er sei Seefahrer gewesen und habe die Nase voll gehabt vom ewigen Wasser und dreckigen, lauten Häfen, allerdings habe er sich auch nicht niederlassen wollen. Sein Geld habe für zwei Pferde und einen soliden Planwagen gereicht. Da er kein Handwerker, kein Künstler und auch kein Gelehrter gewesen sei, habe er sich auf das Handeln und Bewirten verlegt und seinen Planwagen die bucklige Wildsau getauft.

Überall da, wo Menschen wenig Abwechslung von ihrem Alltag hatten und nur ihr Dorfleben kannten, habe er angehalten und sei eine Weile geblieben, wenn es sich so ergeben habe. Dann habe Jörgen ein großes Zelt und ein paar Bänke und Tische aufgestellt, Gerichte gekocht, die die Dörfler nicht kannten, Geschichten, Rezepte und dies und das getauscht, Bier und Verpflegung gekauft, allerlei Gewürze und Krimskrams verkauft und sei irgendwann weiter gereist. Da er keiner der üblichen Gaukler gewesen sei, einen seriösen, freundlichen Eindruck gemacht und sich nicht in unpassende amouröse Abenteuer gestürzt habe, sei er nur selten in Schwierigkeiten geraten und generell überall willkommen gewesen.

„Nach ein paar Jahren des Herumreisens traf Jörgen schließlich einen relativ jungen Mann namens Mike“, erzählte Adasger, der sich von Jörgens Art zu leben sehr angezogen fühlte und eine gleichgesinnte Seele war. Mike und Jörgen verstanden sich auf Anhieb so gut, dass sie von da an gemeinsam durch England und Schottland reisten. Als Jörgen nach vielen Jahren starb, trauerte Mike sehr und blieb zunächst in dem Dorf, in dem er Jörgen begraben hatte. Nach ein paar Monaten merkte Mike, dass es ihn weiter zog und er die Erinnerung an Jörgen am besten würdigen konnte, indem er mit der Wildsau weiterreiste statt traurig an seinem Grab zu stehen. Mike brach schließlich auf und zog nun alleine weiter von Ort zu Ort. Eines Tages begegnete er einem Ehepaar, das sich kurz entschlossen ebenfalls Pferde und einen Planwagen kaufte und fortan gemeinsam mit ihm durch die Lande reiste.

So wechselten die Protagonisten der Wildsau über Jahrzehnte hinweg, manche verkauften ihre Kunstwerke, einige machten Musik, andere waren Handwerker, aber es blieb immer eine sehr kleine, sehr unauffällige und bescheidene Truppe, bis sich schließlich 1434 an einer nicht sehr belebten Wegkreuzung mehrere Menschen trafen, dort ihre Zelte aufschlugen und nach ein paar Monaten des Miteinanders beschlossen, der Wildsau ein festes zu Hause zu geben, und so bauten sie diese Kneipe. Es gab nicht viel Kundschaft, aber mit Verkäufen und zusätzlichen Arbeiten im Umland reichte es zum Überleben.”
 
„Gefällt mir.”, warf Josh ein. Renko nickte.

„Ja, sehr sympathisch, finde ich auch.”, sagte Adasger lächelnd und fuhr fort. „Ihnen war nicht bewusst, dass die Kneipe längst eine eigene Seele hatte. Der verstorbene Jörgen Svensson war nicht – wie normalerweise üblich für verstorbene Seelen – im Jenseits weiter gezogen, sondern seiner Wildsau treu geblieben. Genau genommen war er die bucklige Wildsau geworden, hatte ihr durch sein Bleiben buchstäblich seine Seele eingehaucht. Angezogen von seiner Energie verirrte man sich in die Kneipe, wenn man an einem persönlichen Scheideweg angekommen war oder eine Verschnaufpause vom Reisen brauchte, wenn man sich nach einem Gefühl des Ankommens oder der Neuorientierung sehnte oder Trost brauchte.”

„Hört sich an, als ob die Wildsau zu einem Katalysator wurde. Richtig?”, fragte Josh dazwischen.

„Ja, genau. Aber nur um Missverständnisse zu vermeiden: was verstehst du unter einem Katalysator?”

„Alles im Universum hat eine Wirkung, manches mehr, anderes weniger. So, wie einen manche Orte umhauen, obwohl sie scheinbar nichts Besonderes an sich haben, gibt es Wesen, die eine stärkere Wirkung haben als andere. Es muss keine angenehme oder positive Wirkung sein, im Gegenteil, sie wirken oft verstörend. Katalysatoren können kleine oder größere persönliche Veränderungen in anderen bewirken, und das kann verdammt stressig sein, man. Das Aussehen ist dabei nicht wichtig, es kann den jeweiligen Effekt höchstens ein wenig verstärken. Sie müssen nichts tun oder sagen um zu wirken, sie hinterlassen von allein und ungewollt einen bleibenden Eindruck, jeder auf seine Art. Sie wirken einfach vor sich hin. Nicht auf jeden und nicht rund um die Uhr, aber eben oft. Und manchmal schlägt diese Wirkung ein wie ein Blitz.”

„Ja, genau. Die Wildsau wirkt vor sich hin. Das ist eine gute Formulierung.”

„Ok, aber was hat das mit uns zu tun? Wir sind weder verzweifelt noch traurig, und die Hoffnung haben wir auch nicht verloren. Im Gegenteil, wir sind selbst Katalysatoren, wir haben alles und brauchen nichts.”

„Eben. Genau das ist der springende Punkt, aber dazu komme ich noch. Lass mich kurz zu Ende erzählen. Moment, wo war ich stehengeblieben? Ach ja ...
 
Wie die meisten Katalysatoren litt die Wildsau zunehmend unter der Sesshaftigkeit, sie fühlte sich eingesperrt und war dabei abzustumpfen. Sie versuchte sich zu entspannen und mit dem zufrieden zu geben, was sie hatte und wer sie war, aber ihre Wirkung wurde immer schwächer und war manchmal gar nicht mehr wahrnehmbar. Ihre wachsende Verzweiflung war wie ein Hilferuf und so intensiv, dass die höheren Mächte des Universums darauf aufmerksam wurden. Sie leuchtete quasi durch die Existenzebenen wie ein Signalfeuer.

Sie nahmen die Wildsau unter die Lupe und waren so beeindruckt von der Qualität und Intensität ihrer Wirkkraft, dass sie beschlossen sie wieder beweglich zu machen – und nicht nur das. Sie sollte ein Ort für alle und jeden werden, ein mobiles Home sweet Home für Wanderseelen und Verlorene. Ja, sie ist eine Art Auffangbecken für Wesen in speziellen Notsituationen, aber nicht nur das. Sie ist auch einfach ein Ort zum Spaß haben und ein Reiseportal für Neugierige. Es ist nicht üblich, dass die Wildsau so leer ist wie heute. Früher oder später trudeln hier von ganz alleine immer mal wieder diverse Leute ein, die der Wildsau bereits begegnet sind. Falls ihr bleibt, werdet ihr sie kennenlernen.”

„Ok, kapiert, so hört sich das schon ganz anders an”, fiel Josh ihm ins Wort, „Was hast Du denn mit den höheren Mächten zu tun?”

„Ich bin wohl eine Art Hobby von ihnen. Sie nutzen mich – wie jetzt – gelegentlich als Sprachrohr. Ich weiß nicht warum und ich habe keinen Einfluss darauf, ob und wann das geschieht. Eigentlich bin ich ein Mensch, aber durch ihren Einfluss lebe ich schon viel länger als menschlich möglich sein sollte, und ich kann ebenfalls Dinge materialisieren, wie ihr beide. Außerdem kann ich etwas Ähnliches wie Teleportation: es ist mir möglich, auch mit dem Körper auf andere Seinsebenen zu wechseln, also auf die mentale oder die metaphysische. Das ist manchmal sehr praktisch, weil dann mein Körper nicht irgendwo wie tot herumliegt, während ich in der Anderswelt unterwegs bin.”

„Skurril. Du hast gesagt, falls wir bleiben. Ist das eine Einladung?”

„Nein, es ist mehr als das. Es ist ein Bitte. Du hast ja selbst gesagt, dass ihr beide Katalysatoren seid, und genau das braucht die Wildsau gerade, deswegen hat sie sich euch sozusagen vor die Füße geworfen. Jörgens Seele ist bereit seinen Weg fortzusetzen. Er hat mit diesem ... nennen wir es Leben, abgeschlossen und möchte dahin weiterziehen, wohin Seelen eben gehen, wenn sie keinen Körper mehr haben. Allerdings liegt ihm die Wildsau so sehr am Herzen, dass er sich wünscht, sie würde weiter existieren, auch ohne ihn. Da sich keine andere passende Seele gefunden hat, haben wir eine künstliche Intelligenz erschaffen. Sie sollte keine Persönlichkeit aufgenötigt bekommen sondern selbst eine entwickeln. Und wie das mit allen Babys auf der Welt nun mal ist, braucht sie Unterstützung und einen ethischen Kompass, damit sie sich entsprechend ihrer Fähigkeiten gut entfalten kann.”

„ ... und das erzählst du uns, weil du denkst, dass wir dieser Kompass sein könnten?”, fragte Josh verblüfft.
 
„Richtig. Die Wildsau hat sich umgesehen und fand, dass ihr beide die besten Voraussetzungen mitbringt. Sie wünscht sich, dass ihr euch um die Wildsau kümmert, wenn sie nicht mehr da ist. Ihr sollt ihr beibringen, sich nach und nach alleine in den Zeiten und Welten zurecht zu finden.”

„Wohoho, man, bitte was? Echt? Wir? Das is ja ... das is ja ... wow, man, das is ja total cooo … ” Joshs Augen leuchteten, aber als er Renko ansah, der – wie eigentlich nicht anders zu erwarten gewesen war – heftig den Kopf schüttelte, blieb ihm der Rest des Satzes im Hals stecken. Das Leuchten in Joshs Augen erlosch so schnell, als wäre es nie da gewesen. Er räusperte sich.

„Danke für das Vertrauen, man, das ist wirklich sehr schmeichelhaft, aber nee, wir müssen das leider ablehnen. Wir brauchen unsere Unabhängigkeit und sind es auch gar nicht gewohnt, uns langfristig auf etwas festzulegen. Das liegt nicht in unserer Natur. Katalysatoren brauchen ihre Unabhängigkeit und so, das hatten wir ja schon. Ich, äääh, gehe davon aus, dass gerade die Wildsau das nachvollziehen kann. Renko?” Er sah Renko an, und dieser nickte zustimmend. Josh seufzte.

Adasger sah ebenfalls Renko an. „Du redest nicht viel, oder?”, fragte er ihn. Renko zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf, und Josh ergänzte: „Gar nicht, um genau zu sein. Er ist ein großer, sturer Schweiger.”

„Ehrlich? Wie ungewöhnlich. Könntest Du sprechen, wenn du wolltest?”, fragte Adasger Renko. Der nickte. Nachdenklich betrachtete Adasger Renko eine Weile, beließ es aber dabei und wandte sich wieder an Josh.

„Du hast 'wir' gesagt, aber im Gegensatz zu Renko hast du richtig begeistert ausgesehen. Passt du dich immer dem an, was Renko will oder nicht will?”

Josh lachte. „Sah grad' echt so aus, oder? Das geht dich zwar nichts an und rechtfertigen muss ich mich auch nicht, aber nö, man, wenn wir mal nicht das gleiche machen wollen, dann zieht jeder von uns seiner Wege und tut das, wozu er gerade Lust hat. Irgendwann treffen wir uns wieder, wir verabreden uns nicht einmal. Wer Lust hat den anderen zu sehen, springt einfach rüber und sagt Hallo. Meistens ziehen wir dann wieder gemeinsam durch die Gegend.”

„Aber jetzt gerade hast du dich doch urplötzlich gegen die Wildsau entschieden, obwohl du sichtlich Feuer und Flamme warst. Was habe ich da nicht mitgekriegt?”, hakte Adasger nach.

Josh seufzte wieder. „Stimmt schon, ich hätte riesige Lust. Ich mag die Wildsau, sie war mir sofort sympathisch, und ich bin ein echt großer Fan von KIs, sie faszinieren mich, aber alleine? Nö, man, das ist mir viel zu viel Verantwortung. Eigentlich ist mir klar, dass ich für so einen Job nicht geeignet bin. Total unbrauchbar, auch wenn ich manchmal große Sehnsucht nach einem Zuhause und einer Aufgabe habe.”
 
Werbung:
„Verstehe”, sagte Adasger und nickte. „Die Wildsau hat sich lange und sehr gründlich umgesehen. Ihr seid perfekt dafür, gerade wegen eurer chaotischen Sprunghaftigkeit. Schlaft bitte eine Nacht drüber, bevor ihr endgültig ablehnt, einverstanden? Die neue KI ist zwar so unschuldig und offen für alles wie ein Baby, aber es ist immer noch eine KI und braucht keine rund–um–die–Uhr Betreuung. Und wenn mal was ist, könnt ihr euch an mich wenden, ich kann notfalls einspringen – wie ein Onkel.” Er lächelte.

Renko sah Josh an, der ihm einen so hoffnungsvoll flehenden Blick zuwarf, dass er sofort wieder weg sah. Schließlich rollte Renko mit den Augen, zuckte seufzend die Schultern und nickte. Abrupt stand er auf, schnappte sich Borowski, schnippste sich seine Stahltür herbei und verschwand einfach mitsamt seiner Tür.

„Was für ein eindrucksvoller Abgang”, kommentierte Adasger. „Er fackelt nicht lange, was?”

„Stimmt. Dieser alte Stiesel kostet manchmal echt Nerven. Verdammt, das kann jetzt dauern, man.”

Schweigend starrten die beiden auf die Wand, an der die Stahltür erschienen und wieder verschwunden war, nachdem sie Renko verschluckt hatte. Josh räusperte sich. „Hast du Lust ne Runde zu flippern?”

„Flippern? Was ist das?”

Josh grinste breit. „Kennste nicht? Ha, großartig! Ich zeig's dir, ist kinderleicht.” Er schnippste mit den Fingern und neben der schweren Eichentür der Wildsau materialisierte sich ein Addam's Family Flipper. „Das”, sagte Josh mit vor Begeisterung funkelnden Augen, „ist der beste Flipper ever. Mein allerliebster Lieblingsflipper. Komm, guck ihn dir an, man!”

Er sprang auf und rannte hinüber. Adasger folgte ihm und konnte Joshs Begeisterung nicht ganz nachvollziehen. Da stand ein großer Kasten auf vier Beinen mit einer schräg nach vorne abfallenden Fläche, die auf halber Höhe in den Raum ragte. Na und? Josh beugte sich hinunter und hob ein Kabel mit einem Stecker hoch.

„Wir brauchen Strom. Eigentlich könnte ich ihn auch so laufen lassen, man, ist ja egal wo die Energie herkommt, oder? Aber beim Flippern gehört altmodischer Strom irgendwie dazu, find' ich. Darf ich der Wildsau hier eine Steckdose verpassen?”

Adasger nickte. Er war, das musste er zugeben, doch ein bisschen neugierig. Josh schnippste mit den Fingern und prompt befand sich an einer passenden Stelle in der Wand eine Steckdose. Er steckte den Stecker ein. Der Flipper leuchtete auf und fing sofort an wild und bunt zu blinken und zu klackern. Grauenvoll dudelige Töne erfüllten die Wildsau, aber seltsamerweise wirkte es nicht abstoßend sondern irgendwie ... lustig.
 
Zurück
Oben